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Das gemeinsame Anliegen dieser drei Bücher tritt nicht unmittelbar in Erscheinung: Es geht um kritische Analysen zur Bewertung und Relevanz von Geschichte und Gegenwart, Kritik und Widerstand.


2005_Rez_TietzJürgen Tietz: Drei Monde der Moderne oder wie die Moderne klassisch wurde. 104 Seiten, Bäßler Verlag, Berlin 2019.
ISBN 978-3-945880-47-0, 16,80 Euro (https://www.baesslerverlag.de/Drei-Monde-der-Moderne)

 

„Die“ Moderne gibt es genauso wenig wie „die“ moderne Architektur. Auch wenn die Architekturgeschichtsschreibung hier längst Klarheit verschafft hat, hält sich bis in die Gegenwartsdiskurse ein hartnäckiges Fehlurteil: „Die“ Moderne – und damit alles, was irgendwie modern aussieht – sei Schuld an allen Miseren und Scheußlichkeiten in unseren Städten, Regionen, Dörfern. Jürgen Tietz nimmt sich deswegen erneut der Aufgabe an, „davon zu erzählen, auf welchen Wegen sich ‚die Moderne‘ in Form des Neuen Bauens in den 1920er Jahren zur Klassischen Moderne am Ende des 20. Jahrhunderts wandelte“.1 Und er legt offen, dass auch der Klassischen Moderne in all ihrer formalen und konstruktiven Vielfalt ein gesellschaftlicher Subtext zugrunde liegt, eine „Haltung“.
Der Autor verknüpft seine Fachkenntnis mit persönlicher Wahrnehmung und Erinnerung, wobei die Relevanz des geschulten Auges deutlich wird. Auf diese Weise zeichnet Jürgen Tietz verschiedene Stränge der Moderne bis in die Gegenwart nach, um deren Kraft für das Bauen im 21. Jahrhundert anzumahnen. Aber auch, um einzufordern, sich mit den Errungenschaften und identitätsbildenden Eigenschaften modernen Bauens offen zu befassen. So erweist sich das Buch als sinnvolles Instrument, um der derzeit grassierenden, pauschalen und damit kenntnislosen Verteufelung der Moderne entgegenzuwirken. Die im Titel erwähnten Monde entlehnte Tietz bildhaft Haruki Murakamis Roman 1Q84 und ergänzt kurzerhand einen dritten Mond, um die Sicht aufs Neue Bauen um 1980 zu erklären.


2006_Rez_VoermanekKatrin Voermanek: Typisch Posener. 152 Seiten, Jovis Verlag, Berlin 2019. ISBN 978-3-86859-593-2, 18 Euro (https://www.jovis.de/de/buecher/details/product/typisch-posener.html)

 

Es ist ein Lesebuch, eine Hommage geworden: Die Autorin befasst sich seit einiger Zeit wissenschaftlich mit Person und Werk von Julius Posener (1904-1996), jenem couragierten Kritiker und Historiker, der sich als studierter Architekt subjektiv, wortgewaltig, unerschrocken und gelegentlich verschmitzt in die Architekturdebatten einmischte oder für Baubestand engagierte. Wie Jürgen Tietz von der Moderne erzählt, so erzählt Katrin Voermanek von Julius Posener – und lässt ihn erzählen. Julius Posener war Jude und floh aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Frankreich. 1961 kehrte er 57jährig nach Berlin zurück, inzwischen hatte er Israel, England und Malaysia kennengelernt. In Deutschland wusste er, wie Heinrich Klotz es später benannte, Architekturkritik und -theorie wiederzubeleben, nicht zuletzt dank einer direkten, klaren, wohlklingenden Sprache, mit der er sich nie im pseudowissenschaftlichen Geschwurbel verlor. Die Autorin erläutert mit einigem Wohlgefallen die Charakteristik von Poseners sprachlicher, aber nicht abgehoben theoretisierender, sondern auf subjektiver Erfahrung beruhender Kritik. Analogien und Verweise, Emotionalität, Humor, Wortspiele („Baudenkmalitis“) sowie Notizen und Briefe in Versform – das Repertoire in Julius Poseners Schriften ist überaus reich. Anhand von neun Texten zu konkreten Bauten wie der Liebermann-Villa, dem Kino Babylon, der Neuen Nationalgalerie, dem ICC und anderen wird Poseners unmittelbare Sicht auf Architektur und Stadt deutlich, die man, weil bewusst subjektiv erläutert, keineswegs teilen muss. Darin liegt ein erheblicher Reiz der Texte, denn eines sind sie nicht: banale Provokationen.

Julius Posener (Bild: Jill Posener | Posener Archiv im BK-Archiv der Akademie der Künste, Berlin)

Julius Posener (Bild: Jill Posener | Posener Archiv im BK-Archiv der Akademie der Künste, Berlin)

Posener erweist sich als konservativer Betrachter, der Neubauten weniger ästhetisch, als vielmehr politisch, ökonomisch, funktional und konstruktiv überprüft und dann bewertet. Er verletzte nicht, sondern war ein beliebter Lehrer und angenehmer Zeitgenosse. Das wird in Katrin Voermaneks „Lesebuch“ wunderbar deutlich.
Wer nun neugierig ist, dem seien weitere Lektüren aus dem umfangreichen Lebenswerk Julius Poseners besonders ans Herz gelegt: seine „Vorlesungen zur Geschichte der neueren Architektur“, die zunächst 1979 bis 1983 von Archplus und dann 2013 neu herausgegeben wurden, sowie seine Memoiren „Fast so alt wie das Jahrhundert“ von 1993.

 


2005_REZ_LeggewieClaus Leggewie: Jetzt! 224 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. ISBN 978-3-462-05329-6, Taschenbuch 10Euro, E-Book 9,99 Euro (https://www.kiwi-verlag.de/buch/claus-leggewie-jetzt-9783462053296)

Opposition, Protest, Widerstand: Der Autor ist Soziologe mit besonderem Interesse für Konfliktforschung, so dass man voraussetzen kann, dass hier endlich ein Fachbuch vorliegt. Eingedenk antidemokratischer Umtriebe rund um den Globus und eben auch hier in Deutschland sieht Claus Leggewie eine gewisse Dringlichkeit, sich mit Widerstand zu befassen – ohne gleich posaunend Alarm zu schlagen. Und so skizziert er Formen und Konzepte des Widerstands seit der Nachkriegszeit, dem hierzulande mit Artikel 20 Absatz 4 des GG ein verfassungsmäßiges Recht geschaffen ist.2 Die Probleme, die mit Widerstand als einer Art Kulturleistung allgemein verknüpft sind, liegen auf der Hand: Welche Arten des Widerstands (vom zivilen Ungehorsam bis zu Gewalt) sind legal beziehungsweise legitim, verantwortungsbewusst angeraten oder sogar moralisch notwendig? Hier gilt es zu differenzieren, was dem weltgewandten Soziologen anhand von Entwicklungen in Russland, der Türkei, Polen und Ungarn sowie den USA gut gelingt. Sinn und Zweck des Widerstands liegen im Engagement für friedliche Demokratien, und so liest man nun, dass und welcher Widerstand möglich ist und – zusammengefasst – „wie man Autokraten loswird“.
Auf hiesige Verhältnisse bezogen, benennt Claus Leggewie erst einmal die Verantwortung der Politik, die in öffentlichen Debatten auch auf europäischer Ebene zum Beispiel die Einwanderungsthemen behandeln müsse. Nicht-politisch organisierte Akteure wie Medien, Gewerkschaften u.a. sind daneben genauso in der Widerstandspflicht wie Bürger und Bürgerinnen, die sich mit Widerstandsformen auseinandersetzen müssen, wenn ihnen ihre demokratische Lebensweisen wichtig sind. Widerstand im Engagement für die Demokratie ist Bürgerpflicht, je früher, desto gewaltfreier.


1 Tietz, Seite 7

2 GG Artikel 20, Absatz (4): „Gegen jeden, der es unternimmt, diese [verfassungsmäßige / Anm. der Red. ]Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“