Im zweiten der insgesamt fünf Beispiele umfassenden Dokumentation des BDA Baden-Württemberg zu „Gefährdeten Arten“, die wir bei Marlowes ausführlich erläutern, geht es um das Alten- und Pflegeheim Ringelbach in Reutlingen, das Günter Behnisch 1971-1976 gebaut hat. Es wurde 1977 mit dem Deutschen Architekturpreis und 1978 mit dem Hugo-Häring-Preis ausgezeichnet – mehr Anerkennung geht nicht. Und jetzt?
Grüne Aussichten
Mit der ansteigenden Lebenserwartung der Bevölkerung richtete sich seit den frühen 1970er Jahren in der Architektur der Blick auf Bauaufgaben, die dem demografischen Wandel Rechnung tragen müssen. Das Alten- und Pflegeheim in Reutlingen entstand aus einem 1971 mit dem 1. Preis prämierten Wettbewerbsentwurf der Architekten Behnisch & Partner. Ein bestehendes Gebäude in der Ringelbachstraße aus dem Jahr 1928, das als erstes Altenheim in Reutlingen gilt, benötigte vor allem aufgrund des wachsenden Bedarfs an Pflegebetten eine Erweiterung.
Der damalige Neubau nutzt die schöne Aussicht auf die Schwäbische Alb und den Georgenberg. Er ist an die nordwestliche Ecke des Grundstücks gerückt, um großzügige Grünflächen im Süden zu erhalten und Abstand zu dem an der östlichen Seite gelegenen Altbau zu wahren. Durch die Gestaltung des Baukörpers auf der Basis zwei dreiecksförmiger Grundrisse ergeben sich differenzierte, zueinander verschwenkte Fassaden, sodass sich das Gebäude trotz seiner großen Baumasse harmonisch in die kleinmaßstäbliche Wohnbebauung einfügt. Die Zimmer in den vier Wohngeschossen sind vorwiegend nach Süden und Südwesten zum Gartenbereich ausgerichtet. Jedes verfügt über einen eigenen dreieckig vorspringenden Erker und einen begrünten Balkon oder Austritt und gliedert so die markante Fassade mit einer Verkleidung aus schuppenartig angeordneten Red-Cedar-Holzschindeln. Ein freistehender Pavillon markiert den Eingang mit Pforte und Verwaltung und verbindet Alt und Neu mit gedeckten Glasgängen. Im zum Altbau gelegen Flügel befindet sich der zentrale Versorgungs- und Gemeinschaftsbereich mit Speisesaal, Andachtsraum, Bibliothek und Veranstaltungsbereichen. Er öffnet sich durch großzügige Glasflächen und eine Terrasse zum grünen Innenhof.
Humane Sozialarchitektur und Denkmalschutz
Materialwahl und Gliederung verleihen dem Gebäude nicht nur ein unverwechselbares äußeres Erscheinungsbild, sondern sie sind aus der inneren Struktur und den Anforderungen eines Gebäudes für ältere Menschen entwickelt: abwechslungsreiche Raumsituationen, überschaubare Außen- und Innenräume, zahlreiche Treffpunkte zur Kommunikation und für gemeinsame Aktivitäten, behutsame Gestaltung bis hinein in die privaten Bereiche. „Den Charakter der Anlage bestimmen jedoch die Bedürfnisse der alten Menschen. […] Die Wohnbereiche bieten größte Privatheit. Die mit einfachen Mitteln variierten Wohnräume (Eingangsbereich, Schlafnische, Erker, Loggia) erleichtern den Bewohnern die Umstellung auf ihre neue Umgebung. Die räumlich differenzierten Flure (Nischen, Sitzecken mit Ausblick zur Straße, zum Park, intime Leseplätze, Bereiche mit Pflanzen und Tieren, Wasserbecken, gemütliche alte Möbel) bieten Ansatzpunkte für neue menschliche Kontakte, erleichtern die Orientierung und regen zum Wandeln und zur Betätigung an.“ – so steht es im Erläuterungsbericht des Büros Behnisch & Partner 1971.
Die neue Anlage wurde 1976 mit 133 Betten – insgesamt 175 Betten mit Altbau – in Ein- und Zweibettzimmern und 26 Personalwohnungen in Betrieb genommen und erhielt zahlreiche Preise, mit denen „nicht nur eine in jeder Hinsicht gelungene Gestaltung ausgezeichnet, sondern auch die humane Verpflichtung des Architekten in einer einseitig rationell orientierten Zeit gewürdigt und ermutigt werden“ sollte – stand in der Laudatio zum Deutscher Architekturpreis 1977.
Seit 2004 steht das Ensemble aus Alt- und Neubau unter Denkmalschutz. Der Begründungstext hebt den Erweiterungsbau als „ein künstlerisch gelungenes Beispiel für die innovative Ausführung dieser Bauaufgabe“ hervor und schließt mit „künstlerischen, wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Gründen“ auch die lange Tradition der Reutlinger Kranken- und Wohlfahrtspflege ein.
Gestiegene Standards, ungewisse Zukunft
Gestiegene Anforderungen an moderne Pflegestandards, an die Sicherheit und vor allem an den Brandschutz der Fassade hätten eine Generalsanierung zur Weiternutzung erforderlich gemacht. Vorgeschriebene größere Flächen je Zimmer sowie Einbettzimmer mit jeweils eigenen sanitären Anlagen waren aufgrund der Schottenbauweise nicht realisierbar. Ebenso führten die 2007 veranschlagten Kosten von 10 Millionen € dazu, dass die weitere Nutzung als Alten- und Pflegeheim verworfen wurde. Der Gemeinderat beauftragte den Eigentümer, die Stiftung Altenhilfe der Stadt Reutlingen, mit einem Konzept zur Errichtung von zwei Ersatzbauten, einer davon am Standort Ringelbach, der 2015 bezogen wurde. Seitdem steht der „Behnisch-Bau“ leer.
Unterschiedliche Ideen und Untersuchungen zur Umnutzung der Anlage für betreutes Wohnen oder als Studentenwohnheim schienen unrealistisch, sodass die Stadt schon 2013 den Verkauf an einen Investor in Erwägung zog. Kurzfristig ist nun geplant, einen Teil des Gebäudes als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen, langfristig soll die Anlage veräußert werden. Zu hoffen bleibt, dass es durch gemeinsame Anstrengungen des Denkmalschutzes, der Stadt Reutlingen und eines gegebenenfalls neuen Eigentümers gelingt, neue Nutzungspotentiale zu entwickeln und die Qualitäten der Anlage zu erhalten.
Gefährdete Arten. Erhalt versus Abriss in Baden-Württemberg
Bis 31. März 2023
BDA Wechselraum
Zeppelin Carré, Friedrichstr. 5, Stuttgart
Eine Ausstellung des BDA Baden-Württemberg im Bündnis mit
Abrissmoratorium, Architects for Future Deutschland e.V., Arbeitskreis Bauwende – Universität Stuttgart, Bundesstiftung Baukultur und Sharing Brutalism – ABK Stuttgart
Kuratiert von Tobias Bochmann, Bernita Le Gerrette, Juliane Otterbach und Jan Theissen
Finissage und Abschlussgespräch: Freitag, 31. März 2023, 19 Uhr mit Alexander Stumm (Abrissmoratorium) und den Kurator:innen.
Wir danken dem BDA Baden-Württemberg für die Kooperation.