Bisher scheint das Gefühl nicht getrogen zu haben, dass wir mit der Corona-Krise endgültig im 21. Jahrhundert angekommen sind. Sie symbolisiert eine Zeitenwende: Weg von einer relativ stabilen Biosphäre, mit der wir Menschen mehr oder weniger anstellen, was wir wollen, hin zu einer Umwelt, die sich gegen uns kehrt. Was bedeutet das für Architektur und Städtebau?
„Städtebau.Positionen“ (9) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.
Pandemien, Brände, Überflutungen, Stürme, Hitze- und Kältewellen, schmelzende Gletscher: Unsere Welt ist bedrohlich ins Rutschen geraten, ausgelöst durch massive Ausbeutung. Dieser Prozess ist allerdings schon lange im Gange und auch schon lange präzise diagnostiziert. (1) Aber jetzt, am Anfang der 2020er Jahre, werden seine Folgen spürbar, und der Diskurs darüber wird auch zunehmend in der Breite geführt. (2) Pandemie und globale Erwärmung sind dabei nur zwei Komponenten einer wesentlich umfassenderen Krise, die direkt mit unserer Lebensweise zusammenhängt.
Beginn eines Umbruchs
Die Corona-Krise gibt auch einen Eindruck davon, wie die Menschen in den westlichen Gesellschaften auf Einschränkungen ihrer zerstörerischen Lebensweise angesichts einer derartigen Bedrohung reagieren: Es fällt ihnen schwer, diese Einschränkungen zu akzeptieren, auch wenn sie ihnen nicht unmöglich zu sein scheinen. Diese Akzeptanz-Frage wird in verschärfter Form gestellt werden, wenn uns weitere, noch gravierendere Konsequenzen der Biosphärenkrise erreichen: Wir werden unseren Lebensstil radikal ändern und dabei auch in spürbarem Maße auf Komfort, Konsum, Reisen und allgemein liebgewonnene Aspekte unserer beschleunigten Lebensweise verzichten müssen. Denn nüchtern betrachtet deutet alles darauf hin, dass wir, auch dank aufopferungsvoller Lobbyarbeit diverser Industrien, (3) den Zeitpunkt für ein ressourcenschonendes Leben ohne allzu große Einschränkungen längst verpasst haben.(4) Ob daraus Um- und Zusammenbrüche verschiedener Systeme im Sinne von Bendells umstrittenen Konzept der „deep adaptation“ (5) resultieren werden, bleibt abzuwarten. Solche Zusammenbrüche sind jedenfalls zu befürchten, und wie die Corona-Krise werden sie sich kaum vorher ankündigen, sondern eher plötzlich und unvorhergesehen stattfinden. (6)
Im Kontext der Biosphärenkrise wird auch die Frage der Klimagerechtigkeit immer stärker aufkommen. Während sie momentan eher abstrakt diskutiert wird, wird sie spätestens mit den ungleich verteilten Folgen der Erderwärmung und dem Einsetzen massiver Fluchtbewegungen aus unbewohnbaren Regionen konkret werden. Zudem werden für die Klimaadaption auch bei uns massive Ressourcen eingesetzt werden müssen, zusätzlich zu denen, die beispielsweise für den Umbau des Energiesystems nötig sein werden. In der westlichen Hemisphäre werden wir uns also drei großen Themen ausgesetzt sehen: Dem notwendigen grundlegenden Wandel unserer Systeme, der Frage nach globaler Gerechtigkeit; und einer kostspieligen infrastrukturellen Anpassung.
Angesichts dieser Situation ist die teilweise auch städtebaulich ausformulierte Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ so verständlich wie abwegig. (7) Schwierig ist sie zudem nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch, weil sie dazu beiträgt, die Möglichkeit eines „Weiter so“ vorzugaukeln, gerade auch indem die teilweise sogar als „Forschung“ verkauften Neuauflagen der Mietskasernen der Gründerzeit geschickt so dargestellt werden, als seien sie die geeigneten Antworten auf Nachhaltigkeitsforderungen. Die Konzepte bestätigen nach bewährtem Rezept der sogenannten konservativen Politik diejenigen, die meinen, das meiste könne doch so bleiben wie bisher oder könne sogar wieder so werden „wie früher“. Aber die Bewahrer (da sie meist männlich, alt und weiß sind, bedarf es hier keines Gendersternchens) kommen viel zu spät. Die Uhr kann nicht mehr zurückgedreht werden.
Im Städtebau der nächsten Jahrzehnte werden aller Wahrscheinlichkeit nach viel grundlegendere Fragen zu verhandeln sein: Was behalten wir von einer massiv überdimensionierten baulichen Infrastruktur, die auf Wachstum ausgelegt ist, wenn dieses nicht mehr stattfindet – sowohl was die Verkehrs-, als auch was die Wohninfrastruktur angeht? Wen hängen wir (noch mehr) ab, wer bleibt versorgt, wenn die Illusion der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse fällt? Wie viel Platz räumen wir denen ein, die kommen, weil ihnen durch unseren „Imperialen Lebensstil“ (8) in ihrer Heimat die Chancen auf eine gute Art und Weise zu leben genommen wurden? Was machen wir mit dem Müll, den wir täglich produzieren, und den in absehbarer Zeit niemand auf der Welt mehr haben will? Wie diskutieren wir über den Wandel unserer Städte, wenn die etablierten Foren dafür bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung an Akzeptanz verlieren? Wie gehen Stadtverwaltungen und Regierungen in Zukunft mit den massiven Fehlinvestitionen in Infrastrukturen wie (Stadt-)autobahnen und Flughäfen um, die aus einer veralteten Logik heraus auch jetzt immer noch auf der Tagesordnung stehen und geradezu tragisch auf Jahrzehnte kalkuliert wurden und werden? Wie gehen wir mit einer wachsenden Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der Stadtsysteme um? Wie reagieren städtische Bevölkerungen auf die Krise der Wachstums- und Konsumspirale, die unmittelbar mit ihrer Krankheits- und Altersvorsorge zusammenhängt?
Die egalitäre Stadt ist die Stadt, die nicht gebaut wird
Wir alle – Progressive, Konservative, Postmoderne, Alltagsarchitekt*innen, Stadtbaukünstler*innen, Investor*innen, Hausbesetzer*innen – müssen zusammenarbeiten, wenn wir noch eine Chance haben wollen, einigermaßen heil aus dem Schlamassel herauszukommen. Die Schlüsselfrage ist dabei die nach der gerechten, der egalitären Stadt: Sie ist als am krisenresilientesten einzuschätzen, da in ihr alle Mitglieder der Gesellschaft an einem Strang ziehen können. Kolleg*innen aller Richtungen haben seit den Anfängen des Städtebaus an dieser Stadt gearbeitet, deren Bewohner*innen gleiche Chancen haben, in der Ressourcen wie Zugänglichkeit, Grünraum und öffentliche Infrastrukturen möglichst gleich verteilt werden.
Bei uns in der westlichen Hemisphäre wird im 21. Jahrhundert diese Stadt diejenige sein, die nicht oder kaum gebaut wird. (9) Denn beinahe alles, was wir (neu) bauen, zerstört die Chancen anderer auf dem Globus, wenn es nicht deren Misere noch mehr verstärkt. (10)
So geht die öffentliche Debatte um Wohnraum in Deutschland in die vollkommen falsche Richtung, denn in ganzen Land gibt es davon genug, nur ist dieser falsch verteilt. Trotzdem werden die Forderungen an Städtebauer*innen und Architekt*innen, nicht mehr zu bauen, größtenteils ignoriert. (11) Das große Dilemma der Biosphärenkrise spiegelt sich auch in unserem Fach wider, und da schließe ich mich und mein Büro ein: Warum sollte sich ein Wirtschaftszweig selbst abschaffen, nur weil es global gesehen vernünftig ist? Wer fängt damit an? Ist es angemessen, dies zu erwarten, zumal von jenen, die sich mit der Zeit mühsam eine berufliche Existenz aufgebaut haben? Sind die Stellschrauben nicht viel größer als wir selbst? Eine logische Konsequenz eines Baustopps wäre es, die Verteilung des Bestandes stark zu regulieren. Was würde dies für die Disziplin des Städtebaus bedeuten? Welche Tätigkeiten verblieben uns noch, und wem überlassen wir das Feld, falls wir wirklich Ernst machen und uns auf Umbau, Sanierung und Umverteilung beschränken? Das Dilemma betrifft dabei keineswegs nur diejenigen, die Gebäude bauen, es betrifft genauso das Selbstverständnis der aufgeklärten und progressiven Städtebauer*innen, für die in den letzten Jahrzehnten Vermittlung und Moderation sehr wichtig wurden. (12) Denn mit dem ab Anfang der 1980er Jahre dominanten Neoliberalismus beförderte und legitimierte auch solche Moderation oft das zerstörerische System.
Arbeiten im Notfallmodus
Nüchtern betrachtet haben wir der Klima- beziehungsweise Biosphärenkrise nicht viel entgegenzusetzen. Sie ist zu weit fortgeschritten und zu tief in unseren Systemen verwurzelt, als dass wir sie noch mit moderaten Anpassungen dieser Systeme aufhalten könnten. Dass immer mehr Städte und Universitäten den Klimanotstand erklären, mag für manche pathetisch wirken. Aber solche Deklarationen bezeichnen den Zustand treffend und sind zumindest ein erster Schritt zu dem, was Bruno Latour fordert: Angesichts der Klimakrise wäre es rational, unermüdliche, kollektive Anstrengungen zu unternehmen, die einem Einsatz in Kriegszeiten ähneln. (13) Wie aber kann dieses Handeln im Notfallmodus für Architektur und Städtebau aussehen?
Da ist zunächst einmal die Frage, ob wir den Bedingungen wirklich so stark ausgeliefert sind, wie viele meinen. Anne Lacaton und Philipp Vassal würden vermutlich sowohl zustimmen als auch widersprechen: Ihre Arbeiten zeigen, was mit einer anderen Haltung großen Investoren oder Körperschaften gegenüber ausgerichtet werden kann, sie betonen aber auch, dass zum Gelingen immer auch günstige personelle Konstellationen gehören. (14) Sie beweisen, wie wichtig es ist, nicht bedingungslos mitzumachen, sondern Haltung zu zeigen und Probleme anzusprechen – auch wenn Aufträge verloren gehen könnten.
Für die Architektur hat die Sammlung „Spatial Agency: Other Ways of Doing Architecture“ bereits vor zehn Jahren das weite Feld der möglichen Vorgehensweisen in der Architektur vermessen und dabei aufgezeigt, mit welcher Haltung andere Wege für das Bauen möglich sind – sie sind meist unspektakulär und an bottom-up-Prozesse geknüpft. (15) Wie entsprechende ästhetische Positionen aussehen könnten, zeigen wiederum Beispiele, die eher Kunst und Performance zugehörig sind, aber neue Richtungen aufzeigen können. (16) Bilder und Konzepte zu liefern, ist eine wichtige Aufgabe unseres Felds. Ein weiterer Schlüssel scheint in Kollektiven zu liegen, schwarmartigen Zusammenschlüssen ohne Hierarchie, Komplizenschaften im Sinne Gesa Ziemers. (17) So machte die Gruppe „Assemble“ aus London mit ihren demokratischen, ökologisch ausgerichteten Arbeiten auf sich aufmerksam. Das Kollektiv „Rotor“ in Brüssel beschäftigt sich mit der Wiederverwendung von Bauteilen, und Initiativen wie das „Haus der Materialisierung“ in Berlin beschäftigen sich mit der konkreten Umsetzung der Kreiswirtschaft im städtischen Zusammenhang. Architekt*innen können in solche Kollektive wertvolle Impulse einbringen.
Auf dem Feld des Städtebaus sind der Situation angemessene Vorhaben momentan noch eher im Bereich der Ausbildung und Forschung zu suchen. (18) Da sie weniger Zwängen unterworfen sind, können sie besser auf Latours Notfallmodus ausgerichtet werden. Zudem ist dies nur logisch, weil dies der normale Arbeitsmodus kommender Generationen sein wird und es wichtig ist, sie darauf vorzubereiten. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich auch die städtebauliche Praxis in den kommenden Jahren mehr und mehr auf den Notfallmodus einrichten wird. Aber je früher und expliziter sie dies tut, je politischer, vernetzter und kollaborativer die Städtebauer*innen denken, desto mehr wird die Disziplin auch in Zukunft an Relevanz behalten.