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Kontingenzen des Gebauten


Formen alltäglichen Umgangs mit Architektur, Teil 2: Bildung, sozialer Status, Herkunft entscheiden wesentlich darüber, wie Menschen mit Architektur umgehen und umgehen können (siehe: Eine Villa putzen). Aber die Gebäude selbst sind mehr als eine Folie lediglich individueller Prägung. Sie entfalten ein Eigenleben und legen uns eine kollektive Weltdeutung nahe. Das heißt aber nicht, dass eine solche Deutung unveränderlich ist.


Am 9. Februar 2018 fand im Deutschen Architekturmuseum das Symposium „Grau, bunt schwarz-weiß? – Der Alltag der Architektur“ statt – eine Veranstaltung des BDA Hessen und des Deutschen Architekturmuseum DAM. Marlowes präsentiert ausgewählte Beiträge.



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Komplexe Konstrukte. Auch Bauten sind Eingriffe in die Welt, die ein Eigenleben entwickekn und uns deutend gegenübertreten. Stuttgart, Oper und Landtag, während der Umbauphase des Landtags. (Bild: Christian Holl)

Internalisierungseffekte sind einer von drei Aspekten, aus denen sich die Idee einer wissenssoziologischen Architekturforschung zusammensetzt. Die These lautet: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt entsteht in einem Prozess aus Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Die drei Pole des daraus aufgebauten Modells stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Unter Externalisierung versteht man in der Wissenssoziologie jede Form menschlichen Handelns, mit der – so die Annahme – immer eine Form subjektiver Sinnentäußerung verbunden ist – deshalb „Externalisierung“.   Es geht darum, deutlich zu machen, dass alles, was wir tun (sei es „Sprechen“, „Sitzen“, „Bauen“ …) immer ein interpretierendes Eingreifen in die Welt darstellt. Anders formuliert: Wir deuten – ob bewusst oder unbewusst – mit jeder Handlung eine bestehende Situation – und verändern beziehungsweise entwickeln sie durch unser Tun weiter.

Häuser, materielle Objektivationen

Objektivationen wiederum sind das Ergebnis wiederholter menschlicher Handlungen, also Verfestigungen im Handeln oder Muster, die sich aus dem Handeln ergeben. Das können Routinen, Habitualisierungen, Rollen, Denkschemata und Institutionen – aber auch Dinge und Gebäude sein. Objektivationen stehen uns dann – ob materiell oder immateriell – „dinghaft“ gegenüber. Das heißt, sie sind Strukturen, die wir in unserem weiteren Handeln nicht einfach ignorieren können und die – im Gegenteil – unser Handeln stark mitprägen.
Internalisierung wiederum bedeutet, die Aneignung dieser „Objektivationen“ durch körperliche und bewusstseinstechnische Prozesse. Routinen, Rollen, Denkschemata, Institutionen und der Umgang mit Dingen werden uns im Prozess des Hineinwachsens in eine Gesellschaft durch „signifikante Andere“, also Eltern, nahe Bezugspersonen oder auch Lehrer vermittelt. Wir übernehmen dann zu einem Großteil das, was uns vorgelebt wird.

Dieses Modell lässt sich explizit auf Aspekte der gebauten Umwelt übertragen. Hier bedeutet Externalisierung nichts anders als das Entwerfen und Bauen von Gebäuden; diese wiederum lassen sich dann als materielle Objektivationen begreifen, die uns so gegenüberstehen, als deuteten sie für uns die Welt, da sie ein Eigenleben entwickeln und damit einen bestimmten Zwang auf uns ausüben. Über Prozesse der Internalisierung, also der alltäglichen Nutzung und Handhabung werden sie angeeignet.
Meine architektursoziologische These lautet nun: Um den Sinn eines Gebäudes zu verstehen, muss man alle drei Ebenen dieses Modells berücksichtigen. Zu fragen wäre deshalb erstens: In welchem gesellschaftlich-historischen Kontext ist ein Gebäude entstanden? Wer war der Architekt oder die Architektin? Und wer der Auftraggeber oder die Auftraggeberin? Was sollte mit dem Gebäude bewirkt werden? Zweitens: Was „tut“ das Gebäude, indem es da steht, wo es steht? Wie lenkt es Blicke und Bewegungen? Wie wurde es kollektiv gedeutet? Ist es zum Symbol für etwas geworden? – Und drittens: Wie wird es aktuell genutzt? Von wem? Wofür? Wird es seiner ursprünglichen Idee gemäß genutzt? Oder wird es umgenutzt oder gar zweckentfremdet? Was passiert dadurch mit der ursprünglichen Idee? Welche Bedeutungsebenen werden dem Gebäude mit einer eventuell neuen Nutzung zugeschrieben?

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Wesentlicher Teil des Sinn, den ein Gebäude darstellt und konstruiert, ist die Art, wie es genutzt und verändert wird. (Bild: Christian Holl)

Die Soziologie hat ihre besonderen Stärken in der Untersuchung des dritten Aspektes, also bei der Analyse von Prozessen der Internalisierung, der Aneignung des gebauten Raums. Das zeigt das Beispiel von Guadalupe Acedo und dem Maison à Bordeaux besonders eindrucksvoll (siehe Teil 1 >>>). Das Maison à Bordeaux gilt als architektonisches Meisterwerk. Und dennoch entfaltet es seine volle Bedeutung erst, wenn es auf dem Boden seiner alltäglichen Benutzung angekommen ist. Um noch einmal die New York Times zu bemühen: Lebendig wird es erst, wenn es von Menschen bewohnt wird, auch wenn dieses Bewohnen bisweilen einem Tanz ähnelt, bei dem sich die Tanzpartner gegenseitig auf die Füße treten. (2)

Was aber passiert nun genau bei diesem „Bewohnen“? Die Internalisierung der gebauten Umwelt lässt sich nur vor dem Hintergrund eines Wechselspiels zwischen Bewusstsein und Körper verstehen. Sich ein Gebäude anzueignen, bedeutet zum einen, Körpertechniken zu entwickeln, die eine routinierte, sichere Handhabung des Gebäudes erlauben. Man kann sich dann buchstäblich blind in einem Gebäude bewegen. Aneignung bedeutet zum anderen allerdings auch, sich als Person zu einem Gebäude ins Verhältnis zu setzen. Aus dem Beispiel der Koolhaas-Villa in Bordeaux wurde deutlich, dass dies höchst variabel ist. Der Hausherr hat ein anderes Verhältnis zu seinem Haus als die Putzfrau; wieder anders schauen Architekturliebhaberinnen auf den spektakulären Bau. Die Aneignung eines Gebäudes variiert also mit Sicherheit entlang sozialstruktureller Merkmale wie etwa Geschlecht, Bildung und Klasse. Guadalupe Acedo hat vermutlich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit irgendwann begonnen, als Putzfrau zu arbeiten. Seitdem hat sie zu Dingen, die nicht ihr selbst gehören, um die sie sich aber in ihrer Rolle als Putzfrau kümmert, ein professionelles Verhältnis: Sie interessiert sich für deren Putzbarkeit (und eben nicht oder nur sehr eingeschränkt für deren Ästhetik). Mehr noch: Die tägliche Arbeit als Putzfrau hält ihr permanent vor Augen, wer sie ist: eine Putzfrau. Würde sie beispielsweise anfangen – womöglich heimlich, wenn sonst niemand im Haus ist – hin und wieder in einer der Badewannen im Obergeschoss ein Bad zu nehmen und dabei den spektakulären Blick auf Bordeaux zu genießen – wäre sie weniger Putzfrau und mehr Architekturliebhaberin. Kurzum: Die Art, wie wir mit Dingen umgehen, macht uns ein Stück weit zu dem, wer wir sind.


Alltag als Entfremdung und Ausweg


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Aneignung als essenzieller Teil einer Erfolgsgeschichte: Dessau-Törten. (Bild: Silke Steets)

Wie verhält es sich nun mit dem Zusammenhang von Architektur und Alltag in unserer Gesellschaft? Darüber hat der Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre in seinem dreibändigen Werk Kritik des Alltagslebens über mehrere Jahrzehnte hinweg nachgedacht. (3)  Lefebvre zeichnet darin ein komplexes und – wenn man so will – ambivalentes Bild des Alltagslebens in der Moderne. In der konkreten Alltagspraxis des Menschen sieht er zum einen ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Produktion des Raums. Das gilt für alle Gesellschaften. Zum anderen sieht Lefebvre diese Alltagspraxis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und das ist der gesellschaftsdiagnostische Teil seiner Theorie – als eine an, die sich zutiefst von sich selbst entfremdet hat. Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Form des Wirtschaftens, so argumentiert er, habe sich eine vorprogrammierte Alltagspraxis herausgebildet, die sukzessive alle Aspekte des Lebens durchdringe, die also nicht nur – wie Karl Marx bereits argumentiert hatte – die industrielle Warenproduktion betrifft, sondern auch – beispielhaft gesprochen – die Art, wie Lebensmittel angebaut, Zeit verbracht, Kunst geschaffen, Texte gelesen, Städte geplant oder Architektur produziert wird. Lefebvre zeichnet das Bild einer zunehmend bürokratisch organisierten und technokratisch gelenkten Gegenwart, die sich über einen vorprogrammierten Konsum reproduziert. Diese Diagnose bezieht sich auf das 20. Jahrhundert. – Und heute? – Addieren Sie Digitalisierung, Big Data, Smart City … hinzu und Sie erhalten eine potenzierte Version dieses Gesellschaftsbildes.

Das Interessante an Lefebvre aber ist nun, dass er bei dieser Diagnose nicht stehen bleibt, sondern nach Auswegen aus dieser scheinbar allumfassenden Entfremdung sucht. Und auch hier findet er Anregungspotenziale im Alltagsleben, das er – und dafür ist die Praxis des Wohnens ein gutes Beispiel – geprägt sieht von „moments of presence“, von Momenten der Befreiung, der Aneignung, des radikal Subjektiven. Gemeint sind damit existenzielle, oft körperliche, schöpferische Erfahrungen, die die betäubende und monotone Welt der entfremdeten Alltäglichkeit überschreiten. Dem Gebrauch von Architektur, insbesondere dem Aspekt der Umnutzung, spricht er deshalb ein kritisches Potenzial zu. Für Lefebvre bergen diese „moments of presence“ die wichtigste Möglichkeit, eine andere, nichtentfremdete Welt überhaupt denk- und vorstellbar zu machen. In diesem Sinne gilt es, sich auch auf eigenwillige Formen des Umgangs mit Architektur – wie hier am Beispiel der Bauhaus-Siedlung Dessau-Törten zu sehen – und auf das, was sich als Sehnsucht in diesen Aneignungen abbildet, einzulassen.

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Beispiel Pessac (Le Corbusier): Die Bewohner empfinden es gerade als Qualität der Architektur dass sie Veränderungen ermöglicht hat und – mehr noch – bis zu einem gewissen Grad sogar veranlasst hat. (Bild: Wikimedia Commons, .pep, CC BY-SA 2.0)

Was lernen wir nun aus diesen architektursoziologischen Überlegungen für die Gestaltung von Räumen? – Jean-Philippe Vassal beschrieb kürzlich in einem Interview mit Philipp Oswalt die spezifische kognitive Haltung, die Architektinnen und Architekten von Alltagsmenschen unterscheiden. Er sagte: „Der […] Nutzer sieht eine Situation, wie sie ist; der Architekt sieht sie, wie sei sein könnte. Der Auftraggeber denkt in dem Rahmen, den er kennt; in Bezug auf Produkte kennt er oftmals nur die schlechtesten und banalsten, da sie durch die heutige Standardisierung, Regulierung und Globalisierung am verbreitetsten sind. Die Fülle der bestehenden Situation, ihre brachliegenden Möglichkeiten werden dadurch völlig übersehen, nicht ausgeschöpft und gehen verloren. Die Arbeit des Architekten besteht genau darin, die Möglichkeiten der Anpassung einer Situation zu erkennen.“ (4)

Womit wir wieder bei der Gestaltung von Situationen angekommen wären. Wenn es darum geht, die räumliche Praxis des Alltagslebens als situative Ko-Produktion von Menschen und ihren Gebäuden beziehungsweise von Gebäuden und ihren Menschen zu betrachten, dann lohnt es sich meiner Ansicht nach, über Gebäude nachzudenken, die Eingriffe, Veränderungen, Mensch-Ding-Interaktionen nicht nur vertragen, sondern auch evozieren. Hermann Hertzberger hat dies mit dem Begriff der „einladenden Form“ umschrieben. Er versteht darunter Gestaltungsobjekte, die gewissermaßen „unfertig« sind und daher zu unterschiedlichen Arten der Nutzung auffordern. Er schreibt: „Beim Entwerfen führt übertriebene Funktionalität zu Steifheit und Mangel an Flexibilität, d.h. dem Benutzer wird zu wenig Freiheit gelassen, die Funktion so zu interpretieren, wie es ihm gefällt, als sei von vornherein beschlossen worden, was von ihm zu erwarten ist, was er zu tun oder zu unterlassen habe“. Stattdessen sollten Architekten und Designerinnen nach „aktivierenden“ und deshalb „menschenfreundlichen“ Lösungen suchen. (5)  In genau diesem Sinne ist Dessau-Törten (ähnlich wie die Corbusier-Siedlung Pessac in Frankreich) eine echte Erfolgsgeschichte, auch oder gerade weil sie Raum für alltägliche Aneignung ließ. (6)


Zum ersten Teil des Beitrags >>>


(1) Ich orientiere mich hier an Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1966/2004): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer
(2) Nicolai Ouroussoff, „Inhabiting a Piece of Art: It’s Not Always So Pretty“, The New York Times vom 29.01.2010. >>>
(3) Lefebvre, Henri (1977): Kritik des Alltagslebens. 3 Bände. Kronberg: Athenäum.
(4) Die Aufgabenstellung gestalten. Jean-Philippe Vassal im Gespräch mit Philipp Oswalt. In: arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Heft 222. März 2016. S. 140. Hervorhebung von Steets
(5) Hermann Hertzberger: „Vom Bauen. Vorlesungen über Architektur“, München, 1995. S. 173
(6) Christian Holl: Die Sache mit den Eigenheimen. Beitrag vom 23. Januar 2018 >>>
Symposium
9. Februar 2018
Grau, bunt, schwarz-weiß?
Der Alltag der Architektur
Beiträge
Programm
Eine Veranstaltung des BDA Hessen
und des Deutschen Architekturmuseum DAM