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Jetzt kommt’s drauf an

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Wohin der Beton fließt, sollten wir uns in Zukunft viel genauer als bislang überlegen. (Bild: pxhere)


Die ökologischen und sozialen Wirkungen der Arbeit von Architekt:innen und Bauingenieur:innen in der Klimakrise sind bekannt – und werden dennoch sowohl im Berufsalltag als auch in der Lehre kaum berücksichtigt. Wie kann die große Verantwortung endlich ausgefüllt werden? Teil 3 der Serie über das Bauen mit Beton behandelt die wesentlichen Entwurfsfragen, die in jedem Projekt gestellt werden sollten.

Teil 1 With or without you: Klimaneutralität und die Rolle des Zements >>>
Teil 2 Das wird ziemlich knapp: Wie verantwortlich mit knappem Sand umgehen? >>>


Deutschland ist im Grunde ein fertiggebautes Land. Wie in zahlreichen anderen Industrieländern wurde hier im vergangenen Jahrhundert unter enormem Material- und Energieaufwand eine nahezu lückenlose Infrastruktur errichtet, die uns in die privilegierte Situation bringt, heute (zumindest theoretisch) größtenteils nur noch flicken, umbauen und anpassen zu müssen. Dennoch steht die Frage, ob und wie wir den Bestand nutzen können, nur selten im Zentrum von Entwurfsprozessen, obwohl bekannt ist, dass die Vermeidung von Neubau der effektivste Hebel ist, um Ressourcen und Emissionen einzusparen und – richtig geplant – auch zu kürzeren Bauzeiten und niedrigeren Gesamtkosten führt. (1)

2226_AT_Valentin_LeinefeldealtDie Auseinandersetzung mit dem Bestand kommt aber nicht nur auf Grund von Zeit- und Kostendruck zu kurz, sondern auch, weil wir ihn zu oft eher als Bürde denn als Chance betrachten. Es kann zwar nicht das Ziel sein, jedes Stück Bestand zu erhalten. Doch eine faire Bestandsaufnahme zu Projektbeginn steht dem bereits Gebauten zu. Aus architektonischer Sicht können hierbei Qualitäten wie historische Bezüge oder Aufenthaltsqualität im Vordergrund stehen. Ingenieur:innen sollten sich fragen, ob man bestehende Fundamente oder andere Bauteile nicht sinnvoll in das Tragwerk einbinden kann. Wäre es nicht einen Versuch wert, beim nächsten Wettbewerb den Bestand ungefragt mitzudenken? Es gibt immer mehr Projekte, in denen dieser Ansatz zum Erfolg führt. (2)

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„Haus 07“ in Leinefelde vor (oben) und nach der Umbaumaßnahme geplant durch Stefan Forster Architekten (3) (Bilder: Fotografie Jean-Luc Valentin)

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Beitrag zur städtebaulichen Transformation der Kleinstadt Leinefelde durch Stefan Forster Architekten. An zahlreichen Orten in Leinefelde wurden typische DDR-Plattenbauten durch selektiven Rückbau, Neuordnung der Wohnzuschnitte und die Ergänzung von Balkonen transformiert. Den spektakulärsten Wandel erfuhr dabei das Gebäude in der Einsteinstraße, wo durch Ausschnitt ganzer Gebäudeteile Stadtvillen mit gänzlich veränderter Wohnqualität entstanden sind. (3)


Was gibt es schon?


Doch den Bestand kann man auch über den Erhalt von Gebäuden hinaus nutzen. Eine Bogenbrücke aus wiederverwendeten Betonblöcken erweitert die Bandbreite effizienter Nachnutzungen eindrucksvoll. Im Rahmen des Forschungsprojektes „reuse of cut concrete“ entstand der Prototyp RE:CRETE Fußgängerbrücke an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Während umfangreicher Sanierungsarbeiten eines Gebäudes wurden Wandstreifen aus Stahlbeton aus dem Bestand geschnitten und mit Hilfe des Prinzips der Vorspannung zu einer funktionierenden Fußgängerbogenbrücke umgenutzt. (4)

Dass selbst Bauteile, die zuvor im Hochbau eingesetzt waren, auch in völlig anderen Tragstrukturen wie Brücken wieder eingesetzt werden können, zeigt, wie weit Recycling, Um- und Nachnutzung von Bauteilen und Baustoffen gehen und wie weit man sich dabei von der bisherigen Nutzung lösen kann.

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Ausschnitt der Betonelemente (links) und Endergebnis des Re:crete Fußgängerbrückenprototyp (rechts) im Xploration Lab, EPFL, Schweiz (4). (Bilder: EPFL)

Auch wenn Gebäudestrukturen nicht direkt als Bauteil nachnutzbar sind, können sowohl Betonbauteile als auch Mauersteine die Recyclingquoten von Bau- und Betonstahl erreichen. Stahl wird in Europa zu mehr als 80 Prozent (5) im Bau wiederverwendet. Wird Beton vom Stahl getrennt und gebrochen, kann er – auf unterschiedliche Kornfraktionen gemahlen – ebenfalls wieder als rezyklierte Gesteinskörnung in neuen Betonbauteilen eingebaut werden. Man spricht dann von RC-Beton (recycled concrete). Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Umweltstation der Stadt Würzburg, deren Decken und Wände mit rezyklierter Gesteinskörnung aus dem Beton einer abgerissenen Autobahnbrücke errichtet wurden. (6)

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Umweltstation Würzburg – Decken und Wände mit rezyklierter Gesteinskörnung einer abgerissenen Autobahnbrücke (6) (Bild: Stefan Meyer)

Bauteile bis auf die Basis der Grundwerkstoffe (Gesteinskörnung, Sand) zu rezyklieren, erweitert die Optionen der direkten Wiederverwendung. Welche Form des Recyclings am besten geeignet ist, hängt von der jeweiligen Planungs- und Bauaufgabe ab. Dennoch muss RC-Beton regional eingesetzt werden, damit die zusätzlich erforderliche Energie für den Materialtransport nicht den Vorteil der Ressourcenersparnis wieder zunichte macht.

Wie geht es weiter?


Um in Zukunft noch besser mit der gebauten Umwelt interagieren zu können, sollten wir heute so planen, dass künftig möglichst viel Bausubstanz mit minimiertem Energieaufwand wiederverwendet werden kann. Neben einer geeigneten Wahl der Baustoffe ist auch eine mehrfache Nachnutzung durch Austauschbarkeit von Bauteilen oder Ergänzungsmöglichkeiten in der bestehenden Tragstruktur mitzudenken, zu planen und zu bauen.

Die Nutzungsdauer von Gewerbebauten wie beispielsweise Supermärkten beträgt oft nicht mehr als 30 Jahre. Hier muss eine Nachnutzung als potenzieller Wohn- oder Arbeitsraum oder eine direkte Mehrfachnutzung der überbauten Grundfläche mitgedacht werden. Sind Aufstockungen leicht umsetzbar, lassen sich in geschlossene Wandflächen der Verkaufs- und Lagerräume nachträglich Fenster integrieren?

Bei der Berücksichtigung der mitgedachten Nachnutzung ist allerdings auch Vorsicht geboten. Im Betonbau darf dieses Argument nicht unreflektiert zu massigen Bauten mit großen Spannweiten führen, wie es von einigen gefordert wird. Denn dabei begeht man nicht nur den dramatischen Fehler, heute große Massen an Beton zu verbauen, die viel CO2 emittieren. Sondern man erliegt auch dem Fehlschluss, den Wandel von morgen vorherzusehen und „für die Ewigkeit“ bauen zu können.


Ist Beton die beste Lösung?


Doch nicht immer können wir mit Bestehendem arbeiten. Wo neu gebaut wird, ist die Materialfrage entscheidend. Beton als Baustoff zu wählen, ohne mögliche Alternativen zu prüfen, ist vor allem bequem. Denn die Liste seiner Eigenschaften, die ein komfortables Bauen ermöglichen, ist lang: Beton ist frei formbar, schnell aushärtend, pumpfähig, robust, billig.

Eine der wichtigsten Entwurfsaufgaben zu Beginn einer Planung ist, die Baustruktur nach formalen, funktionalen und konstruktiven Gesichtspunkten zu ordnen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Primärsystem als Tragwerk, dem Sekundärsystem für Gebäudehülle und raumbildenden Ausbau sowie dem Tertiärsystem für Ver- und Entsorgung und technischen Ausbau. Auf dieser Basis kann eine erste Vorauswahl der Baustoffe erfolgen (7), die im fortschreitenden Entwurfsprozess stetig hinterfragt und wenn nötig nachjustiert werden muss.

Hier liegt ein Problem unserer gegenwärtigen Planungskultur: Unter Zeit- und Kostendruck bleibt nur wenig Raum für sauber differenzierte Lösungen, und Beton übernimmt zu oft als erprobtes Allzweckmittel Aufgaben, für die er nicht prädestiniert ist. Deswegen ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Architekt:innen und Bauingenieur:innen unabdingbar. Nur wenn beide offen für den fachlichen Diskurs sind, ist der Weg zu sinnvollen alternativen Materialien und Tragstrukturen offen.

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Vergleich der grauen Emissionen eines Brückenentwurfs für verschiedene Materialien 
(Spannweite: 12 Meter, Nutzlast: 5 kN/m²; Ökobilanz für Module A-D) 
(Quelle/Darstellung: Lars Feller, schlaich bergermann partner)

Für zahlreiche Bauteile gibt es bereits durchdachte Lösungen, die Beton ohne weiteres ersetzen können. Deckensysteme aus Holz und Holzverbund sind leicht, tragfähig und erfüllen alle bauphysikalischen Anforderungen. Stützen aus Naturstein bieten hohe Festigkeiten bei energetisch geringem Herstellungssaufwand. Lehm bietet als Ausfachung und für niedrig belastete Wände eine Lösung mit außergewöhnlich gutem Raumklima. Weitere Materialien wie Bambus, Myzelium und andere warten nur darauf, ihr Potenzial in der Praxis zu entfalten. Die Beispiele sind nicht auf den Hochbau beschränkt, wie das gute Abschneiden der Holzbetonverbundvariante im Vergleich dreier Querschnitte für eine Fußgängerbrücke zeigt (Bild oben).

In manchen Bauteilen brauchen wir aber auch in Zukunft Beton aufgrund seiner günstigen statischen und bauphysikalischen Eigenschaften. So ist Beton sehr druckfest, nicht brennbar und nicht feuchteempfindlich. Beispielsweise aus Gründungsbauteilen wie Fundamenten oder Bohrpfählen ist er bis auf Weiteres nicht wegzudenken. Deswegen müssen wir ihn dort einsetzen und verbessern, wo er nicht ersetzt werden kann.


Wieviel ist viel?


Doch selbst dort, wo im Tragwerk Beton oder andere emissions- und ressourcenintensive Baustoffe wirklich gebraucht werden, sind wir noch weit von einer materialeffizienten Bauweise entfernt. Ein Grund dafür ist, dass Planende unter hohem Druck stehen, wirtschaftlich zu bauen. Das führt dazu, dass klobige und inneffiziente, aber schnell plan- und baubare Konstruktionen wie die Flachdecke sinnvollen Alternativen vorgezogen werden. Auch die Innovationsfähigkeit unserer Branche leidet darunter. Denn selbst wenn wir ein deutlich effizienteres Deckensystem wie Schalen- oder Kassettendecken mit etwas Übung genauso günstig planen und bauen könnten, ist der Weg dorthin oft zu teuer.

Zudem ist Beton viel zu günstig – günstiger als Wasser! Seine Umweltauswirkungen werden nicht eingepreist. Das führt zu großer Materialverschwendung entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ist Arbeitszeit der Planenden teurer als das Material, so muss geklotzt werden, lohnen sich „Angstreserven“, anstatt die Tragwerke planerisch so zu durchdringen, dass sie sinnvoll und elegant ausgeformt werden können. Auf der Baustelle wird die Geschossdecke gerne zwei Zentimeter dicker als geplant gegossen, und im Fertigteilwerk fließt der emissionsintensivere Beton in die Schalung, weil mehrere Betongüten in einem Werk als Risiko wahrgenommen werden.

Wir haben das Gefühl dafür verloren, wieviel viel oder wenig ist. Uns fehlt die Erfahrung damit, sparsam zu entwerfen und die Umweltauswirkungen unserer Bauten zu verstehen. Es reicht nicht, Renderings mit Bäumen zu verschönern. Wir sollten die Lebenszyklusanalyse (LCA) als ehrliche Bestandsaufnahme in unsere tägliche Planungsarbeit integrieren. Wird dies mit verständlichen Rating-Systemen kombiniert, die die grauen Emissionen erfassen, wie etwa SCORS (8), können wir schnell ein Gefühl dafür entwickeln, ob es sich um eine eher materialeffiziente Konstruktion handelt oder nicht.

Im Entwurfsprozess gibt es eine Reihe von materialunabhängigen Maßnahmen, die helfen, Baustoffmengen in großem Umfang zu reduzieren. Preist man die Umweltauswirkungen der Baustoffe in Zukunft ein, lassen hierdurch auch Baukosten in erheblicher Menge sparen. Die eigentliche Herausforderung ist es, die Bauherrschaft von einem sinnvollen Tragwerk zu überzeugen. Die wohl wichtigsten konstruktiven Hebel für ein günstiges Tragverhalten bestehen darin, Stützweiten zu begrenzen, einen möglichst geradlinigen vertikalen Kraftfluss zu gewährleisten, und die Alternativen in den Tragsystemen für die Gründung und die Decken abzuwägen. Ist die Bodenplatte notwendig, oder reicht ein Streifenfundament, oder ist eine Pfahlgründung erforderlich? Könnte eine Kassetten- oder eine Schalendecke statt einer Flachdecke verwendet werden?

In einer anschaulichen Studie (9) vergleicht das internationale Ingenieurbüro Buro Happold anhand solcher und weiterer Entscheidungen, was es für ein Gebäude bedeutet, es in Beton-, Stahl- oder Holzbauweise zu errichten – mit überraschendem Ergebnis. Zunächst erzeugt ein Stahlverbund- oder Stahlbetonbau, wie er heute gebaut wird, deutlich mehr Emissionen als ein vergleichbarer Holzbau. Optimiert man jedoch alle drei Systeme so weit wie möglich, unterscheiden sich deren grauen Emissionen nur noch marginal: Bei einem ingenieurmäßig optimierten Tragsystem spielt die Wahl des Baustoffs also eine untergeordnete Rolle!

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Maßnahmen zur Reduzierung der Grauen Emissionen für verschiedene Deckensysteme (eigene, reduzierte Darstellung nach (9), eigene Übersetzung)

Das bedeutet allerdings nicht, dass natürliche und nachwachsende Materialien kein wirkungsvolles Mittel sind, graue Emissionen deutlich zu reduzieren. Dass diese Materialien gegenüber Beton oft noch nicht wettbewerbsfähig sind, zeigt, dass die aktuelle Bepreisung der Baustoffe nicht im Sinne einer zukunftsfähigen Gesellschaft ist. Würden die während der Herstellung verursachten CO2-Emissionen korrekt berücksichtigt, könnte Beton seine Rolle als Hochleistungsbaustoff spielen, geeignete Alternativen könnten ihn als Massenbaustoff ablösen.


Wann beginnt die Zukunft?


Wann kommt die Zeit, in der Maßhaltigkeit und Sinnhaftigkeit wieder in den Fokus unseres Bauens treten? Beginnen sollte sie heute. Auch wenn wir in einem fertiggebauten Land leben, so sind unsere Baukultur und Bautechnik Vorbilder und Inspiration für ebenjene Länder, deren Nachfrage nach Infrastruktur in den nächsten 50 Jahren einen internationalen Bauboom auslösen wird. Deswegen ist jeder noch so kleine Schritt in die richtige Richtung wichtig.


(1) Making sustainable refurbishment of existing buildings financially viable, in: Burton S. (ed.) Sustainable retrofitting of commercial buildings: Cool climates, Abingdon: Routledge, 2015
(2) https://www.istructe.org/journal/volumes/volume-98-(2020)/issue-11/introduction-to-refurbishment-feasibility-stage/
(3) https://www.sfa.de/de/projekte/haus-07/
(4) https://www.epfl.ch/labs/sxl/index-html/research/reuse-of-concrete/
(5) https://ecoinvent.org/the-ecoinvent-database/
(6) https://www.beton.org/service/presse/details/gebaeude-aus-recyclingbeton/
(7) José Luis Moro, Baukonstruktion vom Prinzip zum Detail – Band 1 – Grundlagen, Springer Vieweg 2019
(8) https://www.istructe.org/IStructE/media/Public/TSE-Archive/2020/Setting-carbon-targets-an-introduction-to-the-proposed-SCORS-rating-scheme.pdf,
(9) https://www.istructe.org/resources/case-study/embodied-carbon-structural-sensitivity-study/