Kaum ein Thema ist derzeit so präsent wie Nachhaltigkeit. Die Fragen rund um Architektur in Stadt und Land in Zeiten des menschengemachten Klimawandels beherrschen den Großteil aller derzeitigen Panels. Das führt mitunter zu überraschenden Volten, wenn man betrachtet, wer angeblich nachhaltige Bauten realisierte – und doch das gleiche tut wie seit jeher, nur eben inzwischen eine andere argumentative Rahmung dafür gefunden hat. Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch: Neubau aktiviert Kohlendioxid, verbraucht materielle Ressourcen, negiert allzu oft Ort und Identität, versiegelt Boden. Alles spricht für eine radikale Hinwendung zu Baustoffen, die CO2 binden, und jenen Bauwerken, die bereits da sind: In den Gebäuden der Vergangenheit liegt die Zukunft.
Bereits vor zwei Jahren kam eine Netzwerkarbeit der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) zu ihrem Abschluss, die sich den „jüngeren Baubeständen“ widmete, also der Architektur, die von der Denkmalpflege oft noch nicht diskutiert und unter Schutz gestellt wird. Oder Bauten, die mitunter schlecht beleumundet sind, manchmal aber auch nur von Einzelpersonen in entscheidungsfindenden Gremien als „nicht schön“ abgeurteilt werden und ob jahrzehntelanger systematischer Nichtbeachtung und folglich mangelnder Pflege dann tatsächlich in mitunter bemitleidenswertem Zustand anzutreffen sind. Dabei sind sie oft zentrale Bausteine der gebauten Umwelt in Stadt und Land. Stadthallen, Schwimmbäder, Rat- und Bürgerhäuser, große Wohnkomplexe und Büroanlagen. In ihnen ist zum einen sogenannte „graue Energie“ gespeichert – jene Leistungen, die aufgebracht werden mussten, um sie zu errichten und die für sie notwendigen Bauteile herzustellen.
Diese Bauten haben sich zum anderen aber im Laufe der Jahre in unsere kollektiven und individuellen Gedächtnisse eingeschrieben, in ihnen haben sich Geschichten angelagert, die wir in und mit ihnen erlebt haben. Durch unsere Erinnerungen sind diese Bauwerke so auch zu Trägern „sozialer Energie“ geworden.
Reißen wir solche Häuser allzu unbedacht ab, aktivieren wir nicht nur physikalische Energie, die meist als Wärme wieder dem Kreislauf zugeführt wird – sprich: die Erdatmosphäre weiter anheizt und so zum menschengemachten Klimawandel beiträgt –, sondern vernichten auch Erinnerungen und Stadtgeschichte.
Zum Abschluss also jener DFG-Netzwerkarbeit trafen sich 2022 in Augsburg unterschiedliche Akteur:innen, um die Ergebnisse der Forschungen zu diskutieren. Begleitend erschien dazu ein ebenso vielschichtiges wie lesenswertes Buch im Jovis-Verlag, das von Olaf Gisbertz, Mark Escherich, Sebastian Hoyer und Christiane Weber herausgegeben wurde: „Reallabor Nachkriegsmoderne“. Schon der Titel macht das ganze Potenzial der Hinwendung zum Bestand deutlich. Mit und am Bestand kann auf vielen Ebenen experimentiert werden. Sowohl hinsichtlich planerischer und gestalterischer Prozesse, also auch mit Blick auf Nutzungen und die konkreten architektonischen Interventionen. Im Buch kommen Grundlagentexte, die das Thema auf der Metaebene beschreiben, zusammen mit konkreten Architektur- und Vorhaben-Beschreibungen. Es entsteht eine wohltuende Mischung, die zum „festlesen“ einlädt, ohne dass die Publikation in Gänze und von vorne nach hinten abgearbeitet werden müsste.
Grundlegendes, Konkretes und Übergeordnetes
Ausgehend von ihrem Beitrag zum Wettbewerb Europan 16 haben Barbara Weber und Laurenz Berger im Berliner Verlag Ruby Press die Publikation „Zukunft Bestand – Ökosoziale Transformation von Wohnhausanlagen“ vorgelegt. Auf gut 200 Seiten legen sie anhand von zwei Fallbeispielen dar, wie Wohnsiedlungen für die Herausforderungen unserer Zeit fit gemacht werden können. Dankenswerterweise machen die beiden, die unter dem Label „Projekt“ auch als Architekturbüro agieren, von Beginn an klar, dass diese Herausforderungen sich nicht nur in rein quantifizierbaren Datenmengen von Primär-, Sekundär- und grauer Energie ergehen, sondern auch soziale Belange betreffen. Also, ob Wohnraum für unterschiedliche Einkommensklassen zur Verfügung steht, ob er in der passenden Größe erreichbar und wie zugänglich er ist, sprich, mit welchen Barrieren.
Anhand der Wohnhausanlage Siebenbürgenstraße in Wien und der Siedlung Froschberg in Linz stellen Berger und Weber eine Reihe von Maßnahmen vor, die auch auf andere Orte und vergleichbare Anlagen übertragbar sind. Wo die Linzer Siedlung aus den 1920er- bis 1950er-Jahren in Ziegelbauweise errichtet wurde, wurde das Wiener Projekt in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Betonfertigteilen realisiert. Beide Konstruktionsweisen finden sich in zahllosen Wohnhaus-Ensembles in ganz Mitteleuropa, die allermeisten dieser Siedlungen sind mit einem oder mehreren der hier thematisierten Problemen konfrontiert: fehlender barrierefreier Zugang, notwendige Erweiterbarkeit, um neuen, möglichst nicht teuren Wohnraum zu schaffen, fragliche Energieversorgung und Dämmstandard. All das muss geändert werden, am besten, ohne den Bestand abzureißen oder aufwendige Ein-, Um- oder Auszüge der Bewohnenden zu provozieren.
Alle notwendigen Zahlen und Fakten werden präzise aufgeführt, die architektonischen Operationen mit Daten und Kennzahlen hinterlegt. Durch die kluge Auswahl der Beispielsiedlungen sind diese Maßnahmen adaptierbar und können mit Anpassungen auf den jeweiligen Ort auf diverse Siedlungen der europäischen Vor- und Nachkriegsmoderne übertragen werden.
Wenn schon neu, dann richtig
Es gibt heute – und wird sie auch in Zukunft geben – jene Fälle, in denen Neubau unumgänglich ist. Die Bedrohungslage des Klimawandels aber gilt es ernst zu nehmen, auch wenn nach wie vor viele Personen in Verwaltung, Planung und Immobilienwirtschaft nicht so handeln, als sei ihnen das bewusst. So ist die Ergänzung des Gebäudebestands im Großen wie im Kleinen mit natürlichen Baustoffen ein Schritt, der ebenso logisch ist, wie er auch von der Verantwortungsübernahme von Bauherrschaft auf der einen und Architekt:innen auf der anderen zeugen könnte.
Im Rahmen der Edition Detail liegt eine Sammlung von gebauten Beispielen vor, die zeigt, was mit natürlichen Baustoffen möglich ist. Manches davon kennen beflissen Beobachtende womöglich schon, anderes jedoch vielleicht auch nicht, vor allem aber ist es die Zusammenschau, die hier überzeugt. Das rund 350 Seiten umfassende Buch trägt 30 realisierte Gebäude zusammen und gliedert sie der Größe nach: kleiner als 400 Quadratmeter Grundfläche, 400 bis 2.000 und größer als 2.000 Quadratmeter Grundfläche. Entsprechend lautet der Titel auch „Naturbaustoffe S M L“. Einfamilienhaus, Schule, Kindergarten, Seniorenwohnen, Wohnsiedlung, Besucher- oder Kulturzentrum, Bürobau oder Schwimmbad: typologisch ist auch mit Naturbaustoffen offenkundig alles möglich. Zweites Pfund dieser Sammlung ist ihre „Technologieoffenheit“, sind hier doch Lehm, Reet, Holz, Stroh, Kork, Bambus, Seegras und Naturstein gleichermaßen vertreten.