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Joseph Gandy: Public and Private Buildings executed by Sir John Soane, 1818

Der Alltag — Orientierung und Maßstab in der Architekturgeschichte? Teil 1: Architektur auf ihre Rolle im Alltag zu befragen, ist kein leichtes Unterfangen, denn das Alltägliche lässt sich kaum als etwas betrachten, das außerhalb von uns ist. In der Architekturgeschichte spielt das Alltägliche deswegen kaum eine Rolle. Architektur soll im Gegenteil gerade nicht alltäglich sein – und in den Architekturtheorien der Geschichte wird sie dabei zum Bild einer idealen Ordnung. Die Moderne hat damit nicht gebrochen. Im Gegenteil.


Am 9. Februar 2018 fand im Deutschen Architekturmuseum das Symposium „Grau, bunt schwarz-weiß? – Der Alltag der Architektur“ statt – eine Veranstaltung des BDA Hessen und des Deutschen Architekturmuseum DAM. Marlowes präsentiert ausgewählte Beiträge.



Mit dem Alltag hat es so seine Schwierigkeiten. Lebt man in ihm, nimmt man ihn kaum wahr. Versucht man ihn von außen zu betrachten, hört er auf, etwas Alltägliches zu sein. Der Alltag ist also etwas, was zum Leben gehört und wie die Luft zum Atmen ungreifbar bleibt. Walter Benjamin, der Chronist des modernen Lebens, hat darin zugleich eine wesentliche Eigenschaft der Architektur gesehen. Architektur, so Benjamin, werde primär gewohnheitsmäßig oder taktil wahrgenommen. (1) Wir bewegen uns in ihr, benutzen und berühren sie, ärgern uns vielleicht über sie, ohne, dass sie uns während unserer alltäglichen Verrichtungen jemals zu Bewusstsein gelangte. Sie ist eingewoben in unsere täglichen Routinen, deren Existenz wir ebenso selten befragen wie deren architektonische Rahmungen. Alltäglichkeit ist einfach da, ohne dass sie als ein uns äußerer Gegenstand betrachtet werden kann.
Hier könnte man eigentlich schon jede Reflexion über das Verhältnis von Architektur und Alltag einstellen. Denn wenn es stimmt, dass Architektur nichts anderes ist als der Ort, dessen Sichtbarkeit sich uns durch die Routinen des Alltags entzieht, kann dieser Ort auch nicht als ein eigenständiger Gegenstand angeschaut werden. Vielmehr verschwindet er hinter dem Schleier unbewusster, manchmal träumerischer oder auch traumatischer Erfahrungen. Mit anderen Worten, Architektur und Alltag stehen sich nicht gegenüber wie zwei Dinge, die fein säuberlich voneinander getrennt werden könnten. Die Architektur muss stattdessen in einem sehr viel weiteren Sinne als eine Welt der Dinge aufgefasst werden, in die der Alltag immer schon eingelassen ist. Sie umgibt uns in einem Maße, dass sie uns zur zweiten Natur geworden zu sein scheint.

Sie rückt uns gewissermaßen auf den Leib. Sie ist eine Bedingung unserer Existenz wie die Sprache eine Bedingung unseres Denkens ist. Oder wie es der Philosoph Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit der Architektur Ende der achtziger Jahre ausdrückte: „Der Begriff von Architektur ist selbst ein bewohntes Konstruktum, ein Erbe, das uns miteinbegreift, noch bevor wir versucht haben, es zu denken.“ (2) Mit anderen Worten, der Begriff der Architektur ist eine Konstruktion, die uns prägt, bevor wir überhaupt darüber nachdenken können. Er ist eine kulturelle Konvention, die sich dem Alltäglichen entziehen soll.


Abstrakt, überzeitlich, aber nicht alltäglich

Es mag daher kaum überraschen, wenn das Alltägliche in der Architekturgeschichte so gut wie keine Rolle spielt. Denn nimmt man Derridas bündige Definition ernst, dann wäre die Architektur nicht Spiegel und Gestalterin des unmittelbaren Alltags, sondern das Produkt eines langen kulturgeschichtlichen Prozesses. Eines Prozesses, der viel über architektonische Idealvorstellungen in der Menschheitsgeschichte erzählt, aber wohl kaum über den Alltag. Was wir unter Architektur verstehen, scheint sich ja gerade dem Alltag zu entziehen. Sie ist, so könnte man sagen, eine Reduktion alltäglicher Komplexität mit normativem Wirklichkeitsanspruch.

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Walter Rivius: Vitruvius Teutsch, fol. 62, Nürnberg 1548

Die Geschichte der Architekturtheorie stellt sich daher bis heute im wesentlichen als eine Geschichte von Abstraktionen dar. Abstraktionen, die allgemein gesprochen, einem Prozess der Vergesellschaftung entsprechen. Und zwar basierend auf der einfachen Annahme, die Natur des Menschen neige zur Bildung größerer sozialer Einheiten, die ihren Ausdruck zwangsläufig im Architektonischen finden. Wobei nicht immer zwischen der repräsentativen Architektur und dem Haus als Ort alltäglicher Praktiken unterschieden wird.

So entsteht schon bei Vitruv die Architektur respektive Kultur, indem sich Menschen um ein Feuer versammeln und eine Gemeinschaft bilden. Erst durch diesen ersten zivilisatorischen Akt, und übrigens gleichzeitig mit der Modulation von Lauten zu Sprache, entstand aus einfachen Behausungen allmählich jene Welt der Dinge, die später Architektur genannt werden wird. Architektur, so die antike Auffassung, ging damit einerseits direkt aus der Natur des Menschen hervor und schuf andererseits eine zweite ihm gemäße Natur,die erst der neuen Gemeinschaft eine bleibende Form verlieh. Die Aufgabe der Architektur als zweiter Natur bestand also gerade nicht darin, der Unberechenbarkeit des Alltäglichen und Subjektiven eine Form zu geben. Gute Architektur, wie sie von Vitruv verstanden wird, ist stattdessen, wie die Rede vom Gesellschaftskörper auch, eine Gemeinsamkeit stiftende Objektivierung des Subjektiven. Sie verhilft dem Gesellschaftskörper, das heißt einem komplexen und mit der Menschheitsgeschichte zunehmend unverständlicher werdenden Geflecht aus juridischen Vereinbarungen und politischen Ordnungsvorstellungen, zu dauerhafter Sichtbarkeit.

Staatstheorie und Idealisierung bestehender Verhältnisse

Der italienische Humanist Leon Battista Alberti hat dies wie kein anderer begriffen. Sein im 15. Jahrhundert entstandener Traktat „De Re Aedificatoria“ ist nur oberflächlich betrachtet ein Architekturbuch. Es geht darin gerade nicht um den Alltag und seine unberechenbaren Dynamiken, sondern um eine bleibende Ordnung der Dinge, der sich das Individuum zu unterwerfen hat. Und damit auch das alltägliche Leben. Entsprechend ist die Beschreibung der Architektur selbst von Ordnungsmetaphern aus den unterschiedlichsten Bereichen durchdrungen. Das Bauen selbst, das heißt, die konkrete Herstellung eines Baukörpers, der den an ihn gestellten funktionalen und konstruktiven Anforderungen entspricht, spielt darin ebensowenig eine Rolle wie eine Analyse des gegenwärtigen Alltags. Es zeichnet den Entwurf einer theoretischen Architektur ja gerade aus, dass er sich soweit es geht jeder raumzeitlichen und materiellen Konkretion entzieht. Den alltäglichen Praktiken, die auf die Lebensspanne eines Menschen begrenzt und damit wenig dauerhaft sind, setzt sie Überzeitlichkeit und Stabilität entgegen.

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Thomas Hobbes: Leviathan, London 1651

Worum es hier geht, ist der Versuch einer organischen Körpertheorie, die vom Menschen ausgeht und dessen Körper mit dem der Architektur in einem analogischen Spiegelungsverhältnis sieht. Dabei wird mehr als nur einmal deutlich, dass Alberti hiermit nicht nur ein Prinzip der Architektur verstanden wissen will. In seiner Auffassung, dass das Haus ein Staat im Kleinen und der Staat ein Haus im Großen sei, wird das eigentliche Ziel deutlich. Es geht um die Konstruktion eines schönen Staatsgebildes und nicht um die Architektur im engeren Sinne.

Die Architektur ist vielmehr Mittel zum Zweck, indem sie als Inbegriff von Ordnung und Vollkommenheit das Bild oder Symbol eines gerechten und legitimierten Machtverhältnisses schaffen soll. Mit anderen Worten, sie naturalisiert einen Zustand, der doch eigentlich künstlich herbeigeführt worden war. Es geht also nicht um die Utopie einer kommenden Architektur der Gesellschaft, sondern um eine Idealisierung bestehender Verhältnisse. Diese erfahren ihren größten symbolischen Ausdruck im monumentum, das heißt in der Verschmelzung von Herrscher und Architektur zu einem ewigen Körper.

Illustrieren könnte man Albertis Staatstheorie mit dem nahezu zweihundert Jahre später erschienenen Leviathan von Thomas Hobbes. Darin gehen die Bürger einer Stadt, die man im Bildvordergrund sieht, in den Körper des Herrschers auf, der hier sowohl als weltlicher als auch als geistlicher Herrscher vorgestellt wird. Und dem sich die Bürger freiwillig ergeben, weil sie sich der Tatsache bewusst sind, dass sie von dieser Unterordnung des Eigeninteresses zugunsten des allgemeinen Interesses profitieren.


Architekturgeschichte als bewohntes Konstruktum

Die Moderne bedeutete keinesfalls einen Bruch mit dieser Auffassung. Eher ließe sich von deren Radikalisierung sprechen. Radikalisierung in dem Sinne, dass die vormals theoretische Bestimmung der Architektur als eine Metapher oder Repräsentation des Ordnens nun tatsächlich den Anspruch einer umfassenden Wirklichkeitskonstruktion erhob. Eine Konstruktion, die ihren Bezug zur Lebenswelt und damit zum Alltag des Menschen vor allem darin sah, dass sie ihre Ordnungsbegriffe, die sie mühevoll komplexen Abstraktionsprozessen abgerungen hatte, zu objektiven Prinzipien des Bauens erklärte. Damit, so schien es, hatten also auch endlich in der Architektur Aufklärung und Rationalität Einzug gehalten. Dem universalen Anspruch von abstrakten Begriffen wie Nation, Staat und Subjekt entsprachen nicht weniger abstrakte Formen. Begriff und Form, Mensch und Architektur, so schien es, waren seit dem 19. Jahrhunderts endlich wieder eins geworden.
Dass dieser Mythos so erfolgreich sein konnte, ist vor allem auch eine Leistung der Architekturgeschichtsschreibung. Wird im Zusammenhang mit der Architektur selbst zumeist von einer Überwindung der Geschichte gesprochen, so bedeutet dies keinesfalls, dass die Architekturgeschichte als wissenschaftliche Disziplin an Bedeutung verloren hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Je radikaler nämlich die Protagonisten des Neuen Bauens auf eine Verankerung in der Tradition verzichteten, desto mehr konnte sich die Architekturgeschichte ihrerseits als objektive Darstellung einer sich selbst erfüllenden Geschichte begreifen. Allein dem Historiker sollte es nunmehr erlaubt sein, zu beschreiben, was eigentlich aus der Sicht der Architekten keiner Beschreibung bedurfte.


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Emil Kaufmann: Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der autonomen Architektur, Wien 1933 (Reprint 1985)

Den ersten ernstzunehmenden Versuch zu einer positiven Bestimmung der Moderne aus dem Geist der Geschichte unternahm der österreichische Kunsthistoriker Emil Kaufmann 1933 in seinem Buch „Von Ledoux bis Le Corbusier“. Die Architekturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert wird darin in aufsteigender Linie als Entwicklung von der Fremdbestimmung zur autonomen Form dargestellt. Dies zeigt sich insbesondere in Kaufmanns Interpretation der französischen Revolutionsarchitektur. Für deren wichtigsten Vertreter hält er Claude-Nicholas Ledoux (1736–1806). Mit dessen Werk, so Kaufmann, sei erstmals der Versuch zu einer Befreiung der architektonischen Form von den gesellschaftlichen Konventionen des Ancien Régime unternommen worden. Eine Befreiung, die analog zur Befreiung des Individuums von der Willkür des absolutistischen Staates gesehen wird. Insbesondere Ledoux’ modern wirkende Entwürfe für die Idealstadt von Chaux mit ihren fabriques zeugten von dem Bewusstsein, dass die »barocke Allbeseelung« des 18. Jahrhunderts nicht mehr im Einklang mit den Wünschen und Ideen einer aufgeklärten Gesellschaft gestanden hätten. An deren Stelle traten nun in der Wahrnehmung Kaufmanns die »autonomen Mittel der Architektur«. Seitdem habe sich Architektur in den Dienst der aufgeklärten Nation und ihrer bürgerlichen Massen gestellt. Ledoux selbst wird als einsamer Revolutionär eingeführt, der gegen die Vorurteile der eigenen Zeit ankämpfen musste. Selbst noch an den traditionellen Idealen geschult, habe er gleichsam im Alleingang den barocken Architekturverband zerschlagen und durch die reine autonome Form ersetzt.

Zeigte sich in der Beschäftigung des Architekten mit den einfachen Menschen und ihren alltäglichen beruflichen Verrichtungen nicht das neue Gleichheitsprinzip der aufgeklärten Nation? Das soziale Gewissen einer neuen Zeit, die auch die Lebenswelt des einfachen Menschen Ernst nahm? Dass es sich dabei mitnichten um Entwürfe handelte, die während der französischen Revolution, sondern erst sehr viel später zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden waren, ignoriert Kaufmann schlicht. Auch ignoriert der Kunsthistoriker, dass viele der weniger visionären Bauten Ledoux’ in ihren späteren Darstellungen eine umfassende Überarbeitung erfuhren. Der Unterschied zwischen den realisierten Projekten Ledoux’ und deren nachträglich in seinem Vermächtnis überarbeiteten Bildfassungen, schien angesichts des heroischen Siegeszugs der Moderne nicht von Bedeutung. Vielmehr wird die Differenz zwischen Realität und Bild vollständig ausgeblendet. Das Bild ist vielmehr die Realität.


Zum zweiten Teil des Beitrag: Haus am See oder im Schwarzwald >>>

Zum dritten Teil des Beitrags: Haus, Maschine und die Schönheit der Dingwelt >>>


(1) Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Band 1.2, Frankfurt am Main 1991, S.504.
(2) Derrida, Jacques: Am Nullpunkt der Verrücktheit. Jetzt die Architektur, in: Arch+ 96/97, 1988, S.56. Kursivsetzung im Original
Symposium
9. Februar 2018
Grau, bunt, schwarz-weiß?
Der Alltag der Architektur
Beiträge
Programm
Eine Veranstaltung des BDA Hessen
und des Deutschen Architekturmuseum DAM