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Die Experimental Fellows Maria Lisogorskaya und Kaye Song forschen unter dem Titel „Earth, Lightly“ zu leichten, erdbasierten Baustoffen. (Bild Atelier LUMA, Arles © Joana Luz)
Seit 2022 vergibt die Experimental Foundation mit Sitz in Berlin Fellowships für angewandte Forschungsprojekte über Materialien und nachhaltiges Bauen. Stifterin Regine Leibinger und Chrissie Muhr, Co-Managing Director von Experimental, im Gespräch über die Kooperation mit Bauhaus Erde, altes Material-Wissen und neue Technologien sowie die Dringlichkeit der Bauwende.

Liebe Regine Leibinger, liebe Chrissie Muhr, was waren die Beweggründe, die Stiftung Experimental zu gründen?

Regine Leibinger: Zunächst war das eine ganz persönliche Entscheidung nach dem Tod meiner Eltern (*). Durch sie war das Thema Stiftung in der Familie bereits präsent. Ich habe entschieden, mich ähnlich zu engagieren und mit meinen finanziellen Möglichkeiten etwas an die Gesellschaft zurückzugeben. In diesem Geiste sind wir schon als Kinder aufgewachsen.

Ein weiterer Grund war die Notwendigkeit der Bauwende, die immer offensichtlicher wird. Als praktizierende Architektin bekomme ich tagtäglich zu spüren, wie schwierig es ist, Nachhaltigkeit in die Praxis umzusetzen. Deshalb ist es mein Anliegen, dass sich die Stiftung dem Experiment widmet. Wir suchen die Fellows aus, sie bekommen einen Ort, ein Team und eine Finanzierung an die Seite gestellt. Und dann geht es zunächst darum, unkonventionelle Ideen so praxisnah wie möglich zu testen, in unserem Fall mit Materialien für eine nachhaltige Bauweise. Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass die Dinge auch eine Ästhetik, eine hohe gestalterische Qualität haben.

Wie finanziert die Stiftung die Projekte?

Chrissie Muhr: Für die erste Phase gibt es ein Stiftungskapital über zunächst drei Jahre. Das wird entsprechend verteilt: Wie viel braucht ein Fellow-Projekt, über wie viele Monate, wie viele Ressourcen und Kapazitäten? Jedes Budget wird mit dem Fellow individuell zu Beginn entwickelt.

Regine Leibinger: Derzeit bauen wir die Programmentwicklung weiter auf, und das Stiftungsvolumen wird sicher größer werden.

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Die Experimental Fellows Angie Dub und Heidi Jalkh forschen zu maritimen Abfällen, konkret zum Potenzial von Muscheln als Werkstoff. (Bild © Heidi Jalkh)

Ihr kooperiert mit Bauhaus Erde. Wie arbeitet ihr konkret mit der Initiative zusammen und wie kam es dazu?

Regine Leibinger: Philipp Misselwitz, Geschäftsführer bei Bauhaus Erde, ist ein Freund. Wir saßen während der Corona-Pandemie, damals auch noch mit dem späteren Experimental-Geschäftsführer Matthias Ballestrem zusammen und fanden, es passiert zu wenig. Wir wollten gemeinsam etwas verändern. So haben wir die Idee für ein Bauhaus Erde Fellowship (BE-FELLOW) von Experimental entwickelt. Das war für die ersten drei Jahre im Bauhaus Erde LAB im Marienpark in Berlin angesiedelt. Die Kooperation mit Bauhaus Erde wird fortgesetzt, aber wir werden künftig auch noch andere Partnerschaften eingehen. Deswegen laufen die Fellowships jetzt unter dem neuen Namen „Experimental at —“. Eine Kooperation wird es zum Beispiel bald mit der Harvard Graduate School of Design geben, wo ich unterrichte.

Ihr fokussiert das Thema Bauwende sehr konkret auf die Frage der Materialforschung und Materialanwendung. Wie weit seht ihr das Ziel der Stiftung im Kontext von sozialpolitischen Implikationen, die mit dem Thema Material einhergehen?

Regine Leibinger: Das Fellowship ist sehr stark materialbezogen und wird es auch bleiben. Der Umgang mit Material ist für mich der Wesenskern von Architektur. Es hat sehr viel mit meinem eigenen Werdegang zu tun. Barkow Leibinger gibt es seit 30 Jahren. Jetzt gibt es die Non-Profit-Organisation Experimental. Das sind zwei voneinander getrennte Einheiten, aber die Gründerin beider Organisationen ist natürlich die gleiche. In meiner Praxis als Architektin, Professorin und Stifterin liegt der Fokus ganz klar auf dem Material.

Chrissie Muhr: Die Bauwende oder die Krise, in der wir uns befinden, zeigt sich ja zuallererst an der Ressourcenfrage, und deswegen ist Material ein direkter Zugang dazu. Daraus entwickeln sich weitere Fragestellungen und praktische Methoden. Wir fragen, wo kommt das Material her, wir schauen auf Themen wie Wertschöpfungsketten, Produktion und Produktionsbedingungen. Oft geht es ja auch darum, altes und verlorenes Wissen über Materialien zu reaktivieren und mit neuen Technologien zusammenzubringen.

Wo verortet ihr euch speziell mit Blick auf eine staatlich finanzierte oder auch private Forschung wie die Fraunhofer Institute?

Regine Leibinger: Wenn man an der Uni oder auch mit Fraunhofer zu Material forscht, ist der Spiel- und Denkraum oftmals sehr fokussiert, vielleicht sogar durch Vorgaben eingeschränkt. Das ist der Unterschied zu Experimental, hier kann man erst einmal alles vorschlagen, und wir prüfen dann, was wir fördern.



„Das ‚Thinking out of the Box‘ macht Experimental so besonders.“
Regine Leibinger, Stifterin der Experimental Foundation



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Jury-Meeting 2024 zur Auswahl der Experimental Fellows im Marienpark bei Bauhaus Erde, Berlin. (Bild © Patrick Desbrosses)

Chrissie Muhr: Wichtig ist die angewandte, die praxisbasierte Forschung. Wir bilden mit Experimental eine Brücke zwischen Forschung und Industrie. Wir machen hier einen Raum auf, der momentan sonst nicht existiert. In der akademischen Forschung wird zwar extrem viel Wissen aufgebaut, es kommt aber oftmals nicht in der Praxis und im Markt an.

Wie trefft ihr die Auswahl der Fellows?

Regine Leibinger: Wir bewerten die Einreichungen in einer internationalen Jury. Die Ausschreibung ist bewusst offen gelassen. Dieser offene Rahmen ist wichtig, um unkonventionelles Denken zu fördern. Der Fokus bei der Auswahl der Fellows liegt auf deren Potenzial und auf deren Ideen. Manche sind jünger, manche sind schon etablierter, wichtig ist uns vor allem der Praxisbezug.

Wie sind die Fellowships strukturiert?

Chrissie Muhr: Wir haben in der ersten Phase über drei Jahre sechs Fellow-Teams betreut. Sie schätzen und nutzen die thematische Offenheit ganz bewusst. Es gibt Projekte mit Schilf, Weide, Muscheln, Erde oder Beton – aber mit ganz unterschiedlichen Herangehensweisen. Das Besondere an dem Experimental-Fellowship: Es gibt nicht den einen Prozess. Der Fellow kommt mit seinem Profil, seiner Erfahrung und der Idee. Wir definieren dann gemeinsam das Projekt, den Rahmen und die Phasen. Das Fellowship ist keine Residency, es läuft parallel zu ihrer Praxis.

Regine Leibinger: Wir entwickeln das Projekt in enger Zusammenarbeit mit den Fellows. Unser Ziel ist, die Konzepte und Produkte zur Anwendung und auf den Markt zu bringen. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie und Fachleuten aus unserem Netzwerk lernen sie, wie man mit diesen neuen Materialien umgeht. Das fordert natürlich eine neue Praxis, ein neues Denken und Entwerfen ein.

Kann man das an einem Beispiel konkretisieren?

Chrissie Muhr: Beim Projekt „concrete.matters – primary structure laboratory“ von Baukreisel geht es um die Wiederverwendung von Beton. Das Team ist sehr aktivistisch gestartet: Sie wollten den Abriss eines Hochhauses in Dortmund verhindern, das früher vom Max-Planck-Institut genutzt wurde, was ihnen letztendlich auch gelungen ist. Dadurch mussten sie aber das Projekt neu ausrichten. Jetzt erforschen sie anhand von drei Pamphleten und mehreren Prototypen einen Weg zur produktspezifischen Wiederverwendung von Beton. Baukreisel hat dabei zwei Strategien abgeleitet: Bei „Remix“ geht es darum, Recycling-Beton zu zerkleinern und wieder neuem Beton beizumischen, um daraus Mauersteine herzustellen. Bei „Remodule“ geht es darum, komplette Betonelemente wieder einzusetzen, zum Beispiel als Fundamente oder hybride Deckenelemente.

Die ersten beiden Fellowships, die 2023 vergeben wurden (von links nach rechts):
Das Fellowship-Team Baukreisel widmet sich der Wiederverwendung von Beton. (Bild © Baukreisel)
Das Fellowship-Team Material Cultures hat sich mit dem Potenzial von Mooren in Brandenburg im Sinne von Paludikulturen beschäftigt. (Bild © Material Cultures)
Das Paludi-Material Fragment von Material Cultures besteht aus einem Wandaufbau aus Holzrahmen, Schilfdämmplatten, Lehmverputz auf der Innenseite und einem Reetdach. (Bild © Joanna Wilk)



„Wir geben den Fellows die Freiheit, sich auszuprobieren.“
Chrissie Muhr, Co-Managing Director und Artistic Director Experimental Foundation


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Anna Pomazanna und Mykhailo Shevchenko untersuchen bei „Grunt“, wie man kontaminierte Erde aus Konfliktgebieten für Baustoffe einsetzen kann. (Bild © Zlatoslava Kryshtafovych)


Derzeit habt ihr zwei Fellowship-Teams, die sich dem Thema Erde widmen …

Chrissie Muhr: Die Fellows sind international, aber vieles spielt sich in Berlin ab, sie kommen hier zusammen und lernen voneinander. So entstehen gerade auch Synergien zwischen den zwei neuen Teams. Ein Team stammt aus der Ukraine: Anna Pomazanna and Mykhailo Shevchenko untersuchen in ihrem Projekt „Grunt“, wie man kontaminierte Erde aus Konfliktgebieten als Baustoff einsetzen kann – konkret in der Ukraine für einen möglichen regenerativen Wiederaufbau.

Regine Leibinger: Als wir sie im Herbst 2024 ausgewählt haben, fanden wir nicht nur ihre Idee sehr klug und haben darin Potenzial gesehen, sondern fanden es auch wichtig, diese Forschung voranzubringen.

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Maria Lisogorskaya und Kaye Song vom britischen Kollektiv Assemble forschen im Rahmen des Experimental Fellowships zu „Earth, Lightly“. (Bild © Assemble
)

Chrissie Muhr: Auf der anderen Seite haben wir derzeit mit Assemble ein etabliertes Büro als Fellow, mit Maria Lisogorskaya und Kaye Song, die zu „Earth Lightly“ forschen, also leichte erdbasierte Baustoffe, die sie bereits bei Atelier LUMA in Arles untersucht haben. Sie treiben ihre Arbeit sehr stark durch das Performative voran, indem sie die Prozesse des Handwerks, des Wissens und der Techniken dahinter ebenso auf den Prüfstand stellen wie die Anwendung neuer Technologien.

Wie gestaltet sich die Verknüpfung von Forschung und Praxis – also von Think to Make, vom Experiment zur Realität?

Chrissie Muhr: Es geht uns um eine aktive Wissensvermittlung, einerseits zwischen den Fellows, vor allem aber auch in die Öffentlichkeit und die Praxis. Deswegen haben wir eine Creative Common License für alle Projekte vereinbart. So gibt es den Bericht „Wetlands and Construction. An Opportunity for Berlin-Brandenburg“ von Material Cultures aus unserem Fellow-Programm auf unserer Website zum freien Download. Diese Arbeit, die sich den Mooren in Brandenburg und Paludikulturen widmet, war auch in der Ausstellung „The Great Repair“, kuratiert von der ARCH+ in der Akademie der Bildenden Künste in Berlin 2024 zu sehen. Auch der Report von Baukreisel wird zugänglich sein.

Regine Leibinger: Es ist letztendlich wichtig, die Verbindung zur Industrie aufzubauen, den Sprung zur Zulassung des Materials zu schaffen. Damit sind wir wieder beim Ziel der Stiftung: Die Dringlichkeit dafür ist hoch, die Erderwärmung lässt uns keine Zeit. Der Klimawandel, die Ressourcenknappheit und der Verlust der Biodiversität schreiten extrem schnell voran, und wir als Baubranche haben einen erheblichen Anteil daran.

Gibt es eine Strategie der Multiplikation der Erkenntnisse der Fellowships, was Veröffentlichung und Verbreitung angeht, um mehr Menschen zu gewinnen?

Chrissie Muhr: Das Machen ist schon ein Vermitteln, allein im Netzwerk. Wir generieren eine dynamische Wissensproduktion und einen kontinuierlichen Austausch. Dabei erlaubt die Creative Common License ein stetiges Teilen, etwa über unseren Instagram-Account und die für alle zugänglichen Reports, die die Arbeit der Fellows begleiten. Zukünftig planen wir auch Konferenzen, Summits und Publikationen, sowie weitere Ausstellungen. Wir wollen dieses Wissen, das in der Stiftung entsteht, aufbauen und in den Diskurs einbringen.

Regine Leibinger: Ganz ehrlich: Ich will vor allem Ergebnisse sehen, ich muss Dinge gebaut sehen, eins zu eins, als Haus, Mock-up oder baupraktisches Experiment. Solche Ergebnisse kann man dann auch publizieren und auf Konferenzen darüber sprechen.



2512_AT_Mittelstaedt_LeibingerRegine Leibinger leitet seit 1993 gemeinsam mit Frank Barkow das Architekturbüro Barkow Leibinger in Berlin. Das Spektrum ihrer Arbeit reicht von Masterplänen und urbanen Hochhäusern über Büro- und Industriegebäude bis hin zu Wohngebäuden, Installationen und prototypischen Pavillons. Regine Leibinger war Professorin an der TU Berlin, Gastprofessorin an der Princeton University und der Cornell University und lehrt seit 2022 regelmäßig als Design Critic an der Harvard GSD. Sie ist Mitglied der Sektion Baukunst der Akademie der Künste in Berlin und des Dean’s Leadership Council der Harvard GSD. 2022 gründete Regine Leibinger die gemeinnützige Organisation Experimental Foundation, die Projekte fördert, die in neue Bereiche der Architektur vordringen, um die Art und Weise zu verändern, wie und mit was wir bauen.

2512_AT_Ziora-MuhrChrissie Muhr ist Architektin, Researcher und Kuratorin und lebt in Basel. Seit 2024 sie ist Geschäftsführerin und Künstlerische Leiterin der Experimental Foundation in Berlin, die Projekte für eine nachhaltigere Architektur der Zukunft fördert. Mit ihrer multidisziplinären Praxis kuratierte sie 2023 die Ausstellung und Publikation „Reset Materials – Towards Sustainable Architecture“ bei Copenhagen Contemporary. 2022 war sie Gründungs- und Künstlerische Direktorin der Architekturwoche Basel sowie des ersten Basel Pavillons. Zuvor arbeitete Muhr als Senior Researcher und Kuratorin bei Vitra und dem ARCH+ Magazin in Berlin. Muhr ist regelmäßiges Mitglied in Jurys, publiziert und unterrichtet international u.a. an der ETH Zürich, HEAD Genève, HGK Basel, EPFL Lausanne, AA School London und zuletzt Harvard GSD.

Das Gespräch führten Martina Metzner und Christian Holl am 18. Februar 2025


(*) Doris und Berthold Leibinger, Gesellschafter von Trumpf, Ditzingen, Anmerkung der Redaktion