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Jeder Entwurf beginnt mit der Analyse des Vorhandenen. So selbstverständlich diese Maxime zu sein scheint, so selten wird sie erkennbar befolgt. Der Schweizer Architekt Luigi Snozzi folgte diesem Prinzip sein Leben lang in Praxis und Lehre und hinterließ ein keineswegs üppiges, aber eindrucksvolles, einzigartiges Oeuvre, das kein einziges Mal dem Spektakulären huldigt.

Oben: Monte Carasso, Convento agostiniane (Bild: Wiki Commons, Flautor)

Anfang der 1980er Jahre pilgerten wir als Studenten über die Alpen ins Tessin, wo, wie man aus den Fachzeitschriften und von den Lehrkräften erfahren hatte, ein Architekturparadies wartete. Einmal abgesehen davon, dass das Tessin ein landschaftlich hinreißendes Stück Europa ist, fragte man sich gleich, was es mit dieser Art zeitgenössischer Architektur auf sich hat, die als Teil der Kulturlandschaft so einfach, so selbstverständlich, so durchdrungen vom genius loci war. Jürgen Joedicke hatte uns 1982 mit dem gerade erschienen Buch „Genius Loci“ von Christian Norberg Schulz vertraut gemacht, das 1979 erstmals in Mailand erschienen war; und er hatte auf die Ausstellung „Tendenzen, neue Architektur im Tessin“ hingewiesen, die 1975 an der ETH Zürich gezeigt worden war.1) Die Bilder neuer Tessiner Architektur machten uns sprachlos, so etwas gab es hierzulande nicht. Also ging’s nach Bellinzona (Monte Carasso), Minusio, Orselina…

2013 erhielt Luigi Snozzi die Ehrendoktorwürde der TU München, dazu gab es eine Ausstellung und die Präsentation von Snozzis 25 Aphorismen zur Architektur" (Bild: TUM)

2013 erhielt Luigi Snozzi die Ehrendoktorwürde der TU München, dazu gab es eine Ausstellung und die Präsentation von Snozzis „25 Aphorismen zur Architektur“ (Bild: TUM)

Und man befasste sich mit den Architekten, die dort so ungewohnt ortstypisch bauten. Aurelio Galfetti (*1936), Livio Vacchini (1933-2007), Luigi Snozzi (*1932-2021) – ihre Bauten faszinierten als erkennbare, eigenständige Gegenwartsarchitektur, die in Proportionen, Materialien und ortsbezogenen Entwurfsthemen einfach großartig in ihr Umfeld passten – seien es Stadt oder Landschaft. Dass im Tessin aber auch so banal wie in Stuttgart oder Berlin gebaut wurde, offenbarte sich sofort. Gerade deswegen interessierte uns, was Luigi Snozzi und seine Kollegen veranlasst hatte, eigene Wege zu gehen und wie sie es begründeten, ohne sie gleich einem Regionalismus zuzuordnen. Zu einer reflektierten, eigenen Argumentation in der Weltanschauung – um mal nicht gleich hochtrabend von „Theorie“ zu reden – kam nur Luigi Snozzi, der als bekennender Sozialist der Stadt, dem Gemeinwesen, der Kontinuität im geschichtsbezogenen Erscheinungsbild von Architektur eine uneingeschränkt vorrangige Bedeutung beimaß. So ist auch der rund zwanzig Jahre ältere Gino Valle (1923-2003) zu erwähnen, der in Udine wirkte.

Werke der Tessiner und vor allem von Luigi Snozzi interessierten uns damals mehr als vieles, was der fast gleichaltrige, in der Theorie aktiviere Aldo Rossi (1931-1997) spröde, monumental-dekorativ als Konsequenz seines „razionalismo“ realisierte.2) Es war, wie bei Bruno Reichlin und Fabio Reinhart, eine andere Linie der vielfältigen „Moderne“, die sie innerhalb der Schweiz verfolgten. Dolf Schnebli (1928-2009), Ernst Gisel (*1922) und viele andere: Die Vielfalt der „Modernen“ in der Schweiz beeindruckte.3)

Luigi Snozzis 25 Aphorismen in der Edition Bibliothek Oechslin, 2013

Luigi Snozzis 25 Aphorismen in der Edition Bibliothek Oechslin, 2013

Luigi Snozzi in seiner auch ethisch unbeugsamen Haltung prägte mit seinen Lehrtätigkeiten an der ETH Zürich und an der EPFL in Lausanne und mit vielen Vorträgen im In- und Ausland nachfolgende Generationen genauso wie er die Mitarbeiter seines Büros beeinflusste. Unter anderem gehörte Raffaele Cavadini dazu, der in Intragna aufgriff, was Luigi Snozzi in Monte Carasso begonnen hatte. Mario Botta (*1943), Ivano Gianola (*1944), der erwähnte Raffaele Cavadini (*1954): Auch was diese Architekten in der Folge von Luigi Snozzi bauten, lockt immer wieder ins Tessin.

Und apropos Kontinuität: Mario Botta gründete Mitte der 1990er Jahre in seiner Heimatstadt Mendrisio eine Architekturakademie, aus der sich eine neue, teils formalistischere Architektenszene im Tessin entwickelte.4) Roman Hollenstein nahm sich 2006 in der NZZ dieser jüngeren Tendenzen in früher Annäherung an, Snozzi wertschätzend.5) Geschichte spielt in der Schweiz ohnehin eine Rolle, deren Relevanz für die Gegenwart nicht primär infrage gestellt oder ideologisch instrumentalisiert, sondern erforscht wird.6)

Die Bedeutung des bisweilen kauzigen, politisch engagierten und jetzt infolge einer Covid 19-Infektion verstorbenen Luigi Snozzi lässt sich in der besonderen, Generationen übergreifenden Entwicklung der Architektur im Tessin verfolgen. Von welchen Gegenwartsarchitekten, die sich allzuoft in ökonomischem Erfolg verlieren statt baukulturelle Anliegen lebenslang zu verfolgen, ließe sich das sagen?


1) Der Ausstellungskatalog wurde 2010 neu aufgelegt – mit einer neuen Einleitung von Heinz Ronner und Martin Steinmann. Martin Steinmann, Thomas Boga (Hrsg.): Tendenzen. Neuere Architektur im Tessin. Nachdruck der 3. Auflage von 1977. Basel 2010

2) Herausragend dokumentiert in einem Buch mit Fotografien von Gabriele Basilico: Monte Carasso: Monte Carasso: la ricerca di un centro. Un viaggio fotografico di Gabriele Basilico con Luigi Snozzi…, Baden, 1996

3) dazu auch Kenneth Frampton: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte. Stuttgart. 8. Auflage, 2010, Seite 274 f.

4) Accademia di Architettura in Mendrisio, https://www.arc.usi.ch/it;

https://www.nextroom.at/article.php?id=24799

5) Roman Hollenstein: Verstand und Gefühl. Weitung des Blickfelds – neue Entwicklungen und Tendenzen in der Tessiner Architekturszene. In: NZZ, 2006, online bei > nextroom (https://www.nextroom.at/article.php?id=24799)

6) siehe die gta-Reihe „Dokumente zur modernen Schweizer Architektur“