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Experiment und Erkenntnis


Konstruktive Experimente gehören immanent zu Architektur und Ingenieurbau. Das Experiment lässt sich zwar vordergründig im „Erfolg“ bewerten, wichtiger ist die Erkenntnis. Das aktuelle Beispiel einer mehrfach gekrümmten Ziegelschale aus ebenen Fertigteilen erinnert daran, dass kommerzielle Verwertung nicht oberstes Kriterium für die Weiterentwicklung des Bauens sein kann. Eine faszinierende Konstruktionstypologie nähme Schaden.

Unbeabsichtigt temporär: Die schöne Ziegelschale war als konstruktives Experiment geplant.
(Bild: KGBauko, Christian Biermann)

Als ich diese Ziegelschale in einer Fachzeitschrift sah, war ich sofort mehr als neugierig.1) Die Schale wollte ich mir unbedingt anschauen. Und aus persönlichem Interesse heraus natürlich fotografieren. Das Bild weckte Assoziationen zunächst an Eladio Dieste, jenen begnadeten uruguayischen Ingenieur, der schon 1947 mit bewehrten Ziegelschalen nicht nur experimentierte, sondern sie auch baute. Dazu empfehle ich das Skript eines > Vortrags, den Jos Tomlow anlässlich des 100. von Eladio Dieste gehalten hat.

Die „Möwe“ wurde von Eladio Dieste 1976 als Tankstellendach mit einer Ziegelschale gebaut. Nach seinem Tod 2000 wurde sie in Salto transloziert und dient seitdem als „Denkmal“ für Dieste. (Bild: Wiki commons, Tano 4595, 2005)

Union Station in Pittsburgh (Bild: Wiki Commons, Derek Ramsey)

Rafael Guastavino, Union Station in Pittsburgh, 1903 (Bild: Wiki Commons, Derek Ramsey)

„Möwe“, Tanzschule, Bahnhof

Für die erste, tonnenförmige Schale verwendete er flach liegende Vollmauerziegel und erreichte damit eine Spannweite von 6 Metern. Doch damit hat er sich nicht begnügt. Er reizte die Grenzen – mit zweifach gekrümmten Shed-Schalen bei einer 1977-79 gebauten Lagerhalle in Montevideo – bis zur Spannweite von 50 Metern aus. Und das bei einer Konstruktionsdicke von nur 13 Zentimetern. Mit der im Volksmund »Die Möwe« genannten Überdachung einer Tankstelle ist Eladio Dieste eine Ikone der Schalenbaukunst gelungen.

Man denkt auch an den venezolanischen Architekten Ricardo Porro, der 1961 im Auftrag Fidel Castros in Havanna eine Tanzschule baute, eine wahre Ziegelschalen-Orgie, aus kuppel- und tonnenförmigem, katalanischem Gewölbemauerwerk – siehe > hier.

Erinnert sei auch an Rafael Guastavino, der die traditionelle katalanische Ziegel-Bauweise Ende des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika mitbrachte und als »Guastavinisches System« patentieren ließ. Er baute dort unter anderem das Gewölbe der Union Station, Pittsburgh.

Fernando Huigeras: Antonio López Torres Museums in Tomelloso, Spanien (Bild: ??), 2009

Fernando Higueras: Antonio López Torres Museums in Tomelloso, Spanien (Bild: Wilfried Dechau, 1990)

Oder man denke an den spanischen Architekten Fernando Higueras, der ebenfalls das (Kunst-)Handwerk katalanischer Maurer zu nutzen wusste – wenn auch nicht für Ziegelschalen, sondern für filigrane, aus Hohlziegeln gefügte Trägerroste als Tragwerk für Glasdächer. Unter anderem zur Überdachung des Antonio López Torres Museums im spanischen Tomelloso. Gewiss, die Virtuosen dieses wunderbaren Konstruktionstyps waren und bleiben bis auf weiteres Félix Candela, Heinz Isler und Ulrich Müther, bahnbrechende Schalenbauer, zwar nicht auf dem Gebiet der Ziegelschalen, aber beim Betonschalenbau.2)

TU, Deppe, Copyright

Das Schalenexperiment auf dem Gelände von Deppe Backsteinkeramik (Bild: Christian Bierwagen)

Das Experiment

Und damit zurück zur Ziegelschale. Bereits gestiefelt und gespornt, Kamera und Stativ parat, nahm ich sofort den Kontakt auf zu Alexander Pick, dem Initiator des Forschungsprojektes »Entwicklung mehrfach gekrümmter Ziegelschalen durch planare Bauteile«. Er war auch der Autor des Artikels in der DBZ. Von ihm erfuhr ich, dass ich die Kamera gleich wieder einpacken könne. Die Schale sei abgerissen worden. Die am Experimentalbau beteiligte Firma Deppe Backsteinkeramik, Uelsen habe den Platz als Lagerfläche benötigt. Das ist schade, weil damit das Experiment, den Schalenbau durch vorgefertigte Elemente wieder zu beleben, mit einem rigorosen Schlussstrich beendet worden ist. Um was ging es bei dem Projekt? Und welche Wege wurden beschritten?

Mit Schalenbauten lassen sich große Spannweiten mit geringstmöglichem Materialaufwand erreichen. Das lässt sich – gerade bei kuppelartigen Schalen – besonders beeindruckend am Verhältnis der Schalendicke zum Krümmungsradius darstellen. Und richtig schön anschaulich wird so eine Verhältniszahl, wenn man sie mit der Kalkschale eines Hühnereis vergleicht (Dicke zu Krümmungsradius = 55). Die Edelstahlschale der von Mike Schlaich entworfenen Fußgängerbrücke in Ditzingen (siehe > hier) kommt auf einen Wert von etwa 330, das heißt, sie ist im Verhältnis sechsmal dünner als die eines Hühnereis. Das lässt sich kaum toppen. Weder mit Beton noch mit Ziegelsteinen. Die 1922 von Walter Bauersfeld für Zeiss Jena gebaute Stahlbetonkuppel kam auf einen beachtlichen Wert von 266. Die halbkugelförmige Netzwerkschale hatte eine Spannweite von 16 Metern, Radius 8 Meter, Schalendicke 3 cm (!). Eladio Diestes Ziegelschalen für einen Getreidesilo in Young, Uruguay, kommen immerhin auf einen Wert von 73 und sind damit immer noch im Verhältnis dünner als die Schale eines Hühnereis.

Aus diesen Werten lässt sich ablesen, wie materialsparend mit (gleichsinnig oder gegensinnig) doppelt gekrümmten Schalen gebaut werden kann. Heute muss man sagen: gebaut werden könnte. Baukosten lassen sich heute vor allem durch Einsparungen bei der Arbeitszeit verringern, nicht durch Einsparungen beim Material. So elegant und leicht Schalenbauten auch immer wirken, sie herzustellen ist zeitaufwendig. Unter anderem deshalb, weil Hilfskonstruktionen gebaut und eingeschalt werden müssen. Also macht es Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, wie man dem entgegenwirken kann, sprich: Wo man Zeit einsparen kann. Félix Candela und Ulrich Müther nutzten die Geometrie der Hyparschalen, die das Einschalen mit normalen, geraden Brettern ermöglicht. Heinz Isler ging das Problem bei seinen Betonschalen unter anderem durch wieder verwendbare, standardisierte Schalungselemente an. Aber ohne Hilfskonstruktionen und Schalung kamen alle drei nicht aus.

Ziegelvarianten und Aufbau des bewehrten Fertigteil-Elementes (Bild: KGBauko)

Ziegelvarianten und Aufbau des bewehrten Fertigteil-Elementes (Bild: KGBauko, Alexander Pick)

Alexander Pick wollte den Bauprozess bei seinem Forschungsprojekt durch Vorfertigung beschleunigen. Dafür hat das Institut für konstruktives Gestalten und Baukonstruktion, TU Darmstadt zusammen mit Deppe Backstein-Keramik, dem Steenfelder Betonwerk, der Firma Johann Meinders und den Beratenden Ingenieuren Ripkens Wiesenkämper daran gearbeitet, die Herstellung mehrfach gekrümmter, bewehrter Ziegelschalen durch vorgefertigte, planare (= ebene) Bauteile zu vereinfachen – ohne dabei den kontinuierlichen Schwung der Schalenform zu »zerhacken«.

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Das Lehrgerüst (Bild: Alexander Pick)

Gearbeitet wurde mit vorgefertigten Elementen in der Größenordnung von 1 mal 1 Meter (bei einer Dicke von 11,5 Zentimetern) für ein Gesamtmaß des Experimentalbaus von etwa 15 x 5 Metern. Eine weitere Verfeinerung des Rasters hätte wohl zu perfekterer Einhaltung der Schalenform, aber auch zu mehr Zeitaufwand geführt. Bei noch gröberem Raster hätten sich die Zeiteinsparungen durch Vorfertigung wohl weiter optimieren lassen, aber die »kantigen« Abweichungen von der Schalenform wären jenseits des mit 1 x 1 Meter gefundenen Kompromisses bald unübersehbar geworden.

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Blick auf die Ziegelschale (Bild: Christian Bierwagen)

Wie bereits erwähnt, lässt sich das Ergebnis der Forschung inzwischen nur noch in Fotografien betrachten, die Versuchsschale wurde abgerissen. Ist also der Versuch missglückt? War die Zeiteinsparung durch Vorfertigung womöglich nur marginal? Der Abriss setzt ein Zeichen, das nicht weiter kommentiert wird. Auf der Website der Ziegelei Deppe werden die Ziegelschalen-Versuche mit keinem Wort erwähnt. Dabei wäre es wichtig, das hoch effiziente Konstruktionsprinzip der Schale in unterschiedlichen Material-Dispositionen – Beton, Kunststoff, Stein, Ziegel, Glas – weiterzuentwickeln, denn auch ikonographisch signalisiert der Typus einzigartig eine gemeinschaftsorientierte Gebäudefunktion. So bleibt die Zuversicht, dass im Kontext der Schalenbau-Offensive, die mit Tagungen in den Zeiten nach Corona fortgesetzt wird, Mut zu neuen Experimenten gemacht wird.3)


1) DBZ 12/2020, Seite 59; Detail, 6/2019

Candela_Isler_Muether_Cover2) Druckfrisch: Matthias Beckh, Juan Ignacio del Cueto Ruiz-Funes, Matthias Ludwig, Andreas Schätzke , Rainer Schützeichel: Candela Isler Müther. Positions on Shell Construction. Positionen zum Schalenbau. Posturas sobre la construcción de cascarones. 208 Seiten, ISBN: 9783035620962, 59,95 €. Ich war am Zustandekommen des Buches nicht unbeteiligt, zumal mit meinen Fotodokumentationen über Ulrich Müthers Bauten, vom »Ahornblatt«, Berlin bis zum »Teepott« in Warnemünde. Auch daraus erklärt sich, warum ich sofort auf die Beiträge in der DBZ und bei Detail aufmerksam wurde.

3) Die nächste Candela-Isler-Müther-Tagung hätte längst an der ETHZ stattfinden sollen, wurde wegen Corona jedoch schon zwei Mal vertagt.