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Der Glaube an den Rechtsstaat


Die Behandlung der Menschen in Schlachthöfen haben wie die Krawalle in Stuttgart eine gemeinsame Basis: In beiden Fällen stellt sich die Frage, wie Menschen separiert werden, was mit dieser Separierung verbunden ist. Auch hier geht es um den öffentlichen Raum: darum, wie in und zu ihm Grenzen gezogen werden.

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Bild: Hans D. Christ

Man sollte es eigentlich nicht tun: Zwei Nachrichtenlagen, die medial durch das bloße Zeitgeschehen in Nachbarschaft auftreten, in einen logischen Zusammenhang stellen. Es scheint zunächst völlig an den Haaren herbeigezogen, zwischen dem massenhaften Covid-19-Ausbruch in den Fleischfabriken von Clemens Tönnies auf der einen und der „Krawall-, Randale-, Partyvolk-, Testosteronnacht“ in Stuttgart auf der anderen Seite eine Verbindung zu sehen – wenn da nicht jene Diskussion über strukturelle Gewalt und strukturellen Rassismus in Bezug auf unsere Exekutivkräfte wäre. (Hier ist explizit nicht nur die Polizei gemeint, sondern der gesamte Bereich der administrativen Gewalt, die auf unsere Psyche und Körper zugreift.) Diese beiden Vorkommnisse aufeinander zu beziehen, wäre hanebüchen, wenn da nicht eine Parteipolitik wäre, die sich für das Problem von Jugendlichen und/oder Osteuropäer*innen nur dann interessiert, wenn „sie“ zum „Problem“ für die Allgemeinheit werden (siehe die Einlassungen von Arbeitsminister Hubertus Heil zum Thema Tönnies), und einer aggressiven, verbrecherischen Ausbeuterklasse, die bisher völlig ohne jegliche Sanktionen auf offener Bühne mit unerhörter krimineller Energie modernen Sklavenhandel betreiben konnte.

Die Dominanzgesellschaft und die „Anderen“

Selbstverständlich hat ein Unrecht und ein Verbrechen stattgefunden, wenn ein kleiner Strickbedarfsladen und ein McDonald’s demoliert werden. Dass letzteres ein Unternehmen ist, das sich die schleichende Vergiftung der Konsument*innen zum gewinnmaximierenden Geschäftsmodell erkoren hat und unmittelbar von der Sklavenarbeit in der Fleischindustrie profitiert, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Es hat allerdings eine gewisse Ironie, dass der Laden „Wolle Rödel“ in direkter Nachbarschaft des besagten McDonald‘s liegt und beide auf den Holzplatten, die jetzt die Fensterscheiben ersetzen, den Spruch platziert haben: „Create, don’t destroy.“

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Bild: Hans D. Christ

Für den kreativen Ansatz des Strickens macht dies absolut Sinn. Für die menschenverachtende, krankmachende Ernährungspolitik von McDonald‘s müsste es eigentlich heißen: „Don’t destroy us, we know better how to do it.“ Und wir müssen hier nicht erneut erwähnen, dass diese Destruktion nicht nur durch den Magen jedes/r Konsument*in geht, sondern auch immer den umweltzerstörerischen Produktionszyklus der gesamten Fleischindustrie umfasst.

Dass die meist männliche Jugend, die beide Läden zerstörte, weit von einem konkreten politischen Bewusstsein entfernt ist, muss nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass diese Randale nicht politisch zu betrachten sind. Es ist das Defizit der sich jetzt im parteipolitischen Feld bahnbrechenden und nur die Exekutive schützenden Pauschalisierungen, dass der gesamte Eskalationszyklus eben nicht als politisch bedingt begriffen wird. Zufällig ist dieses Defizit allerdings kaum: Denn würden Politiker*innen die Randale politisch deuten, hieße dies, sich selber in das Verursacherprinzip miteinzubeziehen und als Teil des Problems zu sehen. Strukturelle Gewalt und struktureller Rassismus sind eben nicht nur personalisierbare Probleme, sondern systemimmanente Zustände der Dominanzgesellschaft, das heißt, sie zeichnen sich zum einen durch die Exklusivität aus, mit der ein Verbrechen (Tönnies) als zum System gehörig definiert wird.

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Teil der weit verzweigten Tönnies_Gruppe: Der Jade-Schlachthof in Wilhelmshaven. (Bild: Wikimedia Commons CC BY 3.0, Gerd Fahrenhorst)

Zum anderen wird eine administrative, bürokratische, ökonomische, rechtliche Exklusion situiert, mit der ein Verbrechen erst hergestellt wird. Die mittels Werkverträgen und Subunternehmen bei Tönnies Beschäftigten können nur in dieser Art und Weise beschäftigt werden, da man sich einen Rechtsraum zu eigen macht, der im Inneren (Deutschlands) ein Verbrechen wäre. Die Beziehungen zum Außen werden folglich in einer Art strukturiert, dass das Verbrechen an ein Außen (zum Beispiel an Subunternehmer in Bulgarien oder Rumänien) delegiert werden kann. Dies hat die rassistische Motivlage zur Voraussetzung, in der das Leben der „Anderen“ zunächst entwertet wird, um es dann im Sinne der Gewinnmaximierung produktiv zu machen. Ähnliche Exklusionen im Sinne von „Selbstschutz“ der Dominanzgesellschaft – auch als Diskriminierung bekannt – erfahren all diejenigen, die schon mit ihrem Nachnamen signalisieren, dass sie keine „Biodeutschen“ sind, wenn es etwa um die Gleichbehandlung bei der Job- oder Wohnungssuche geht.

Räume der Separierung

Dieses strukturelle Ungleichheitsprinzip bestimmt auch das Verhältnis von Staatsmacht und der Szene um den Eckensee, die kaum als homogener Cluster beschreibbar ist. Hier hat man trotz einer erkennbaren Eskalationsspirale auf mehr Polizei gesetzt und 2014 die Streetworker abgezogen. Der Raum um den Eckensee, wo die Krawalle ihren Ausgang nahmen, war damit bereits auf Grund vereinzelter, teils schwerwiegender Delikte zu einer Generalverdachtszone erklärt worden. Das setzte automatisch auch die Polizei unter den Druck, mit den ihr zur Verfügung stehenden, sanktionierenden Mittel, wie etwa der regelmäßigen Leibesvisitation zu reagieren, die tags wie nachts ohne begründeten Anfangsverdacht durchgeführt wurden. Da sich diese dem Kontext immanente Willkür meistens gegen junge Männer mit migrantischen Hintergrund richtet, liegt es auch nahe, dass dieses Verfahren als rassifizierende Verallgemeinerung erfahren wird. Das zeigt, dass die Polizei die falsche Instanz ist, um komplexe Konfliktstrukturen wie diese zu befrieden. Ihr ist ein ureigenes Gerechtigkeitsdefizit – Gerechtigkeit ist hier nicht mit Recht zu verwechseln – immanent, da sie, wie Jacques Derrida (*) sagen würde, das Recht in der unmittelbaren Konfliktsituation implementiert, und das ist kein Problem einzelner Polizist*innen, sondern der Struktur des Polizeilichen selbst.

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Stuttgarter Schlossgarten eine Woche nach den Krawallen. (Bild: Christian Holl)

Wenn man in diese Struktur die gesteigerten Sanktionen einbezieht, die mit der Corona-Krise den öffentlichen Raum betraten (Spatial Distancing), wenn man bedenkt, dass zugleich Räume sozialer Betreuung wie sozialer Rituale (Bildungsangebote, Clubs, Bars, Sportstätten…) nicht mehr zugänglich waren, wird überdeutlich, wie klassenspezifische Privilegien in Bezug auf Raum und Bildung in der Gesellschaft verteilt sind. Krisenbedingt steigerte sich ein kollektives Ungerechtigkeitsempfinden, das sich aber längst vorher etabliert hatte.

Symptomatisch für die Konflikte ist in beiden Fällen, dass Räume entstanden, in denen Menschen, die nicht als vollwertige Rechtssubjekte anerkannt werden, in einem System von Überwachen und Strafen – manche nennen dies auch Fordern und Fördern – ihre eigene Perspektivlosigkeit erfahren und daher auch keinerlei Wertebindung an ihr Umfeld entwickeln können, weil sie sowohl räumlich wie rechtlich ausgesondert sind. Wenn wir uns jetzt kollektiv über diese enorme Destruktion und Aggressivität wundern, dann müssten wir uns zunächst fragen, ob wir nicht selber diese Destruktion aggressiv betreiben, etwa indem wir die beschriebenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse zum Selbstzweck eines billigen Burgers hinnehmen und ebenso zum Eigennutz akzeptieren, dass ganz Bevölkerungsteile in einem rechtlichen Vakuum angesiedelt werden.

Hannah Arendt hat schon 1955 in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung des europäischen Faschismus und den Massen an Flüchtlingen nach dem Ersten Weltkrieg hingewiesen, denen auf Grund der sich neustrukturierenden Nationalstaaten keinerlei Rechtsstatus zu gewiesen wurde. Wir sollten nicht erneut in dieselbe Falle tappen, in dem wir den Rechtsstatus zwischen den Anteilslosen und der so genannten Mehrheitsgesellschaft – wen auch immer man ihr zurechnen will – ungleich verteilen.


(*) Jacques Derrida: Gesetzeskraft – Der »mystische Grund der Autorität« Frankfurt am Main, 1991