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Stilkritik (53): „1968“: Im Literaturarchiv Marbach ging man kürzlich der geschichtsphilosophischen Dimension der 68er nach, in einer Tagung der Konrad Adenauer Gesellschaft wurde versucht, den „konservativen 68ern“ die eigentlichen Verdienste für die Fortschritte zuzuschreiben, und in einer von den Regisseuren auf Krawall gebürsteten „hart aber fair“- TV-Debatte wurden kaum fassbare, falsche Gegensätze aufgebaut. Die Jahreszahl 1968 steht für eine ganze Generation, die es in der angeblichen Homogenität nicht gab. Schon vor zwanzig Jahren widmete sich der „Baumeister“ den 68ern – ein Rückblick auf einen Rückblick.


„Altachtundsechziger“ schimpfen jetzt die Rechten auf die vermeintlich homogene 68er-Generation, und es hört sich an, als meinten sie Alzheimer. Rudi Dutschkes Witwe Gretchen hat mit ihrem aktuellen Buch daran erinnert, „worauf wir stolz sein dürfen“ und festgehalten: „Die Kritik der 68er an dem globalen Wirtschaftssystem bleibt gültig, auch wenn das Ziel nach all den historischen Erfahrungen nicht mehr Sozialismus heißen muss.“ Auch Fernsehen und Tagespresse lassen das Thema nicht aus. Bei den Zeitungen gibt es allerdings kaum noch Redakteure, die selbst in der Studentenbewegung gehämmert und gesichelt haben. Aber jeder kennt einen, der ihn mit farbigen Bildern versorgen kann, und damit lässt sich ein süffiger Text abmischen, der von der DKP über den ehemaligen Juso Gerhard Schröder bis zu Kevin Kühnert reicht und das Dilemma der SPD zeigt, linke Positionen zu finden. Gibt es sie noch, die „guten“ Dinge, außer bei Manufactum? Hilmar Klute (Jahrgang 1967) zum Beispiel hat sie gerade für die Süddeutsche Zeitung gesucht.
Und das kam mir bekannt vor: Im Januar 1998 hatte ich die Serie „Mythos ’68“ im Baumeister eingeleitet. Zu Wort kamen in den folgenden Monaten zwölf Autorinnen oder Autoren, auf deren Zeugenschaft wir neugierig waren: Arno Lederer, Uli Hellweg, Roland Burgard, Gert Kähler, Christiane Thalgott, Winfried Nerdinger, Volker Theissen, Jörg Pampe, Gernot Minke, Werner Durth, Joachim Schlandt und Wolfgang Kil. Der Gestalter Bernd Kuchenbeiser hat ihren Texten ein unübersehbares Flugblatt Layout gegeben.

Uli Hellweg als Sttudent, später u. a. Chef der IBA Hamburg

Uli Hellweg als Student, später u. a. Chef der IBA Hamburg

Seite Eins, Januar 1998: Nach Jahr und Tag

„Architekten, die heute um die fünfzig sind, haben vor dreißig Jahren studiert: 1968, dem Jahr, das wie ein Rubrum eine ganze Generation stempelt. Man war kein eingetragenes Mitglied, die Bewegung war unüberschaubar und heterogen, und alle gehörten dazu, die irgendwie “fortschrittlich“ und links waren. Christoph reklamierte das allgemeinpolitische Mandat und kämpfte gegen Nixons Vietnamkrieg, Biggi vom KSV legte sich mit den Revisionisten der DKP an, Elke forderte das Projektstudium und bestreikte die Baustoffkundeklausur, Thomas entlarvte die Bauleitplanung des Märkischen Viertels als Konkretion der Verelendung des bürgerlichen Staates, und Axel lebte in einer verkifften WG und konnte “Purple Haze“ auf der Gitarre spielen. Wer ‘68 nicht dazugehörte, war ein rechter Arsch.
Dreißig Jahre später neigen wir eher dazu, das, was uns damals lebensnotwendig erschien, unter heiteren Aspekten zu sehen. Ja, man war damals gnadenlos, humorlos, man hat an Dinge geglaubt oder glauben müssen, man hat erfahren, verzichtet, gestritten, gezweifelt, sich stark gefühlt in Gruppen, oder man ging daran zugrunde.
Ich war kein Revolutionär. Bestens versorgt mit allem, gab es keinen Grund, am Leistungsprinzip und dem gerechten Lauf der Welt zu zweifeln. Da hieß es erst, in geradezu urchristlicher Sympathie die Ausgebeuteten, die gar nichts von ihrem Elend merkten, zu erkennen und sich für ihre Interessen einzusetzen. Aber die Wut, an der Seite der Arbeiterklasse zu kämpfen, war nicht echt. Es muß einem schon selbst die Butter vom Brot geholt werden, um gegen die Ungerechtigkeit aufzustehen. Ich wollte doch nur schöne Häuser bauen. Überbauphänomen, klar. Kein politischer Durchblick. Da galt es die blauen MEW-Bände zu lesen. Nationalökonomie für Architekten. Und ich wußte doch nicht einmal, wie Aktienkurse zustande kamen.
Und dennoch, man konnte sich nur bei den Linken aufhalten. Es waren aufrechte Demokraten darunter, schlaue Kerle, die nicht nur ihren auswendig gelernten Marx daherseierten. Die auch ernste Musik hörten und sich in der Literatur auskannten. Sie hatten die Welt gesehen, die äußere und die innere, erzählten von schönen Reisen und schrecklichen Trips. Sie hatten Prinzipien und konnten erklären, wie alles zusammenhing. Von ihnen habe ich gelernt, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, daß man vorsichtig sein muß mit allem, was schon immer reibungslos funktionierte, daß Würdenträger, Uniformträger, Bedenkenträger verdächtig sind, daß alles, womit sich Geld verdienen läßt, erst mal fragwürdig ist und die Routine der Tod der Phantasie. Lieber sich das Maul verbrennen als sich den Hintern breitsitzen!
Wie man schnell baubare Häuser zeichnet, habe ich erst kurz vor dem Diplom kapiert. Ich kannte die braven Studenten, die schnell ihr gutes Examen gemacht haben, und die, die sozial engagiert oder scheinbar völlig lebensuntauglich vor sich hinwerkelten.
Nach Jahr und Tag. Wir fragen die Dabeigewesenen, an was sie sich erinnern, was gut war, was unnötig, wozu politisches Engagement notwendig ist, warum es heute fehlt und was das alles mit Architektur zu tun hat.“