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In höchsten Tönen

2446_Mainz_KHS_aussen_UBAbreißen, neubauen, Boden versiegeln: Aus dieser umweltschädlichen Gewinnroutine kann man rauskommen. Und wie es geht, zeigt unter anderem das Thema Aufstocken. In Mainz kommt dies der Kultur zugute, andernorts zusätzlichem Wohnraum oder Umbauoptionen für die Industrie.

Ausfallstraße, Straßenbahn, Kreuzung: Der neue Konzertsaal liegt zwar rückseitig, bekommt aber von der Umgebung viel Lärm ab. (Bild: Ursula Baus)

 

Früher einmal Parkplatz beziehungsweise Vorfahrt, bietet der Hof heute eine attraktive Außenzone. (Bild: Ursula Baus)

Früher einmal Parkplatz beziehungsweise Vorfahrt, bietet der Hof heute eine attraktive Aufenthaltszone. Über den zentralen Eingang wird auch der aufgestockte Saal für Kammermusik erschlossen. (Bild: Ursula Baus)

Axonometrie desAkademie-Ensembles; gelb die Aufstockung (c Mamuth Architekten)

Axonometrie des Akademie-Ensembles; gelb die Aufstockung für Kammermusik-Konzerte (c Mamuth Architekten)

Ausführlich sei zunächst vom neuen Kalkhof-Rose-Saal in Mainz die Rede. Dort hat die Akademie der Wissenschaften und der Literatur ihren Sitz, eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und Gelehrtengesellschaft. In Deutschland gibt es insgesamt acht solche Akademien, die in der Akademieunion zusammengefasst sind, allerdings autark agieren. Die 1949 neu gegründete, im Ursprung bis ins frühe 18. Jahrhundert reichende Mainzer Akademie entstand mit Unterstützung aus der französischen Besatzungszone, namentlich auf Initiative von Alfred Döblin, der aus dem Exil zugekehrt und „Kulturoffizier“ in Baden-Baden gewesen war. Die Mainzer Akademie zeichnet sich innerhalb der Akademieunion einzigartig dadurch aus, dass sie „außer einer Mathematisch naturwissenschaftlichen sowie einer Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse auch eine Klasse der Literatur“ aufwies.1) Der Schwerpunkt der Akademiearbeit liegt auf dem Gebiet langfristiger Grundlagenforschung im Bereich der Geisteswissenschaften.2) Und dieses Spektrum ist 2009 – einzigartig auch das – mit Musik erweitert worden, Schwerpunkte sind dort auch musikwissenschaftliche Editionsvorhaben.

Sitzungssaal der Akademie von Walter Henn, 19** (© Wilfried Dechau)

Sitzungssaal der Akademie von Walter Henn, 1960(© Wilfried Dechau)

Nachverdichten

Es gibt einen Verein der Freunde und Förderer und auch Ehrenmitglieder. Zu denen gehörte Sibylle Kalkhof-Rose (1925-2022) mit einer Stiftung, die mit dem neuen Kammermusiksaal »auch ein Geschenk an die Öffentlichkeit« machen wollte. Die exzellente Bausubstanz des gepflegten Mainzer Akademie-Areals stammt weitgehend von Walter Henn, der mit Friedrich Karl Kraemer und Dieter Oesterlen die „Braunschweiger Schule“ prägte, im übrigen auch Mitglied der Mainzer Akademie und seit 1959 auch Mitglied der Braunschweiger Wissenschaftlichen Gesellschaft war. Henns Plenarsaal von 1960 erhielt 2022 eine neue Lüftungsanlage, die der Atmosphäre des Saals (hier zu sehen >>>) nicht im geringsten schadet.

Längsgelgt bleiben die Dachträger sichtbar; die Decken- und Wandflächen sind mit dem Akustiker entwickelt. (© Wilfried Dechau)

Längsgelegt bleiben die Dachträger sichtbar; die Decken- und Wandflächen sind gemeinsam mit dem Akustiker Jochen Veith entwickelt worden. (© Wilfried Dechau)

Für Veranstaltungen der Literatur- und Musiksparte3) entstand nun ein 120 Quadratmeter großer Saal für etwa 80 ZuhörerInnen, der in Zusammenarbeit mit der Mainzer Hochschule für Musik (Mainzer Musikdozentur), der Villa Musica Rheinland-Pfalz (Hans Gál-Preis) sowie dem Mainzer Komponistenportrait als Ort literarisch-musikalischer Programme dient.

Schnittperspektive und Grundriss

Schnittperspektive und Grundriss (© mamuth Architekten)

Vertikalschnitt durch die Anschlüsse alt/neu und neues Dach (© mamuth Architekten)

Vertikalschnitt durch die Anschlüsse alt/neu und neues Dach (© mamuth Architekten)

Holzarbeit

Der Bestand legte nahe, ihn mit einer leichten Holzkonstruktion aufzustocken, begonnen wurde mit einer Machbarkeitsstudie. Die Aufstockung impliziert konstruktiv und der Kammermusiksaal funktional die Zusammenarbeit von Architekt und Akustikspezialist, konkret: Timm Helbach aus Mainz, Jochen Veith aus Brunnthal, zudem das Hunnsrücker Holzbauunternehmen Ochs und die Innendesignerin Nadine Kümmel. Die Aufstockung ist eine Holzständerkonstruktion, bietet dem Konzertsaal Masse und Volumen und überzeugt mit einem hohen Vorfertigungsgrad. Innerhalb von etwa acht Monaten war Deutschlands erster Kammermusiksaal aus Holz fertig. Für nur 1,8 Millionen Euro.

Begonnen wurde mit einer Decke über dem Bestand, aus Brandschutzgründen ist es eine Spannbeton-Decke geworden. Holzträger überspannen im Obergeschoss stützenlos und innen sichtbar den Konzertraum in seiner Längsrichtung.
Akustisch musste der Saal vom Bestand getrennt werden – die Umgebung der Akademie ist nicht gerade leise.

Akustisch ausgeklügelt und schön anzusehen: die Reliefstruktur der Wandflächen (© Wilfried Dechau)

Akustisch ausgeklügelt und schön anzusehen: die Reliefstruktur der Wandflächen (© Wilfried Dechau)

Horizontalschnitt durch die Seitenwand (© mamuth Architekten)

Horizontalschnitt durch die Seitenwand (© mamuth Architekten)

Klangqualität

Für die Klangqualität im Saal sind zudem auf den Saal abgestimmte Akustikpaneele – ebenfalls aus Holz – entwickelt worden, die mit der 7-Grad-Abschrägung und einer Lasur dem Saal eine sehr angenehme Atmosphäre verleihen. Die reliefartige Wandstruktur basiert auf einer mathematischen Zufallsfolge. Schall trifft auf die unterschiedlichen Reflektionsebenen – insgesamt über eine Tiefe von 12 cm – und tritt unregelmäßig wieder aus. Daraus entsteht die gewünschte Schallstreuung im Saal.

Ein heikles Thema bei solchen Sälen ist auch die Lüftung. Durch Quellluftauslässe im Bühnenbereich schiebt sich hier im Kalkhof-Rose-Saal während des Konzertbetriebs kontinuierlich eine Frischluftwelle durch den Raum. Der schallgedämmten Abluft ist eine Pufferkammer vorgelagert, die Zuglufterscheinungen und technische Störgeräusche verhindert.

Treppe und Aufzug zum neuen Saal im Obergschoss. Das Kunstwerk ist eine Arbeit von ***. (© Wilfried Dechau)

Treppe und Aufzug zum neuen Saal im Obergschoss. Das Kunstwerk „Leaves“ (Porzellan und Stahl) ist eine Arbeit von Cordula Kafka. (© Wilfried Dechau)

Der neue Saal ist über ein neues Treppenhaus und einen Aufzug erschlossen, der zum Bestand nicht mutwillig kontrastiert, ihn vielmehr wie selbstverständlich ergänzt. Eine elegante Lichtskulptur von Cordula Kafka bewirkt eine gewisse, nicht im Geringsten aufgedonnerte Festlichkeit – die auch von außen, von der Straße her erkennbar ist.

Rechts im Bild der seitlich positionierte Eingang zum Saal (© Wilfried Dechau)

Rechts im Bild der seitlich positionierte Eingang zum Saal (© Wilfried Dechau)

Mehr Musik, mehr Literatur

Bemerkenswert ist auch ein neuer Steinway-Flügel mit besonderer technischen Raffinesse. Digital lässt sich hier ein Klavierspiel übertragen in die analoge Tonerzeugung des Klaviers – und zwar live. Spielen also beispielsweise Alexandre Tharaud oder Lang Lang in der Elbphilharmonie, kann man hier im Mainzer Kalkhof-Rose-Saal live auf dem Klavier mitlauschen. Ich habe das nicht gehört, aber mir sagen lassen, es funktioniere.

Mainz verfügt dank einer privaten Kulturförderung nun über ein vielfältig nutzbares Raumrepertoire, das man allen großen und kleinen Städten in der Republik wünscht, um mit Musik und Literatur der reinen Technik- und Wirtschaftsausrichtung der Gesellschaft entgegen zu wirken. Gegenwärtig gewinnt Musik an kultureller Kraft. Zum allgemeinen Glück.

Kalkhof Rose Saal, Mainz
Mamuth Architekten, Timm Helbach (www.mamuth.net)
Jochen Veith Audio- & Acoustic Consulting (https://www.jv-acoustics.de)
Ausführendes Generalunternehmen: Ochs GmbH
Innendesign: Nadine Kümmel
Kosten: 1,8 Mio Euro

Hoch hinaus

Timm Helbach ist ein Holzbauspezialist und sammelte unter anderem in Wien Erfahrungen mit Aufstockungen, die dort im Sinne der Nachverdichtung bereits Tradition haben. Nachverdichten und Aufstocken waren auch Themen des jüngsten Wüstenrot-Gestaltungspreises.4)

Bild: Wüstenrot Stiftung | Armin Schärer

Bild: Wüstenrot Stiftung | Armin Schärer

Aufstockung Wohnungsbau in Basel, Wasserstraße;
Architekten: Atelier Atlas Architektur, Basel

Bild: Wüstenrotstiftung | Udo Meinel

Bild: Wüstenrot Stiftung | Udo Meinel

Aufstockung Industriebau für Wohnungsbau in Glashütte Alt-Stralau, Berlin;
Architekten: Eyrich-Hertweck, Berlin

Bild: Wüstenrot Stiftung | Steffen Spitzer

Bild: Wüstenrot Stiftung | Steffen Spitzer

Umbau und Aufstockung ehemaliger Textilmanufaktur in Halle / Saale;
Architekten: snarq, Halle / Saale


1) Zur bemerkenswerten Akademiegeschichte, deren Wurzeln bis ins frühe achtzehnte Jahrhundert reicht: https://www.adwmainz.de/struktur-und-geschichte.html

2) Einige Mitglieder wurden auch Nobelpreisträger, u.a. Niels Bohr, Otto Hahn, Konrad Lorenz, Halldór Laxness, Saul Bellow, Heinrich Böll, und Jean-Marie Lehn.

3) Mitglieder sind u.a. Claudia Eder, Moritz Eggert, Julius Berger, Christian Gerhaher, Ton Koopman, Isalbel Mundry, Wolfgang Rihm +, Andreas Scholl