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Weißenhof-Gebäude von Mies van der Rohe. (Bild: Wolfram Janzer)

Stadtgruppe Stuttgart des Deutschen Werkbunds Baden-Württemberg (Hrsg.): Die Werkbundsiedlung auf dem Weißenhof – 100 Jahre zeitnah. 78 Seiten, Abbildungen, av edition, Stuttgart, 20 Euro. ISBN 978-3-89986-352-9

Stadtgruppe Stuttgart des Deutschen Werkbunds Baden-Württemberg (Hrsg.): Die Werkbundsiedlung auf dem Weißenhof – 100 Jahre zeitnah. 78 Seiten, Abbildungen, av edition, Stuttgart, 20 Euro.
ISBN 978-3-89986-352-9

Wie wohnt es sich heute in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung? Dieser Frage ist der Deutsche Werkbund Baden-Württemberg in einem neuen, schön bebilderten, schön gestalteten Büchlein nachgegangen. Widerlegt wird ein Mal mehr das Klischee, die Moderne sei gescheitert.


Von den Bewohnern der 1927 als Bauausstellung der Avantgarde aus dem Boden gestampften Mustersiedlung bekommen die Häuser und Wohnungen Bestnoten. Knapp ein  Jahrhundert nach ihrer Entstehung hat die Klassische Moderne sich gerade in Corona-Zeiten auf fast schon unheimliche Weise bewährt. Licht, Luft, Sonne, Hygiene und weiße Wände – das war das obsessiv angestrebte Ideal einer Architektengeneration, der das Trauma der Spanischen Grippe mit fünfzig Millionen Toten noch in den Knochen saß. „Für die moderne Architektur ist die Gesundheit, was die Religion für die gotische Architektur war“, schreibt die (im Buch zitierte) Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina in ihrer 2020 erschienenen Studie „X-Ray Architecture“. Peter Behrens etwa erschien es notwendig, „dass jeder Wohnung auch im Etagenhaus ein größerer Freiplatz unter offenem Himmel beigegeben ist“, um Volkskrankheiten wie der Tuberkulose vorzubeugen. Kein Wunder daher, dass die Häuser alle aussehen wie kleine Lungensanatorien.

Vom Glück, draußen

Dachterrassen, Balkone, Gärten und Außenbereiche wurden von den Weißenhofern während der Lockdown-Monate noch intensiver genutzt als sonst, die Wohnungen als homeoffice-tauglich empfunden. Klagen über Lagerkoller sind nicht bekannt. Als defizitär beurteilen die Bewohner jedoch den öffentlichen Raum. Abstandsgrün musste – wahrscheinlich aus Zeitmangel – bereits im Entstehungsjahr eine planvolle Freiflächen- und Gartengestaltung ersetzen. Auf der Straße hält sich außer Touristen eigentlich niemand auf. Gemeinschaftsgefühl kann so nicht aufkommen, wie sich in der Pandemie ja überhaupt gezeigt hat, dass der moderne Siedlungsbau in dieser Hinsicht mit der alten Stadt, wo den Corona-Helden in den Krankenhäusern von Balkon zu Balkon oder Fenster zu Fenster applaudiert und zusammen Musik gemacht wurde, nicht konkurrieren kann. Mit der Moderne begann auch die gesellschaftliche Vereinzelung.

 

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Doppelseite aus dem besprochenen Buch

„Wie wohnen?“

So lautete die Frage auf dem Werbeplakat, das Willi Baumeister einst zur Bauausstellung des Werkbunds gestaltet hatte. „Wie wohnen – heute?“, lautet die abschließende Frage im Buch. Arno Votteler, der im vergangenen Jahr verstorbene Designprofessor und Mitbegründer des Vereins der Freunde der Weißenhofsiedlung, hat geantwortet: „Generationenübergreifend sollte es sein. Sich nicht auf Möbel konzentrieren, sondern aufs Wohnen, räumlich additiv wie bei Oud. Treffpunkte, Kommunikation, alles unter einem Dach. So wie in einem Schwarzwaldhof, da waren sogar die Tiere mit dabei.“ Architekturrevolutionen sehen heute anders aus 1927, versteht sich. Wie, darüber wird die IBA StadtRegion Stuttgart 2027 zum hundertsten Geburtstag des Weißenhofs Aufschluss geben. Es spricht aber vieles dafür, dass Arno Votteler mit seiner Prognose gar nicht so falsch lag.