Stilkritik (103) | Es ist eine bekannte Strategie, mit dem, was uns zu überfordern droht, so umzugehen, dass aus dem Schaden eine Qualität wird. Manchmal ist das nicht so einfach, manchmal aber auch zu einfach.
Die Kunstzeitschrift Monopol meldete Ende Juli, dass die vom Sturm Ende Juni heruntergerissenen und verdrehten Teile des Stuttgarter Operndachs ein „Mahnmal für den Klimawandel“ werden könnten. Tatsächlich hatten die Stuttgarter Nachrichten einen Tag zuvor in Aussicht gestellt, dass diese Reste des Daches öffentlich präsentiert werden, als Denkmal. LINK Wofür das von Naturgewalten mit künstlerischen Ambitionen geschaffene Werk nun genau stehen soll, ist zwar ungewiss, ebenso, wie und wo man diese zur Skulptur umgedeuteten Bauschadensmaterialisierung präsentieren will. Ein Stuttgarter Politiker meinte, dass „ein Erinnerungsort für dieses in vielerlei Hinsicht schwierige Jahr“ entstehen könne, aber das sollte man wahrscheinlich eher als Arbeitstitel verstehen – zumal im Juli von diesem Jahr ja gerade mal erst etwas mehr als die Hälfte vergangen war.
Also kam es, wie es kommen musste, und wieder wurde es „schwierig“: Am frühen Morgen des 17. August fielen aus der Fassade des Stuttgarter Hauptbahnhofs Steine. Einfach so. Verletzt haben sie niemanden, zum Glück. Naturgewalten waren dieses Mal unbeteiligt, es sei denn, man will menschliches Irren, um es vorsichtig auszudrücken, zumindest für eine Sonderform einer Naturgewalt halten. Man hatte eben eine tragende Wand eingerissen, versehentlich, ein Träger hatte daraufhin nachgegeben, so der SWR. Das ist vielleicht doch zu wenig für eine Naturgewalt.
Plötzlich diese Stille
Obwohl wir versucht haben, genau hinzuhören, kam uns nicht zu Ohren, dass auch dieses Mal ein Erinnerungsort, ein Denk- oder Mahnmal diskutiert würde. Eines mit herausgefallenen Steinen oder genauer gesagt, eines ohne die herausgefallenen Steine: ein Loch. Ein Denkmal für irgendwas mit Hybris oder „Wie das war, damals in Zeiten der Technikgläubigkeit“ oder zum Thema Grenzen der Machbarkeit. Schon klar, dass sich das nicht im Ernst jemand vorzuschlagen wagt, auch wenn es sich noch so schön zu den Ruinenromantik zitierenden Quadern passen würde, die ein paar Meter weiter scheinbar aus dem Sockel der Neuen Staatsgalerie gebrochen sind. Dafür hatte das Projekt – Stuttgart 21 – wohl doch zu viele zu tiefe Gräben gerissen, dafür ist es schon schwierig genug, dass die Baukosten beständig ebenso steigen wie die Bauzeit. Und dafür war zu lange Jahre dagegen angekämpft worden, dass Stuttgart 21 als ein Projekt des Machbarkeitswahns denunziert wird, technisch möglich, ansonsten aber sinnlos. Bemüht wurde dafür der größte Sohn der Stadt, Georg Wilhlem Friedrich Hegel, dessen Zitat aus der Einleitung der Phänomenologie des Geistes in Leuchtschrift seit 1993 bis vor kurzem an der Bahnhofsfassade angebracht war: „… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“
Als Freund der tollkühnen Technikgläubigkeit ist zwar Hegel falsch interpretiert (er verteidigte sein philosophisches Werk). Auch wird dem Kunstwerk von Joseph Kosuth (um das handelte es sich nämlich) mit derartiger Instrumentalisierung Unrecht getan. Allerdings hängt es gerade jetzt nicht mehr an der Fassade hängt, es war Zuge der Umbauarbeiten schon vor einiger Zeit entfernt worden. Es soll wieder angebracht werden, man hält es aber sicher nicht für angebracht, die Stelle der brökelnden Steine sichtbar zu lassen. Schade eigentlich. Gerade mit Hegelzitat, dass dann kurz vor dem Loch enden würde, wäre das doch eine eindrucksvolle Verknüpfung aus Zeitdokument und Kunst, die uns sehr viel über unsere Zeit zu erzählen hätte. Praktische Vorteile gäbe es auch. Man müsste nicht erst nach einem geeigneten Ort suchen. Der Schutz vor Vandalismus wäre auch vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen. Man müsste nicht darüber diskutieren, ob es ein Mahnmal für den Klimawandel oder ein Erinnerungsort für dieses in vielerlei Hinsicht schwierige Jahr sein sollte, dieses Zeugnis des großen Irrtums bliebe, anders als die Kupferwalze, vieldeutig und könnte den Deutungsfantasien der Menschen freien Lauf lassen. Klimawandel könnte man auch noch unterbringen, aber das wäre vielleicht auch wieder eine Instrumentalisierung, die aus dem Kunstwerk etwas macht, was es nicht sein sollte: eine Belehrung.
Zu harmlos
Man sollte die Kunst und wie sie gezeigt werden sollte, lieber den Künstlern überlassen. Und deswegen wäre es
vielleicht auch schön, man würde die Kupferwalze nicht als Kunst zu maskieren, um damit gleichzeitig den Klimawandel zu verniedlichen und Kunst auf das Vorfinden origineller Gegenstände herunterzuzerren, die ihrer Geschichte wegen bedeutungsschwanger und leicht verdaulich zu Betroffenheitsbekenntnissen aufgeladen werden können. Auch das stürzende Operndach hatte niemanden verletzt – die „gerade nochmal gutgegangen“-Erleichterung ist aber genau das Problem. Weder der Klimawandel noch das Afghanistan-Desaster, noch die Pandemie (oder was sonst mit dem „in vielerlei Hinsicht schwierigen“ Jahr gemeint sein könnte) sind Dachschäden, die man mal eben wieder reparieren könnte. Das hübsche Kupferknäuel, mag es auch noch so faszinierend sein, wäre viel zu übersichtlich und harmlos. Es gäbe – gerade in diesem ach so schwierigen Jahr – ohnehin bessere Orte und auch gewaltigere und erschütterndere Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass der Klimawandel nicht mehr vergessen wird, nötig wär es ja wahrlich.
Für Stuttgart hätten wir allerdings noch einen anderen Vorschlag. Derzeit prangt im Rahmen eines Festivals am einen Eingangsportal das Wort Brasilien. Es stammt von der Künstlergruppe SOUP, und es erinnert an den Decknamen einer Operation der Nazis, die in einiger Entfernung von Stuttgart auf freiem Feld Stuttgart so nachgebaut hatten, dass man damit zumindest vorübergehend die feindlichen Bomber irritieren konnte. Lasst diesen Schriftzug einfach am Bahnhof! Gerade wenn das Werk von Kosuth wieder installiert wird, wird es uns schauern lassen, wird es uns beunruhigen, wird es uns neue Blicke auf das Heute bescheren können. Aber vielleicht lassen wir uns erst einmal davon überraschen, was das Jahr sonst noch so bringt. Es ist ja immer noch nicht vorbei.