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„Er war immer auf der Suche nach Kontrasten“

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Lucien Hervé, Le Havre, Frankreich (Architekt: Auguste Perret), 1956, (Bild: © Lucien Hervé)

Der Kontakt zu Le Corbusier machte Lucien Hervé zum Architekturfotografen. Beton Brut in grafischen Kompositionen wurde sein Markenzeichen. Judith Elkan-Hervé lebt und arbeitet mit dem Bildarchiv Hervé in Paris. Im Gespräch mit Bärbel Högner erzählt die 98-jährige Witwe von Hervés Lebensweg, dessen fotografischen Strategien und der Zusammenarbeit mit Le Corbusier.

Der Pavillon Le Corbusier in Zürich zeigt in diesem Jahr die Ausstellung „Lucien Hervé: Gebautes Licht“. Das Werk des französischen Fotografen ungarischer Herkunft (gebürtig László Elkán, 1910-2007) zeichnet sich durch kontrastreiche Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus, die das Zusammenspiel von Licht und Baukörper fokussieren. Sein Blick fiel auf Volumen, Proportionen und Oberflächen, gerne bildete er Architektur aus ungewöhnlichen Perspektiven ab. Mit seinen Bildstrecken strebte er danach, architektonisches Denken zu vermitteln. Die Ausstellungsgestaltung folgt Lucien Hervés eigener Präsentationsmethode: Gebäude von Le Corbusier im Dialog mit Werken anderer Architekten, Bauten der Moderne in Gegenüberstellung zu Bauwerken aus anderen Epochen.


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Lucien Hervé, Piers, Unité d’habitation, Rezé, Frankreich, (Architekt: Le Corbusier), 1954 (Bild © J. Paul Getty Trust, Los Angeles / Fondation Le Corbusier, Paris)

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Lucien Hervé, Zisterzienser Abtei, Le Thoronet, Frankreich, 1951 (Bild © Lucien Hervé)

Madame Hervé, Ihr Mann verstarb 2007, seither verwalten Sie das Archiv. Hatten Sie für die Ausstellung in Zürich ein bestimmtes Anliegen?

Judith Elkan-Hervé: Hervé hatte bei der Bildgestaltung ein Steckenpferd – die Geometrie. Das Thema hat er mir regelrecht eingetrichtert. Die Ausstellungskonzeption beruht auf der Idee, diesen Aspekt innerhalb seines Schaffens vorzustellen. Wie er beständig auf geometrische Kompositionen achtete – vom Anfang bis zum Ende seiner Bildproduktionen, von einem Kontinent zum anderen, von einer Epoche der Baugeschichte zur anderen.

Seine Neigung zu abstrakten räumlichen Kompositionen sieht man schon in den ersten Aufnahmen zum Werk von Le Corbusier, die 1949 in Marseille entstanden. Er verbrachte einen Tag auf der Baustelle der Unité d’Habitation und kam mit über 600 Schwarz-Weiß-Fotos zurück. Es heißt immer, diese Dokumentation habe ihn zum Architekturfotografen gemacht. Was war der Anstoß für die Reise nach Marseille?

Hervé kannte bis dahin weder Le Corbusier noch dessen Bauten. Er interessierte sich sehr für bildende Kunst, für klassische Architektur, Renaissance, Gotik, Romanik, weniger für zeitgenössische Architektur. Er widmete sich der Malerei. Da er knapp bei Kasse war, fotografierte er auch für den Lebensunterhalt. Als der Tipp kam, diesen neuartigen Wohnblock in Marseille zu dokumentieren, suchte er eine Zeitschrift, die ihm die Fahrt bezahlen und die Fotos veröffentlichen würde. Auf der Baustelle hing ein Hinweis, dass Fotografen gebeten werden, ihre Fotos an Le Corbusier zu senden. Hervé dachte, dies sei notwendig und schickte ihm seine Kontaktbögen.

Das klingt alles sehr pragmatisch. Der Aufenthalt war kurz, trotzdem belichtete er über 50 Mittelformatfilme. Für eine solche Bilderflut muss bei ihm ein Funken übergesprungen sein. Was berichtete ihr Mann nach der Rückkehr und wie reagierte Le Corbusier?

Sein Vorgehen war eine Art Recherche. Er wollte stets das Motiv, das er fotografierte, verstehen und fühlen. Wieder und wieder lief er mit seiner Rolleiflex über die Baustelle. Er erzählte total begeistert von der Konstruktion, und dann war Le Corbusier begeistert von diesen Fotos. In der Antwort zu den Kontaktbögen stand: „Sie haben die Seele eines Architekten, Sie verstehen es, Architektur wahrzunehmen. Kommen Sie mich besuchen.“ Ohne diese Reaktion hätte Hervé vielleicht nicht weiter Architektur fotografiert.

Studium, Gefangenschaft, Résistance

Wenn er eigentlich Ambitionen als Maler hatte, woher stammten die Kenntnisse in Fotografie?  

Man muss wissen, dass Hervé nach dem Abitur von Budapest nach Wien ging. Er studierte Wirtschaft und besuchte parallel die Kunstakademie. 1929 zog er zu seinem Bruder nach Paris. Hier begann er bei einer Bank zu arbeiten, doch die Tätigkeit befriedigte ihn nicht. Er zeichnete dann für verschiedene Modehäuser, wurde aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und Gewerkschaftsfunktionär. 1938 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, ohne Angabe von Gründen. Das hat ihn sehr mitgenommen. Dann lernte er Nicolas Müller kennen, einen ungarischen Fotografen. Für dessen Reportagen hat er Texte redigiert. Als Müller, der ebenfalls Jude war, nach dem Münchner Abkommen Frankreich verließ, übernahm Hervé diese Fotoaufträge.

Wie kam es, dass er in Frankreich blieb? War er nicht auch in Gefahr?

Hervé hatte die französische Staatsbürgerschaft erhalten und wurde als Soldat eingezogen. In Dünkirchen haben ihn die Deutschen verhaftet. Sie brachten die französischen Soldaten in ein Kriegsgefangenenlager in Ostpreußen. Hier schloss er sich wieder der Kommunistischen Partei an, sie arbeiteten im Geheimen. Nach ungefähr sechs Monaten gelang ihm die Flucht. Er täuschte eine Krankheit vor und sie verlegten ihn in einen Sanitätszug, der kranke Gefangene nach Frankreich zurückbrachte. Unterwegs ist er geflohen und hat sich nach Grenoble durchgeschlagen. Dort war er bis zur Befreiung von Paris im Widerstand und für die Vereinigung der Kriegsgefangenen und Deportierten aktiv.

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Lucien Hervé, Oberstes Gericht, Chandigarh, Indien (Architekt: Le Corbusier), 1955 (Bild: © J. Paul Getty Trust, Los Angeles / Fondation Le Corbusier, Paris)

Le Corbusier erkannte sofort die Begabung Hervés, Raum, Licht und Materialität in spannungsvolle Bilder umzusetzen. Er spürte, dass diese moderne Bildsprache sich bestens für Publikationen über seine Architektur eignen würde. Er schickte ihn zu all seinen Projekten der Nachkriegszeit, sie waren sogar zusammen bei seinen Bauten in Indien. Wie entwickelte sich die Beziehung zwischen den beiden?

Sie hatten sehr schnell großes Vertrauen zueinander. Eine Situation gleich zu Beginn der Bekanntschaft ist mir noch gut in Erinnerung. Hervé kam mit einem Bündel an Original-Aquarellen und -Zeichnungen von Le Corbusier unter dem Arm nach Hause, weil der Architekt davon Fotos haben wollte. Ich erschrak heftig und sagte: „Bist du verrückt, hast du gezählt, wie viele es sind?“ Er hatte natürlich nicht gezählt. Aber Le Corbusier auch nicht, denn er vertraute dem Fotografen. Später passierte es manchmal, dass Le Corbusier mit der Qualität eines Fotoabzugs nicht zufrieden war. Hervé machte, wenn er selbst im Labor war, zunächst nur Arbeitsabzüge, keine bis ins Detail ausgearbeiteten Druckvorlagen. Woraufhin einmal die Beschwerde kam: „Sie haben mir Ladenhüter geschickt.“ Typisch Hervé – er hat mit einem langen Brief geantwortet, um den Aufwand einer Druckvorlage zu erklären, weshalb vorab nur Arbeitsabzüge gemacht würden. So ging das immer hin und her zwischen den beiden. Sie sagten sich wahrlich, was sie auf dem Herzen hatten.

Schnitt-Kompositionen

Lucien Hervé hatte einen eigenen Stil der Architekturfotografie. Er nahm ungewöhnliche Perspektiven auf, wir sehen Strukturen und Details, das Zusammenspiel von Licht und Schatten ist stark betont. Sie haben eben das Stichwort Laborarbeit genannt: Welche Bedeutung hatte die Nachbearbeitung in der Dunkelkammer?

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Lucien Hervé, Universität St. Gallen, Schweiz, (Architekt: Walter M. Förderer), 1964 (Bild © Lucien Hervé)

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Lucien Hervé, Strukturelle Elemente (Konstruktion: Jean Prouvé), 1963 (Bild: © Lucien Hervé, © Adagp, Paris, 2024)

Er war immer auf der Suche nach Kontrasten. Im Labor interessierte ihn vor allem, wie man Bildteile hervorheben kann. Anfangs hat er das gerne selber gemacht, nachher kam dreimal in der Woche ein Assistent zu uns. Hervé erläuterte, wie die Fotos zu korrigieren waren. Der junge Mann verstand genau, was Hervé wollte: Die Betonung von Schwärzen und Lichtern in der Vergrößerung, um geometrische Formen hervorzuheben.

Die Kontaktbögen von Hervé mit den Aufnahmen der Bauten von Le Corbusier wurden publiziert. Es sind jedoch keine reinen Kontaktabzüge. Vielmehr hat er die Motive aus den ursprünglichen Kontakten ausgeschnitten, auf Pappe aufgeklebt und beschriftet.

Nun, neben den Kontrasten war das zweite Merkmal seiner Fotografien der Beschnitt. Erst zerteilte er die Kontakte, dann kürzte er die Vergrößerungen. Fast jedes Mal, wenn er ein Foto aus einer Schachtel nahm und es einige Zeit nicht gesehen hatte, überprüfte er die Komposition und schnitt wieder etwas ab. Irgendwann habe ich ihm gesagt, wenn du so weiter machst, wird nur noch Konfetti übrig sein. Soweit kam es nicht, doch er fand immer etwas, das noch weg sollte.

Das ist ein ungewöhnliches Verfahren. Viele Fotografinnen und Fotografen legen Wert auf die Bildkomposition, die sie im Moment der Aufnahme im Sucher eingrenzen.

Le Corbusier hat ihn einmal gefragt, wie er Fotograf geworden sei. Seine Antwort war: „Mit einer Schere.“ Hervé gab gerne scherzhafte Antworten, doch das war durchaus ernst gemeint. Ihm war der Bildbeschnitt wichtig. Nicht die Betätigung des Auslösers an der Kamera, sondern die weitere Bearbeitung der Bilder mit der Schere ermöglichte es ihm, seine Kompositionen zu schaffen.



Neue Wege

Würden Sie sagen, die Beziehung zwischen den beiden war eine Freundschaft? Oder eher eine Geschäftsbeziehung?

Nein, nein, das Wort Freunde passt gar nicht. Und es ging auch nicht um Geschäfte. Es war eine menschliche Beziehung zwischen Männern mit gleichen Ideen und Interessen, mit einem ähnlichen Geschmack für Architektur und bildende Kunst und dem Willen, neue Wege zu beschreiten.

Es interessiert mich noch eine andere Sache – vielleicht ist sie etwas heikel. 2015, zum fünfzigsten Todestag von Le Corbusier, erschienen mehrere Publikationen, die sich kritisch mit seiner Zeit in Vichy während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzten. Der Architekt hatte sich in der Hoffnung auf Aufträge um Nähe zur französischen Regierung bemüht, die mit den Deutschen kollaborierte.

Hervé hatte davon gehört – das weiß ich, aber nicht von ihm selbst, denn er hat nie mit mir darüber gesprochen.

Ihr Mann war während des Krieges im Untergrund aktiv. Als er in der Résistance tätig wurde, nahm er den Name Lucien Hervé an. Ich frage mich, wie er die politisch sehr konträren Haltungen ausbalanciert hat.

Man kann sagen, dass Hervé zunächst einmal großen Respekt vor Le Corbusier hatte. Zudem war er nicht der Mensch, der in der Vergangenheit herumstocherte. Er war sehr diskret und stellte keine persönlichen Fragen. Er tat das nie, nicht einmal mir gegenüber. Wenn ich nicht angefangen hätte zu erzählen – er hätte mich weder nach meiner Kindheit, noch nach meiner Deportation gefragt. Zudem muss man die Erfahrungen nach dem Krieg bedenken. Erst wurde er erneut aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Dann kam allmählich heraus, was in der Sowjetunion passiert war. Er wollte es am Anfang nicht glauben. Nachdem er wirklich begriffen hatte, was in Wirklichkeit in den kommunistischen Ländern geschah, war es für ihn vorbei: Keine aktive Politik mehr, keine Zugehörigkeit zu irgendeiner Partei, Schluss. Er war immer noch ein Mann der Linken, aber es war eine schreckliche ideologische Enttäuschung, diese Erkenntnis hat ihn tief getroffen. Er hatte eine lange depressive Phase. Ich glaube, dass ich ihm geholfen habe, diese Zeit zu überstehen. Als sich dann die Zusammenarbeit mit Le Corbusier ergab, hat das seine Welt verändert.

Entdeckungen im Archiv


Die beiden haben 15 Jahre lang bis zum Tod des Architekten 1965 kooperiert. Das umfangreiche Bildmaterial zu Le Corbusier haben Lucien Hervé und Sie gemeinsam dem Getty Research Institut in Los Angeles übergegeben. Es ist ja gewissermaßen ein Schatz mit 18.000 Negativen und 1.700 Farbdias.

Es war keine Schenkung, es war ein Verkauf. Wir waren nie reich. Wir hatten stets genug zum Leben, ich beschwere mich nicht, aber wir hatten immer gerade das Nötigste, nicht mehr und nicht weniger. Als Getty 2002 kaufte, hat uns das ein wenig aus den Sorgen geholfen. Anderen haben wir Bilder geschenkt, zum Beispiel in Budapest dem Museum der Schönen Künste und dem Vasarely-Museum sowie dem Centre Georges Pompidou in Paris.

Ihr Mann bekam auch von vielen anderen Architekten und von Verlagen Aufträge. Seit 17 Jahren sind Sie für das Archiv alleine verantwortlich. Wie sieht Ihr Alltag aus?

Ich habe eine Mitarbeiterin, sie hat auch schon Hervé und unseren Sohn Daniel, der Fotokünstler wurde, unterstützt. Sie ist für mich wie eine Tochter. Wir bearbeiten zusammen, was ansteht. Wir haben eine Stiftung gegründet für die Zeit, wenn ich nicht mehr da bin.

Was hätte Hervé zur Präsentation in Zürich gesagt?

Er hätte sich sehr gefreut und geehrt gefühlt, seine Bilder in dieser wunderbaren Architektur von Le Corbusier ausstellen zu können, der ja in gewisser Weise sein Meister war.

Die Qualität der dort gezeigten Prints ist sehr eindrucksvoll. Sie wurden in Paris produziert.

Ja, weil meine Mitarbeiterin und ich sie kontrollieren wollten. Es mussten teilweise noch Scans von den Negativen gemacht werden. Wir fanden ein geniales Labor mit einem hohen künstlerischen Anspruch. Es entstand ein reger Austausch. Wenn wir etwas anders haben wollten, wurde anstandslos überarbeitet, heller oder dunkler gemacht. Die neuen Abzüge waren für mich echte Entdeckungen. Einige Fotografien, die ich sehr wohl kannte, kamen mir auf einmal ganz unbekannt vor. Das war großartig.

Welche schöne Erfahrung. Vielen Dank für das Gespräch.


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Bild: Bärbel Högner

Judith Elkan-Hervé, geboren 1926, stammt aus Oradea, einer Stadt, die heute in Rumänien unweit der ungarischen Grenze liegt und als Tor nach Transsylvanien gilt. Die jüdische Familie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Nur ihre Mutter und sie überlebten im Arbeitslager Zittau. Nach der Befreiung zogen sie zu Verwandten nach Paris. Sie studierte einige Semester Französisch an der Sorbonne, 1950 heiraten sie und Lucien Hervé, 1957 wurde ihr Sohn Daniel Rodolf Hervé geboren. Während des Gesprächs kommen Anrufe aus Budapest, fließend wechselt sie von Französisch in Ungarisch. Zu ihrem größten Bedauern kann die 98-Jährige nicht mehr allein in Paris spazieren gehen. Die Stadt sei für sie immer eine Offenbarung gewesen.


Lucien Hervé: Gebautes Licht. Bis 24. November
Pavillon Le Corbusier, Zürich
Ausstellungsansichten. (Alle Bilder: Regula Bearth, ©ZHdK)