Er hat mal wieder den Vogel abgeschossen. Volker Wissing, der FDP-Minister. Tempolimit auf Autobahnen und Landstraßen, Tempo-30-Zonen auf allen Straßen in allen Innenstädten: Will er nicht, macht er nicht. Die FDP-Wählerschaft ist die der freien Fahrt für freie Bürger. Seine schlimmste Drohung, die diese Wählerschaft hinter der FDP (derzeit wäre sie lt. Umfragen nicht im Bundestag) versammeln soll: Fahrverbote! Das Klimaschutzgesetz befreit mit einem der faulsten politischen Kompromisse seit Jahren Wissings Ministerium von allen Verpflichtungen.
Nous accusons …
Man könnte den Minister, der seine Regierungskollegen dazu nötigt, sein Ministerium von Klimaschutzvorgaben zu befreien, vielleicht verklagen. Denn blicken wir in die Schweiz: Schweizer Klimaseniorinnen haben mit einer „Klimaklage“ am 9. April 2024 einen wahrlich „historischen Sieg“ errungen.1) Dann mal los.
13 Milliarden Dividenden
Die deutschen Autokonzerne Mercedes, BMW und VW schütten in diesem Jahr 13,85 Mrd. Euro Dividenden aus.2) Statt durchweg in umweltfreundliche Autos und Verkehrskonzepte zu investieren, schieben die Autokonzerne diese Milliarden auf private Konten – und investieren in Lobbyarbeit für alte Verbrenner. Sie lamentieren in lobbygesteuerten Ministerien rum und fordern obendrein Subventionen und Unterstützungen aller Art: Dieselsubventionierung, Entfernungspauschale, Dienstwagenprivileg, Tankrabatte und sehr vieles mehr. Daran rüttelt einer wie Volker Wissing nicht, dem sein Parteifreund Lindner im Nacken sitzt. Mehr noch: Mit dem Wachstumschancengesetz zeichnet sich ein weiterer Steuervorteil für teure und ökologisch schädliche Hybriddienstwagen ab, die gleich besteuert werden müssten wie Verbrenner.
Die Kürzung der genannten und anderer Subventionen beliefe sich auf mindestens 17 Mrd. Euro – kostenfreier ÖPNV für alle im Land würde den Staat 12 bis 15 Mrd. pro Jahr kosten. So hat es das Magazin Focus zusammengestellt, das jeglicher Grünen-Freundlichkeit völlig unverdächtig ist.3) Worauf warten Sie, Herr Minister? Leihen Sie lieber denen ihr Ohr, die von einer Verlängerung der Verbrenner-Motoren raunen? Und schaffen es nicht einmal mehr, ein 49-Euro weiterzuführen?
Die Macht der Autokonzerne
Sie manifestierte sich kürzlich auch in einer Erscheinungsform, die ich in meinem vierzigjährigen Presse-Dasein nicht für möglich gehalten hätte. Sowohl die Süddeutsche Zeitung als auch die Frankfurter Allgemeine hatten Ende März 2024 nicht etwa eine Titelseite, auf der das Weltgeschehen in Schlagzeilen erkennbar gewesen wäre. Nein, beide lagen mit einer ganzseitige Titelanzeige von Audi auf dem Tisch, die das rein elektrisch betriebene Modell Q6 anpriesen. Das Straßenmonster gibt es ab 74.700 Euro, in der Variante SQ6 ab 93.800 Euro. Er verfügt natürlich über den hierzulande nötigen, wüstentauglichen Allradantrieb. Q6 braucht 5,9 Sekunden, um von 0 auf 100 km/h zu kommen, SQ6 nur 4,3 Sekunden. Der SUV ist 4,77 m lang, 1,99 m breit und 1,65 hoch,4) verbarrikadiert also im öffentlichen Raum die Sicht von einer zur anderen Straßenseite und trägt damit zur Unsicherheit im öffentlichen Raum bei. Denn wer auf einem Bürgersteig beispielsweise angegriffen wird oder auf dem holprigen Gehweg stürzt, kann, weil nicht im Blickfeld, von der gegenüberliegenden Seite keine Hilfe erwarten. Hat die Menschheit also auf diese technische Innovation von Audi gewartet? Die im übrigen in keine der herkömmlichen Garagen passt und deswegen im öffentlichen Raum geparkt wird?
Bedarf ein Unternehmen, das solche Stadtraum verschandelnden SUVs baut, eines einzigen Cents Subvention? Wie oft wir schon seit über zwanzig Jahren die stadtraumrelevante Fehlentwicklung der Autoentwicklung kritisiert haben, von Schadstoffen und Lärm aller Art ganz abgesehen, lässt sich kaum noch zählen.5) Und immer wieder betone ich, dass es nicht allein Autokonzerne und PolitikerInnen sind, die diesen Irrsinn propagieren, sondern alle Bürger, die ihn mitmachen und mitfinanzieren.
Schwächlinge und Donnerboys
Die FAS – ebenfalls unverdächtig aller Grünen-Sympathie – hatte kurz darauf auf einer Doppelseite mit aufwändiger Grafik erläutert, was in diesem Kontext ebenfalls rechtlich relevant ist. Der Gesetzgeber müsste seiner Fürsorgepflicht für die schwächsten Verkehrsteilnehmer nachkommen. „Vom Schwächsten her denken“ laute der jahrzehntealte Grundsatz in der Branche. „Erst die Fußgänger, dann alle anderen. Das Auto kommt zum Schluss. In Wirklichkeit ist dieser Grundsatz nichts wert. Bis heute werden Straßen mehrheitlich vom stärksten Verkehrsteilnehmer her geplant. Erst kommt das Auto, dann der Rest.“6) Das beschert uns jährlich rund 3.000 Verkehrstote, es waren in Zeiten vor Sicherheitsgurten mal über 10.000. Gegenwärtig steigen die Zahlen getöteter RadfahrerInnen und Fußgänger überproportional, weil die Autofahrer selbst in gepanzerten Fahrzeugen sicher sind. Rund 75% der Unfälle sind von AutofahrerInnen verursacht. Vor diesem Hintergrund ist es womöglich morbide oder doch etwas zynisch, wie die Wechselwirkung Automobil-Architektur nicht nur historisiert, sondern auch mythisiert wird.7) Ich halte es außerdem für skandalös, dass sogar in der Tagesschau (zum Beispiel am 15. April 2024) angekündigt wird, an welchen Tagen Raser mit Blitzkontrollen rechnen müssen. Es sollte mal juristisch geprüft werden, ob diese Ankündigung rechtlich angefochten werden kann. Schließlich werden so Raser gewarnt, die sich sonst gesetzeswidrig verhalten würden und zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Ich beziehe mich hier dezidiert auf Angaben aus Tages- und Wochenpresse und nicht etwa auf Zahlen, die nur in Verkehrsexpertenkreisen bekannt wären. Wir alle wissen, was hierzulande im Verkehr abläuft, keiner kann sich darauf berufen, nichts von den mitverursachten Fehlentwicklungen wissen zu können. Es sind eben nicht nur „die da oben“, die Wissings und Lindners, die das Verkehrsdrama bewirken. Es sind auch nicht nur die „Donnerboys“, „Gib-Gas-Kameraden“ und die Schwaben mit „Benzin im Blut“.8) Es sind alle Mitmenschen, die ihr eigenes Automobilitätsverhalten nicht hinterfragen. Zudem gibt es aber auch die anderen, solche, die auch ein Manifest der freien Straße zustandebringen.9)
Schreckgespenster und Opfer
Auch die Autokonzerne könnte man nun, nähme man es mit dem lebensbedrohlichen Klimawandel und seinen Folgen für Land und Leute ernst, juristisch angehen. Denn ihre wirtschaftliche Prosperität nutzen sie zum Schaden der Umwelt und der in ihr lebenden Menschen, denen, siehe die Schweizer Klimaseniorinnen, ein „Opferstatus“ zuerkannt werden kann.
Hedwig Richter und Bernd Ulrich haben in ihrem neuen Buch Demokratie und Revolution – Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit unmissverständlich die ökologische Selbstzerstörung der Demokratie als Tatsache angesprochen und die Verantwortung der Politik dafür analysiert.10) Dass Extremisten und Populisten ihren Anteil an der Misere haben, ist das Eine. In einer Rezension wird zudem zusammengefasst: „Gravierender noch wirkt sich aus, wenn auch innerhalb des demokratischen Spektrums entschiedene Politik für die Klimaziele als eine Art Menschenrechtsverletzung dargestellt wird, aus taktischen Motiven der Parteipolitik“.11) Womit wir wieder bei der FDP wären. Die Autorin Hedwig Richter – Professorin für Geschichte an der Bundeswehruniversität München – hat in der FAZ am 18.4.2024 nachgelegt: „Die FDP steht für so viel mehr als für ihre drei bis vier Prozent Wähler. Sie ist das hässliche Unterbewusstsein der Deutschen, das permanent das vernünftige Über-Ich torpediert.“
Ist es der Irrsinn der Verzweiflung, mit derzeitiger Wählerzustimmung nicht mehr in den Bundestag zu kommen, der den Minister treibt? Der ihn Schreckgespenster wie ein „Fahrverbot“ in die Öffentlichkeit jagen lässt?
Weil die Milliarden an Autodividenden und Subventionen perdu sind, fehlt das Geld unter anderem für die Infrastruktur, die für eine Verkehrswende und ohnehin gebraucht wird. Da ist nun von einem „Infrastrukturfonds“ die Rede, mit dem private Gelder eingesammelt werden sollen. Private Investoren fordern: Rendite. Zudem steht in Wissings Modell nicht fest, welche Verkehrsträger etwas aus dem Fonds bekommen. Es wird zu recht befürchtet, dass die Autokonzerne als erstes auf der Matte stehen – besser wäre ein Fonds explizit für die Bahn und den ÖPV – was Wissing erklärtermaßen nicht will. Haushaltspolitiker monieren obendrein, dass mit einem solchen Fonds die parlamentarische Mitbestimmung unterwandert werde.
Paris und andernorts: Das Auto kommt zuletzt
Es hat wenig Sinn, Stadt- und Quartiersplanung voranzutreiben, ohne das Auto klar in die Schranken zu weisen. Das geht! Nicht nur Jan Gehl hat es in Kopenhagen gezeigt. Vor kurzem war ich mal wieder in Paris. Dort habe ich Mitte der 1980er Jahre mal gewohnt, und ja: Der Verkehr machte damals aus Paris teils eine stinkende Hölle für Fußgänger und Radfahrer. Maßgeblich ist es Bürgermeisterin Anne Hidalgo zu verdanken, dass hier etwas gelungen ist, was sich jetzt – beschleunigt durch Olympiadevorbereitungen – als Segen erweist. Ein Beispiel: Wenn man bedenkt, dass die schönen Aufenthaltsräume an der Seine vor gar nicht so langer Zeit Stadtautobahnen waren, ahnt man die Dimension des Stadtumbaus im Sinne der Auto-Rückdrängung. Knapp waren die Abstimmungen im Februar 2024, als es um drastische Parkgebührerhöhungen ging. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren und Hybridantrieben ab einem Gewicht von 1,6 Tonnen, Elektroautos mit einem Gewicht von über zwei Tonnen kosten in Paris 18 Euro pro Stunde, pro Zeiteinheit stark ansteigend: 6 Stunden kosten 225 Euro. Andere französische Städte ziehen kräftig nach, und mit Freude muss man feststellen: Auf kommunaler Ebene bewegt sich auch hierzulande vieles, was der bundespolitischen Autopropagierung entgegen steht. In Tübingen, Freiburg, Hannover – auch in Karlsruhe und andernorts. Davon berichten wir nun regelmäßig. Denn: Wo ein vernünftiger, am Ausgleich aller Interessen orientierter, politischer Wille ist, zeichnet sich ab, was eingangs erwähnt wurde: Der öffentliche Raum muss von den Schwächsten aus konzipiert werden. Das Auto kommt zuletzt.
1) https://www.klimaseniorinnen.ch/
2) https://www.bcw-gruppe.de/fileadmin/fom/forschung/isf/FOM-Forschung-isf-Dividendenstudie-Deutschland-2024.pdf. ) Die 2022 beschlossene, 2023 gezahlte Volkswagen-Sonderdividende aus dem Porsche-Börsengang (9,5 Mrd. Euro) ist in diesen Zahlen nicht enthalten. Quelle: DividendenAdel mit Bloomberg und Unternehmensangaben
3) https://focus-mobility.de/magazin/17-milliarden-euro-subventionen-fuers-auto
4) https://www.carwow.de/audi/auto-news/3321/audi-q6-e-tron-premiere#gref
5) http://www.frei04-publizistik.de/data/webserver/download/1443_DASL_Stadt_Auto_2.pdf
6) Andreas Frey: Eine Straße für alle. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14. April 2024
7) https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Automobil_und_Architektur._Ein_kreativer_Konflikt_8453847.html
https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Die_Strasse_als_Element_des_Staedtebaus._Ansichtspostkarten_in_der_DDR_und_Bundesrepublik_1949_bis_1989_8463842.html
8) Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung, 12. März 2022
9) https://jovis.de/de/book/9783986120528
10) Hedwig Richter, Bernd Ulrich: Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit. Köln 2024
11) Joachim Käppner: Rezension Richter/ Ulrich. In: Süddeutsche Zeitung, 17. April 2024