Im Skiort Ischgl ging es los. Halligalli, Corona-Hotspot – und welche Zufluchtsorte werden Touristen in diesem Winter aufsuchen dürfen? Ein fantastisches Buch führt drastisch vor Augen, welchen Reiz die Wintersportorte menschenleer und schneefrei entwickeln.
Auf dem Titel steht ganz einfach: „Sommer“. Schwarze Schrift auf gelbem Leineneinband – schon schwirren Erinnerungen an südfranzösische Hitze, Lavendelfelder und dergleichen durch den Kopf. Aber in diesem Buch geht es um etwas ganz anderes: Im Sommer fehlt den Skigebieten in den französischen Alpen die schmeichelnde Schneedecke, Landschaft und Architektur offenbaren sich nackt, ohne Schneekleid und belebenden Touristentrubel. Es sind „terrains vagues après le réflux“. Avoriaz, Val-d’Isère, Méribel, Courchevel, Val Thorens – das sind Ortsnamen, die Skifahrern schöne, lange Pisten und Winterfreuden vielfältiger Art in Erinnerung rufen. Die beiden Fotografen Sebastian Schels und Olaf Unverzart widmen sich genau diesen Orten, wie sie ohne winterlichen Schutz in Erscheinung treten.
Der Architekturhistoriker Dietrich Erben spricht in einem ergänzenden Essay die Genese des Massentourismus an, der im Sommer dem Meer und im Winter den Skigebieten einen gewaltigen Zulauf beschert. 32 Skiressorts, vorwiegend in den französischen Alpen, aber auch nebenan in der Schweiz und Italien sind im Buch zu entdecken, und ganz anders als etwa im bekannten, jedoch beschaulichen und einsam gelegenen Sils Maria geht es hier um die Massenunterkünfte, die in Frankreich „trente glorieuses“ genannt werden. Boomzeiten zwischen 1946 und 1973 (Ölkrise) bescherten gerade in Frankreich nicht nur die großen Satellitenstädte, sondern analog auch die gewaltigen Urlaubsquartiere, die keineswegs ohne architektonischen Anspruch gebaut wurden. Früh, so ruft Dietrich Erben in Erinnerung, wuchs Kritik an diesen massen- und konsumorientierten Entwicklungen, etwa 1965 bei Georges Perec in seinem Roman „Die Dinge“, in dem er seiner Generation bescheinigte, „ihren Konsumwünschen in die Falle“ zu gehen.
Winterskiorte sind keine klassischen Reiseziele mit etwa architektonischen Sehenswürdigkeiten. Vielmehr gehören sportliche Verausgabung, Mode und Après-ski dazu, was eine eigene Architekturtypologie in den Resorts mit sich brachte – einige von ihnen gehören inzwischen zum „Patrimoine du XXe siècle“.
Um die Dimensionen anzudeuten: La Grande-Motte war beispielsweise für 100.000 Urlauber geplant; 1962-65 entstanden hier spektakuläre Pyramiden-Hochhäuser, begleitet von immensen Infrastrukturbauten – Straßen, Leitungssystemen für Strom und Wasser und Kanalisation. Erben stellt klar: „… es reicht nicht hin, die Architektur der Ferienresorts auf diese Matrix der Großwohnanlage in der Retortenstadt zu reduzieren“.
Die Fotografien im Buch zeigen genau dies: Das Mondäne ohne Reichtum, das banale im Funktionalen, die Noblesse der frühen 1960er Jahre, bautechnisches Gewürge seit der Erfindung des Bauschaums. Architekturgeschichtlich entfaltet sich hier ein dicht bestückte Feld, das – und auch darauf weist Erben hin – „auch die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Umgangs mit dieser Hinterlassenschaft ins Bewusstsein rückt“.
Wie es im Corona-Winter 2020/21 dort aussehen und zugehen mag? Menschenleer, zauberhaft eingeschneit? Wenn es im Zuge des Klimawandels in weiten Alpengebieten nicht mehr schneien wird, muss man sich für diese Hinterlassenschaften etwas einfallen lassen.