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Eine Villa putzen


Formen alltäglichen Umgangs mit Architektur, Teil 1 : Wie gehen Menschen mit Architektur um? Was kann Architektur bedeuten, wie hilft sie uns, die Welt zu deuten? Und welche Rolle spielt dabei die Funktion und der soziale Status dessen, der mit Architektur umgeht? 


Am 9. Februar 2018 fand im Deutschen Architekturmuseum das Symposium „Grau, bunt schwarz-weiß? – Der Alltag der Architektur“ statt – eine Veranstaltung des BDA Hessen und des Deutschen Architekturmuseum DAM. Marlowes präsentiert in den kommenden Wochen ausgewählte Beiträge.



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Guadalupe Acedo – Putzfrau in einem Haus von OMA. (Bild: Ila Bêka & Louise Lemoine)

»Wenn man die zahlreichen Architekturbücher durchblättert, die heutzutage veröffentlicht werden, und all die glänzenden Fotos sieht, die ohne Ausnahme bei schönstem Wetter aufgenommen wurden, fragt man sich, was in den Köpfen der Architekten vor sich geht, wie sie eigentlich die Welt sehen: Manchmal neige ich zu der Annahme, sie üben nicht den gleichen Beruf aus wie ich! Denn wie könnte die Architektur etwas anderes sein als die Beschäftigung mit Situationen des alltäglichen Lebens, wie wir sie alle kennen. […] Denn Architektur, alles Gebaute, spielt unweigerlich eine gewisse Rolle im Leben der Benutzer, und es ist die Hauptaufgabe des Architekten, ob es ihm behagt oder nicht, dafür zu sorgen, dass alles, was er macht, all diesen Situationen Rechnung trägt. […]. Die Frage, ob die Architektur eine soziale Funktion hat, ist irrelevant, denn es gibt keine sozial neutralen Lösungen, jeder Eingriff in die Umgebung der Menschen hat soziale Folgen, unabhängig von den Absichten des Architekten. Wir dürfen also nicht einfach das entwerfen, was uns gefällt, denn alles, was wir tun, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Menschen und ihre sozialen Beziehungen.“  (1)
Aus architektursoziologischer Perspektive ist an dieser Aussage Herman Herzbergers interessant, dass er den Blick auf die Alltagsfunktion von Architektur richtet und das Wechselspiel von Materialität und Sozialität des gebauten Raums betont. Herzberger macht dieses Wechselspiel an Situationen fest – und beschreibt Architektur als Ko-Produzent sozialer Situationen.
Die Fruchtbarkeit einer solchen architektursoziologischen Perspektive soll statt durch theoretische Argumente im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden. Dieses Beispiel führt uns nach Frankreich, genauer an den Rand von Bordeaux, wo Mitte der 1990er Jahre nach den Plänen von Rem Koolhaas das Maison à Bordeaux, eine moderne Privatvilla, entstanden ist. Dort arbeitet Guadalupe Acedo.

Ein ungleiches Paar beim Tanz

Guadalupe Acedo ist wahrscheinlich die berühmteste Putzfrau der Architekturgeschichte. Sie hat diesen Status als Hauptfigur des Dokumentarfilms „Koolhaas HouseLife“ errungen, der in 25 Kapiteln den Alltag in dem vielfach preisgekrönten Maison à Bordeaux zeigt. Der Film stammt von Ila Bêka und Louise Lemoîne; Louise ist die Tochter von Jean-François Lemoîne, einem wohlhabenden Verleger, der seit einem Autounfall an den Rollstuhl gefesselt ist und Rem Koolhaas bat, für ihn und seine Familie ein »komplexes, kein einfaches Haus« auf einem Grundstück in der hügeligen Umgebung von Bordeaux zu entwerfen. (2) Diesem Wunsch wird vor allem im Innern entsprochen: Das Gebäude ist in drei übereinander geschichtete Ebenen gegliedert, die unterschiedliche Wohnideen verkörpern: Das untere, in den Hügel gegrabene Geschoss thematisiert eine Art Wohnen in der Höhle, die mittlere, völlig transparente Ebene das extrovertierte, eher nomadische Wohnen und die darüber schwebende Box ein introvertiertes, von der Welt distanziertes Wohnen ›in den Bäumen‹. (3) Jede dieser fast archaischen Wohntypen führt zu einer völlig andersartigen architektonischen Logik, sodass sich die Etagen in Hinsicht auf Programm, Form, Räumlichkeit, Konstruktion, Materialität und Licht unterscheiden.

1819_AT_KoolhaasSchnittHerzstück des Wohnhauses bildet eine offene, 3 Meter auf 3,5 Meter große Plattform, die als »Fahrstuhl« die drei unterschiedlichen Wohnebenen rollstuhlgerecht miteinander verbindet. Diese architektonische Lösung ist äußerst originell, denn der vertikale Raum des Fahrstuhls durchdringt nicht nur die drei Etagen, sondern er verschmilzt regelrecht mit ihnen, je nachdem, wo er gerade steht: Befindet er sich im Untergeschoss, wird er zu einem Teil des Weinkellers und der Küche. Auf der mittleren Ebene fügt sich die Plattform in einen offenen, bühnenartigen Wohn- und Essraum ein und im Obergeschoss erzeugt sie das private Arbeitszimmer des Hausherrn und stellt eine Verbindung zwischen seinem Zimmer und dem seiner Frau her.

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(Bild: Ila Bêka & Louise Lemoine)

„Koolhaas HouseLife“ zeigt die Luxusvilla im Lichte der alltäglichen Reinigungsrituale Guadalupe Acedos. Wir sehen, wie Acedo wischt, schrubbt und saugt, eindringendem Regenwasser trotzt, Vorhänge ausschüttelt, auf der fahrenden Plattform die Bücher der Bibliothek abstaubt und sich zielsicher, aber distanziert durch das türlose Hauslabyrinth bewegt. Im Putzen verwandele sich das Haus – wie die New York Times schreibt – „von einem Spiel poetischer Imaginationen in eine klare Abfolge praktischer Probleme”. (4) Der Film mache deutlich, dass „die wahre Bedeutung von Architektur in den unscheinbaren Details steckt, in den kleinen Triumphen und Niederlagen, die den Alltag prägen“. Damit sei in erster Linie eine Humanisierung der Architektur verbunden: „Auch wenn sich das Gebäude auf eine Abfolge mechanischer Operationen reduziert, bleibt es nichtsdestotrotz so lebendig wie die Menschen in ihm, mit denen es auf eine Weise gefangen ist, wie ein ungleiches Paar in einem Tanz.“ (ebd.) Ein Gebäude und seine Nutzer als Tanzpartner, die sich immer wieder gegenseitig auf die Füße treten – schöner kann man die Eigensinnigkeit materieller Objekte im alltäglichen Umgang wohl kaum formulieren.
Acedos Beziehung zum Maison à Bordeaux ist ambivalent: Sie kennt zwar selbst seine letzten Winkel und Dysfunktionen, das große Ganze aber bleibt ihr – wie sie selbst sagt – ein Rätsel: „Ich weiß nicht, das Haus hängt irgendwie … Es gibt keine Wände und ich weiß nicht, wie es überhaupt stehen bleibt … Wirklich, ich weiß es nicht, ich sollte den Architekten fragen. Und selbst wenn er es mir erklären würde … Wissen Sie, ich gehöre nicht zu dieser Welt. […] Nein, ich weiß nicht, wie es stehen bleibt, es ist an drei Punkten befestigt und hängt. […] Wenn man unten auf der Terrasse steht und hochschaut … Wie hält das nur? Es gibt nur Glaswände und unten ist alles offen! Ich finde das seltsam, aber ich verstehe nichts davon.“ (5)

Objektivation und Internalisierung


Das Haus hat sich offenbar als suspektes technisches Wunderwerk in Acedos Bewusstsein eingeschrieben und löst ein Unbehagen bei ihr aus, das trotz der regelmäßigen Begegnung mit ihm nie verschwindet. Und obwohl Acedo dieses Haus hegt, pflegt und umsorgt, identifiziert sie sich nicht mit diesem gebauten Objekt. Auf die Frage nach ihrem Lieblingsort innerhalb des Hauses antwortet sie diplomatisch: „Mir gefällt alles. Aber ich benutze hier nichts, ich bin nur hier, um sauber zu machen.« Eine dezidiert eigene Meinung hat sie einzig zur Küche:  „Das ist die Küche … alles aus Beton. Ich hätte eher Granit genommen, das ist besser. […] Was ich anders gemacht hätte? Ach, wissen Sie, ich habe ohnehin nicht das Geld. Aber so hätte ich es nicht gemacht. Auf keinen Fall! Es ist alles grau, viel zu grau! Ich respektive den Geschmack anderer Leute, aber für mich, nein! Mein Grab könnte grau sein, das ist alles!“

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(Bild: Ila Bêka & Louise Lemoine)

Die Küche scheint der einzige Ort im Haus zu sein, für den Guadalupe Acedo eine Expertise beansprucht; die anderen Räume bleiben ihr so fremd, dass sie keine eigene Meinung dazu hat. Dennoch kümmert sie sich liebevoll um das Objekt: Sie erfindet Möglichkeiten, wie man eindringendes Regenwasser auffängt, sorgt sich um rostende Eisenträger und entwickelt eine Schuhabstreiftechnik, die den farbigen Estrich im Untergeschoss vor Schmutz schützt. Einzig mit einer engen, scharfkantig-metallenen Wendeltreppe führt sie beim Saubermachen einen regelmäßigen Kampf, den sie mittels exzessiven Staubsaugereinsatzes zu gewinnen versucht. Bêka und Lemoîne haben die Szene Rem Koolhaas gezeigt. Der gibt sich irritiert:
„Was mich sehr verwundert hat, ist, dass jemand, der tagtäglich mit dem Haus umgeht, so gewöhnliche Putzmethoden auf ein so ungewöhnliches Objekt anwendet. Wir hätten vielleicht eine Art Putzanleitung für das Haus erstellen sollen, um klar zu machen, was man mit der Hand und was man maschinell erledigen sollte. Ich bin völlig überrascht, dass man etwas, das so rau und scharfkantig ist wie die Wendeltreppe, mit einem Staubsauger reinigt. Das erscheint mir total irrsinnig und uneffektiv. Ich würde vermuten, dass hier zwei Systeme kollidieren: eine platonische Auffassung von Reinigung mit einer platonischen Auffassung von Architektur. Da treffen nicht Alltag und Kunst aufeinander, sondern zwei verschiedene Ideologien.“ (6)

Was Koolhaas hier abstrakt als „Systemkollision“ bezeichnet, lässt sich architektursoziologisch als „Internalisierungseffekt“ begreifen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Architektur, wenn sie uns einmal objekthaft gegenübersteht, durch die Menschen, die sie in ihrem Alltag handhaben, angeeignet wird. Als materielle Objektivation deutet jedes Gebäude für uns einen bestimmten Ausschnitt der Welt. Es regelt das Zusammenleben seiner Nutzerinnen und Nutzer, stellt sich in einen historischen Kontext, bietet Identifikationsmöglichkeiten (oder auch nicht) und es evoziert bestimmte körperliche Modi des Umgangs. Mit anderen Worten: Es ko-produziert soziale Situationen. Aber übernehmen Menschen, die Gebäude handhaben, die in ihm objektivierten Weltdeutungen? Und wo liegen die Grenzen dieser Übernahme?


Zum zweiten Teil des Beitrags >>>


(1) Hermann Hertzberger: „Vom Bauen. Vorlesungen über Architektur“, München, 1995. S. 171.
(2) Jean-François Lemoîne zitiert in: „oma/rem koolhaas 1992–1996“, el croquis 79 (1996), S. 164.
(3) Philipp Oswalt, „Haus Floriac“, in Werk, Bauen + Wohnen (Schweizer Ausgabe) 86, 3 (1999), S. 18.
(4) Nicolai Ouroussoff, „Inhabiting a Piece of Art: It’s Not Always So Pretty“, The New York Times vom 29.01.2010. >>> , eigene Übersetzung
(5) Dies und die folgenden Zitate Guadalupe Acedos stammen aus dem Film Koolhaas HousLife und wurden vom Französischen ins Deutsche übersetzt.
(6) Das Zitat von Koolhaas stammt aus dem Film Koolhaas HousLife und wurde vom Französischen/Englischen ins Deutsche übersetzt.