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Anleitung zum glücklichen Bauen

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„Erde ist Heimat“ – Anna Heringer arbeitet bei ihren Projekten stets handwerklich mit. (Bild © Klara-Fehsenmayr)

Bauen mit Lehm heile nicht nur den Planeten, sondern auch unsere Gesellschaft, ist Anna Heringer überzeugt. Das Buch „Form Follows Love“ der Architektin, die in Bangladesch und Afrika aber auch in Europa baut, sollten alle Architekt:innen lesen, da es Zuversicht schenkt und – Achtung: Kitschalarm – das Herz erwärmt.

Der Titel des neuen Buchs von Anna Heringer berührte mich sofort: „Form Follows Love“. Da traut sich jemand, das Diktum der Moderne süffisant zu brechen – und das auch noch mit einem Begriff, der in der Architekturwelt in der Dekokitsch-Ecke anzutreffen ist: Liebe. Kurze Zeit später landete das Buch auf meinem Tisch – wie oft bei Journalist:innen, in der Hoffnung des Verlages, sie mögen es doch rezensieren. Aber schon wieder eine Monografie? Ehrlich gesagt, reizte mich das nicht besonders – schon gar nicht von bereits bekannten Architekt:innen, über die schon alles publiziert wurde. Was kann man da noch Neues erzählen?

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Anna Heringer und Dominique Gauzin-Müller: Form Follows Love. Intuitiv Bauen – von Bangladesch bis Europa und darüber hinaus. 160 Seiten, Deutsch, gebunden, 17 × 24 cm, 61 farbige Abbildungen, 38 Euro
Birkhäuser, Basel, 2024
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Lektionen der Genügsamkeit

Als ich dann im Buch blättere und Kapitelüberschriften lese wie „Über das Glücklichsein“, „Lektionen in Genügsamkeit“ und „Frauen stärken“, denke ich allerdings: Ok, hier geht es nicht nur um Architektur. Und so ist es auch. Das Buch erzählt die ganze Geschichte von Anna Heringer – mit Betonung auf „ganze“: Die Geschichte einer Architektin aus dem kleinen Ort Laufen in Oberbayern, die auszog, um die Welt zu verändern. Die ihr Motto „Architecture is a tool to improve lifes“, das sich wohl alle Architekt:innen an die Brust heften, wirklich lebt. Die ihre Ideale von einer lebenswerteren, sozialeren und ökologisch gerechteren Welt, in der es mehr Miteinander und Genügsamkeit gibt, vor allem durch Bauen mit Lehm umsetzt.

In ihrem Buch verwebt Anna Heringer ihre privaten Erfahrungen, ihre Werte und Haltungen mit ihrer Praxis als Architektin, denn das ist untrennbar miteinander verbunden. Man bekommt einen sehr persönlichen Einblick in das Leben der Anna Heringer. Sie selbst zögerte zunächst, ihr Privates auszubreiten, heißt es im Epilog, doch Co-Autorin und Freundin Dominique Gauzin-Müller ermutigte sie dazu.

Der Missing Link: Lehm

Anna Heringer wurde schon in eine Familie hineingeboren, die sich für Frieden und Gerechtigkeit, für Umweltschutz und soziale Fürsorge einsetzt. Ihr Vater ist Landschaftsökologe, ihre Mutter Kinesiologin und Musiklehrerin. Kurz nach dem Abitur ging Anna Heringer nach Bangladesch – ein Schritt, der ihr Leben verändern sollte. Zurück in Europa, studierte sie an der Kunstuniversität Linz Architektur; war aber nicht zufrieden mit dem was sie perspektivisch machen sollte – als weiteres Rädchen im Architekturbetrieb womöglich Hochglanzbauten produzieren? Zufällig bot sich ein Workshop beim Lehmbaupionier Martin Rauch aus Vorarlberg an – als sie die Hände in den Lehm steckte, wusste sie: Das ist ihr persönlicher Missing Link. Daraufhin überarbeitet sie ihre Diplomidee und entwarf ein Schulgebäude in Rudrapur in Bangladesch, also dem Dorf, das ihr die Augen für die Schönheit und den „Reichtum“ der vermeintlich „armen“ Gesellschaft des globalen Südens nähergebracht hat, so erzählt Heringer.

Bauen in Bangladesch

 

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Die Höhle ist ein wiederkehrendes Element bei Anna Heringer – wie hier in der „METI School“ in Bangladesch. (Bild © Peter Bauerdick)

Die „METI School“ aus Lehm, Stroh und Bambus ist Anna Heringers Erstlingsprojekt, das sie zusammen mit Eike Roswag-Klinge umgesetzt und das sie schnell in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gerückt hat. Heringer erhielt zig Preise dafür, allen voran den renommierten „Aga Khan Award“ im Jahr 2007 – da war sie gerade 29 Jahre jung. Die Herausforderung beim Bau der „METI School“ war nicht so sehr, dass sie aus Europa kam, sondern, dass sie die Menschen vor Ort überzeugen musste, mit Lehm zu bauen, denn er wird dort wie fast überall im globalen Süden als „armes Material“ verstanden, obwohl er landestypisch ist. Wer es sich dort leisten kann, der schaut auf den Westen und baut mit Ziegeln und Stahlbeton, schreibt sie.

„local ressources, local power und global competence”
Doch Anna Heringer beweist das Gegenteil mit der „METI School“ und vielen weiteren Bauten in Bangladesch/Rudrapur und später dann in China und Afrika/Ghana: Ihre Bauten aus Lehm sind unglaublich schön, ausdrucksstark, fantasievoll und lebensbejahend. Das entstehe, so erklärt sie im Buch, wenn man „local ressources, local power und global competence” zusammenbringe. Vor allem beleuchtet Heringer den Prozess des Bauens – die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, die mit der Arbeit am Bau nicht nur Geld verdienten, sondern auch dazulernten und sich stark mit den Gebäuden ihrer Gemeinde identifizierten.

„Schönheit ist eine Notwendigkeit. Etwas schön zu machen, bedeutet, es mit Liebe zu machen.“
Anna Heringer

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Beim Claystorming knetet Anna Heringer das erste Modell für einen Entwuf aus Lehm. (Bild © Alizée-Cugney)

Claystorming

Lehm als Material, das handwerklich verarbeitet wird, bringt dies alles zusammen. „‘Humiltas‘ – das lateinische Wort für Demut – und das Wort ‚human“ haben ja denselben etymologischen Ursprung: Humus, Erde“, lehrt sie uns. Bauen mit Lehm heile nicht nur Gemeinschaften und Gesellschaften, schreibt Anna Heringer, es heile auch die Natur. Lehm sei überall vorhanden und verursache nicht wie Beton etwa CO2-Emission, brauche wenig Energie bei der Herstellung. Er sei vollkommen wiederverwendbar- und abbaubar, erzählt Anna Heringer voller Enthusiasmus. „Und am Ende kann man wieder Bäume drauf pflanzen.“ Bemerkenswert ist auch die Claystorming-Methode, mit der sie den ersten Entwurf eines Gebäudes aus Lehm knetet.

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Mit dem Projekt Dipdii Textiles stärkt Anna Heringer Frauen in Bangladesch. (Bild © Fabio Marcato)

Female Empowerment

Besonders am Herzen liegt ihr die Arbeit mit Frauen, die gerade im globalen Süden noch weit entfernt sind, gleichberechtigt behandelt zu werden. Um sie zu empowern, bindet sie Frauen in die Bauprojekte ein, hat sie Dipdii Textiles in Bangladesch gegründet: Wer Anna Heringer trifft, wird sie meist in diesen Kleidern erleben. Die von den Dipshikha-Schwestern genähten Stoffe aus gebrauchten Saris werden nach Laufen gesendet, wo Modedesignerin Elke Burmeister Kleidungsstücke und Interior-Objekte daraus fertigt. Heringer fordert: Die Welt brauche mehr weibliche Intuition und weniger männliche Effizienzstreben – denn letztes habe auch zum Klimanotstand geführt.

Verzeihung für die Moderne

In ihren Vorträgen wird sie auch schon mal deutlich – so bei der Verleihung des „Obel Award 2020“ in Kopenhagen: „Als Architektin aus dem globalen Norden bitte ich den globalen Süden und den Planeten von ganzem Herzen um Verzeihung dafür, dass wir ein Ideal von Architektur geschaffen haben, das uns ein einfaches, bequemes, stressfreies, sicheres, gesundes und glückliches Leben bescheren soll, während wir in Wirklichkeit massiv zu sozialer Ungerechtigkeit beigetragen haben, indem wir uns durch Ausbeutung und Vergewaltigung der Erde noch reicher gemacht und mit unserem Beruf einen dramatischen Klimawandel verursacht haben.“

Reflektion und Krisen

Natürlich lässt sich vieles bei Anna Heringer in Frage stellen. Ist ihr Tun nicht eine Form von „white colonialism“? Wo bleibt der Fortschritt bei all dem romantischen Rückgriff auf archaische indigene Baukulturen? Wie kann man solche Lehmbauten in Europa hoch skalieren? Und ist das alles nicht etwas zu sehr heile, träumerische Welt? Anna Heringer hat sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt, ihr eigenes Tun kritisch reflektiert – und ist daran auch gewachsen. Offen erzählt sie im Buch über Krisen und Rückschläge.

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Vom Globalen Süden lernen: Lehmbau für das RoSana Ayurvedazentrum in Rosenheim von Anna Heringer und Martin Rauch. (Bild ©Gabrical)

Lernen vom Globalen Süden

Lange Zeit wollte sie nicht in Europa bauen, gibt sie zu, denn das sei „frustrierend“. Zu viele Normen und die Omnipräsenz der Baulobby hielten sie davon ab. Doch sie wusste, dass sie auch hier den Beweis antreten musste, dass man anders und besser bauen kann. So hat sie etwa ein Nebengebäude des RoSana Ayurveda-Zentrum in Rosenheim mit ihrem Team und Martin Rauch aus Holz und Lehm umgesetzt. Anna Heringer fordert vehement, dass wir im globalen Norden vom globalen Süden lernen müssen. Etwa, dass nicht alles zu 100 Prozent perfekt zu sein habe und dass Glück nicht aus Materiellem entstehe, sondern aus der Genügsamkeit mit den Dingen, die wir haben. In Bezug auf das Bauen mit Lehm, das hierzulande teuer ist, weil es vor allem bei Stampflehm viel Manpower benötigt, sagt Anna Heringer zurecht, dass wir endlich Kostenwahrheit für Materialien brauchen.

Zuversicht und Liebe

Anna Heringer ist eine Ausnahmeerscheinung in der Architekturlandschaft. Eine Superheldin des Alltags, weil sie Veränderung im Kleinen bewirken will und alles dafür gibt. Ihre Energie und ihr Optimismus sind ansteckend, ihre Werte, die sie mit sanfter Radikalität formuliert, sind beeindruckend. Und auch wenn man vielleicht nicht gleich morgen anfängt Lehm zu stampfen, so kann Anna Heringer als Inspiration dienen. „Form Follows Love“ sollten alle Architekt*innen lesen, da es Zuversicht schenkt und – Achtung: Kitschalarm – das Herz erwärmt. Denn das brauchen wir ganz enorm in dieser Zeit. Ein Zitat von der indischen Schriftstellerin und Architektin Arundhati Roy kam mir am Ende der Lektüre von „Form Follows Love“ von Anna Heringer in den Sinn: „Eine neue Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon am Entstehen. An einem stillen Tag kannst du sie atmen hören.“