Gerade wurde der Bericht der Bundesstiftung Baukultur vorgestellt – er widmet sich der „neuen Umbaukultur“. Dass diese Kultur noch nicht voll erblüht ist, wissen wir. Umso wichtiger, zu zeigen, dass mit ihr Potenziale verbunden sind, die weit über den Erhalt von Grauer Energie hinausgehen. Kirchen sind dafür ein exzellentes Beispiel.
In diesem Herbst berichten die Medien ausführlich über einen Offenen Brief an die Bundesbauministerin. Darin fordern Verbände wie Architects for Future, die Deutsche Umwelthilfe und der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, dass die Politik aus sozialen, ökonomischen und ökologischen Gründen dringend bessere Rahmenbedingungen für den „Erhalt und Umbau des Bestandes“ schaffen solle.(1) Bevor der zugehörige Text auf der Homepage der Initiative aufscheint, wird dieses Anliegen durch ein Video unterstrichen. In fast körperlich quälender Zeitlupe knabbert ein Bagger an einer neoromanischen Kirchturmspitze, bis sie kollabiert. Die Sequenz stammt vom Abriss des Immerather Doms, der 2018 dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen musste. Hätte man die Bilder einer einstürzenden Fertiggarage ausgewählt, sie wären sicher weniger effektiv. Eine historische Kirche, die ausgerechnet einem umweltschädlichen Energieträger geopfert wird, sorgt hingegen für starke Emotionen. Hier verdichten sich drei Eigenarten der Baugattung: Nutzungsraum, Zeitort und Gemeingut. An diesen Punkten, haben sich die Vertreter:innen von Kirche und Denkmalpflege immer wieder gerieben. Im Geist einer Umbaukultur bietet sich nun die Architektur an, um eine Brücke zwischen beiden Seiten zu schlagen.
Kirche als Nutzungsraum
„Gleich zu Beginn sei klargestellt: Denkmalwürdige moderne Kirchen unterscheiden sich in der grundsätzlichen Betrachtung nicht von anderen Baudenkmälern.“ (2) Mit diesem Gedanken eröffnet der Architekt und Denkmalpfleger Bernhard Furrer 2019 seinen Beitrag zum Schweizer Kirchenbautag, um gleich mehrere Ausnahmen hinterherzuschieben. Nach 1945 habe man ungewöhnlich viele Gottesdiensträume von hoher baukünstlerischer Qualität errichtet. Aber das Besondere dieser Denkmalgattung seien eigentlich die Menschen. Mit großem Selbstbewusstsein führe eine Gemeinde gerne die „liturgischen Erfordernisse“ ins Feld, sobald sie bei einer Kirchenrenovierung eigene Punkte durchsetzen wolle. Dabei findet Furrer „die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Präferenz nicht einfach“ – auch Pfarrer:innen seien schließlich nicht frei von modischen Einflüssen. Ein Denkmalpfleger müsse die Nutzer:innen daher umso überzeugender für den Erhalt ihrer Kirche gewinnen. Unter all den Bauten, die vom Staat unter Schutz gestellt werden, scheinen die Gottesdiensträume eben doch nach eigenen Regeln zu funktionieren.
Für alle Architekturgattungen greifen bei der Unterschutzstellung dieselben Kriterien, die im Gesetz des jeweiligen Bundeslands festgeschrieben sind. In den Inventaren des 19. und 20. Jahrhunderts jedoch standen Kirchen als ortsbildprägende Bauten ab einem gewissen Alter fast automatisch unter Denkmalverdacht. Bis heute argumentiert man bei ihnen besonders gerne geschichtlich, (bau-)künstlerisch und städtebaulich. Schwerer haben es hingegen Betsäle oder Gemeindezentren, denen der markante Turm fehlt. Denkmalpfleger:innen begründen den Wert einer Kirche von außen nach innen, mit der prägenden Stellung in der gebauten Gemeinschaft. Dem gegenüber blicken Theolog:innen von innen nach außen – ein Gottesdienstraum wird durch seine geistliche Nutzung geadelt. Daher stellten die Verlautbarungen des Kirchbautags, im 20. Jahrhundert das maßgebliche evangelische Fachgremium zum Thema, regelmäßig Liturgie und/oder Diakonie an den Anfang.(3) Mal wurde der Architektur mehr, mal weniger Bedeutung zugestanden, aber ihre Existenzberechtigung bezog die Baukunst hier allein aus dem Ziel, einen Erlebnisraum des Glaubens zu schaffen.
In der Umkehrprobe erschließt sich ein Kernproblem der heutigen Um- und Nachnutzungsdebatte: Eine entwidmete oder profanierte Kirche bleibt für die Denkmalpflege dennoch eine Kirche, deren bauliche Kennzeichen zu schützen sind. Für die beiden großen christlichen Konfessionen hingegen verliert ein Gottesdienstraum (formell gesehen) seinen Wesenskern, sobald sich die Gemeinde von ihm verabschiedet. Nicht umsonst werden zu diesem Anlass rituell die liturgischen Gegenstände und Orte entfernt oder ‚unbrauchbar‘ gemacht. Spätestens beim Verkauf fallen oft noch Turm, Kreuz oder gleich der ganze Bau. Tatsächlich stehen Kirchen als ‚besondere‘ Architekturen in einer immer stärkeren Konkurrenz. Je jünger die Denkmalpfleger:innen und Denkmalnutzer:innen werden, desto häufiger verbinden sie außergewöhnliche, den Alltag übersteigende Erfahrungen eher mit modernen Profanbauten von der Sportstätte bis zu den ‚Lost Places‘. Wo die kirchliche Nutzungserfahrung fehlt, wächst die Unsicherheit im Umgang mit liturgischen Räumen, die in Ignoranz oder Überhöhung umschlagen kann. Im besten Fall erwacht bei konfessionell Ungebundenen nun die Neugier.
Kirche als Zeitort
Schon gut 100 Jahre vor Bernhard Furrer beschrieb sein Berufskollege, der österreichische Denkmaltheoretiker Alois Riegl, treffend das zwiespältige Zeitverständnis der Kirchenvertreter.(4) Demnach bevorzugten römisch-katholische Geistliche um 1900 eine Kunst, die zwar historische Stilformen zeigte, aber wie neu aussah. Dafür machte Riegl zwei Gründe aus. Zum einen habe Kirche kein Interesse daran, sich ständig die (eigene) Vergänglichkeit vor Augen zu führen. Zum anderen wünsche man sich bruchlos in jene mittelalterlichen Zeiten zurück, als noch keine Kluft zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre zu existieren schien. Riegl sucht nach einer guten Balance zwischen dem, wie er es nennt, Alters- und Neuheitswert: Ein Denkmal müsse intakt genug sein, um genutzt und als schön empfunden zu werden. Doch die Spuren der Zeit daran ablesbar zu lassen, mache für ein Bau- und Kunstwerk den eigentlichen Adel aus. Jede Bewertung eines Denkmals, so Riegls Kernthese, erfolge in der jeweiligen Gegenwart und sei damit selbst einem steten Wandel unterworfen.
In der Nachfolge Riegls schützt und inszeniert die moderne Denkmalpflege bis heute gerade die Altersspuren. Sie blickt (bei allem Respekt für die gegenwärtigen und künftigen Bedürfnisse der Nutzer:innen) auf die Geschichte zurück. Christliche Gemeinden wiederum leben (bei aller Verankerung im Gestern und Heute) von der Hoffnung auf das endzeitlich Kommende. In diesem Spannungsverhältnis wird eine Kirche zum eigenen Zeitort. Durch ihre (bislang) hohe Nutzungskontinuität kann sie mit vielen historischen Bau- und Ausstattungsdetails leicht den Blick in die Vergangenheit freigeben. Zugleich beschwören Inschriften und Bilder beharrlich das Hereinbrechen einer neuen Zeit. Dieses Phänomen beschrieb der französische Philosoph Michel Foucault anhand von Festen und Riten als Heterochronien, in denen die Zeit anderen Regel folge. Schon Mitte der 1920er Jahre hatte der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin dafür den Chronotopie-Begriff geprägt: Während der Held eines Abenteuerromans in wenigen Tagen viele Länder durcheilt und Herausforderungen besteht, verdichtet sich seine Lebenszeit in einer literarischen Idylle (im umzäunten Garten oder in der Landschaft der Kindheit) auf kleiner Fläche.(5)
Den Zeitort Kirche erfasst die aktuelle Forschung entweder als Erinnerungsort oder als Zukunftsort – es kommt darauf an, wie die beiden großen christlichen Konfessionen ihre architektonisch greifbare Geschichte erzählen und wie sie von Dritten gelesen wird.(6) Selbst in der Inventarisation wird der Faktor Zeit nunmehr kritisch betrachtet. Unter Rückbezug auf Riegls Wertekanon plädiert die Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper dafür, auch nach 2000 errichtete Neubauten in den Blick zu nehmen.(7) Der Denkmalpflege müsse zugemutet werden, frühzeitig die Objekte von künftigem Wert herauszufiltern und mit dabei entstehenden Irrtümern offen umzugehen. Um diese Scharnierstelle zwischen Geschichte und Zukunft besser zu fassen, empfiehlt sich für Kirchenbauten der Kulturerbe-Begriff.(8) Er umkreist all das, was Menschen mit Sinn geschaffen oder belegt haben, was von Generation zu Generation weitergereicht und neu angeeignet werden muss. Hier wirkt nicht nur die Riegl’sche Erkenntnis fort, dass Denkmal wie Denkmalpflege gleichermaßen dem Wandel unterworfen sind. Auch die Radikalität, mit der die beiden christlichen Konfessionen gerade ihre Bauten der späten Nachkriegsmoderne abreißen, erinnert an den Befund von 1903: Da tilgt Kirche eben jenes kulturelle Erbe, das sie an die eigenen Irrtümer und Vergänglichkeiten erinnern könnte.
Kirche als Gemeingut
Je spürbarer die beiden großen christlichen Konfessionen an Mitgliedern verlieren, desto intensiver diskutieren sie ihr Verhältnis zu einer nichtchristlichen Gesellschaft.(9) Unter dem Dach der Öffentlichen Theologie haben sich zwei Positionen herauskristallisiert. Die eine Seite leitet aus dem protestantischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus ab, dass Kirche und Welt einander unversöhnlich gegenüberstünden. Die andere Seite argumentiert in der liberalen Tradition des 19. Jahrhunderts, dass das Christentum ein integraler und aktiver Teil der Gesellschaft sein müsse. Beide Modelle nutzen durchaus räumliche Bilder: Öffentlichkeit beispielsweise wird definiert als „Ort der allen zugänglichen Behandlung dessen, was alle angeht“.(10) Doch dabei bleiben die Theolog:innen beharrlich in der theoretischen Schwebe – wirklich greifbar wird ihre Debatte erst und nur dort, wo sie (wenn auch äußerst selten) konkrete Bauten ins Spiel bringt. Um 2000 wurden etwa die Gemeindezentren der 1970er Jahre am Ideal des ‚Sakralbaus‘ gemessen und verworfen – zu einem Zeitpunkt, als die Kunstgeschichte für eine denkmalfachliche Wertschätzung der damaligen multifunktionalen Architekturkonzepte warb.(11)
In der Folge verschob sich das Interesse der baubezogenen Forschung von den einzelnen Ikonen hin zur grundsätzlichen Frage, wie Mensch und Architektur miteinander in Beziehung stehen. Populär wurden die weichen Raumtheorien der Soziologin Martina Löw: Mit der Nutzung bilde sich langsam ein wandelberarer Raum aus, der sich an einem geografisch fixierten Ort anlagere.(12) Das ist zwar angenehm offen für fächerübergreifende und immaterielle Aspekte, bleibt am Ende aber allzu abstrakt. Als Gegenpol betonen Architekt:innen wieder stärker den Wert von gezielten gestalterischen Akzenten, durch die Menschen sich ihre gebaute Umwelt leichter aneignen können. Auf der Suche nach einer guten Balance zwischen beiden Ansätzen wird in der Stadtplanung aktuell unter dem Schlagwort „Figurationen von Öffentlichkeit“ ein Konzept der 1980er Jahre reaktiviert.(13) Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie lassen sich nicht nur Menschen, sondern auch andere Akteur:innen wie Bauwerke und Freiflächen (fast) auf Augenhöhe ansprechen und in die Entwurfsarbeit einbeziehen. Denn es bleibt in der Praxis die Aufgabe, Raumgeflechte und Übergangsbereiche zwischen Privat und Öffentlich auszumachen und bewusst zu gestalten.
Mit Blick auf die brachfallenden Kirchen greift die Kunsthistorikerin Ursula Kleefisch-Jobst ebenfalls auf einen soziologischen Begriff der 1980er Jahre zurück. Als „dritte Orte“ zwischen Familie und Arbeit sollen ehemalige Gottesdiensträume für Gespräch und Begegnung offenstehen.(14) Einen Schritt weiter geht das aktuelle Revival des Commons-Konzepts, das gemeinsam geschaffene und genutzte Güter beschreibt. Für „Spatial Commons“ arbeitet etwa die Architektin Dagmar Pelger unterschiedlich bewegliche Raumtypen heraus, zwischen ortsgebunden und nomadisch. Ihre Bilder dafür – von Membranen, von „blasen- und schaumförmigen“ Gebilden ist die Rede – entstammen meist der Biologie.(15) Damit wäre dieses Konzept, um noch einmal die Sprache der 1980er Jahre zu bedienen, höchst anschlussfähig für die Theologie, denn Kirche wird gerne mit biblischen Vergleichen des Wachsens und Wanderns unterlegt.(16) Und die „Bewahrung der Schöpfung“ gehört spätestens seit dem Start des Konziliaren Prozesses 1983 konfessionsübergreifend zur christlichen DNA. Umso erstaunlicher ist es, dass der letzte Kirchbautag in Köln 2022 zwar den „Mut“ zum Thema ausrief, aber in den vorgezeigten Beispielen bis zu drei Abrisse auf einen Neubau in Kauf nahm.(17)
Kirche als Umbaukultur
Für die Alternative zum Abriss sind unterschiedliche Begriffe im Umlauf. Während der deutsche Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2012 noch unter dem Motto „Reduce/Reuse/Recycle“ auf das zirkuläre Bauen verwies, sammelt eine aktuelle Publikation solche Ansätze unter dem Titel der „Umbaukultur“.(18) Speziell für das kirchliche Kulturerbe lassen sich damit die drei zuvor beschriebenen Wesensäußerungen – Nutzungsräume, Zeitorte und Gemeingüter – zusammenbinden.
1. Kirchliche Nutzungsräume sind elastisch: Historische Kirchen haben viele Liturgie- und Konfessionswechsel überlebt. Gerade im 20. Jahrhundert wurden sie oft bereits dafür geplant, flexibel bespielbar zu sein, auch für weltliche Anlässe. Ganz zu schweigen von den gelebten Provisorien in Notkirchen und Kapellen. Es macht keinen Sinn, sie nach dem Ende ihrer liturgischen Funktion abzureißen, denn sie können und vertragen mehr, als ihnen Kirche und Denkmalpflege oft zutrauen. Hier hat die Umbaukultur das Potenzial, solche Räume – mit dem jeweils angemessenen Grad an Veränderung – von außen nach innen neu in das städtische Gefüge einzupassen und von innen nach außen für die neue Nutzung vorzubereiten.
2. Kirchliche Zeitorte verdienen Patina: In einer Kirche folgt die Zeit anderen Regeln. Sie verdichtet sich in historischen Architekturdetails, sie streckt sich mit endzeitlichen Bildern zum Kommenden hin aus. Den großen Domen ist bis heute anzusehen, dass eine Kirche nie wirklich fertig wird. Tatsächlich ist es wohl erst ein Erbe der Moderne, dass Patina mit Rückständigkeit gleichgesetzt wird. Dabei kann sie Kirche und Denkmalpflege gleichermaßen daran erinnern, dass die jeweiligen Wertsetzungen veränderlich und vergänglich sind. Im Geist der Umbaukultur lohnt es sich, die Kunst der kontinuierlichen Reparatur zu pflegen.
3. Kirchliche Gemeingüter fordern Gemeinschaft: Ob transportable Holzmontagekapelle oder in Stein gemeißelter Zeitgeist, Kirchen sind per se Gemeinschaftsräume. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sollten sie die Gäste gar zur aktiven Teilnahme an der Liturgie anleiten. Kirchenbauten sind bis heute eine materielle wie ideelle Ressource, die geteilt werden will. Dieser Gedanke fordert Kirche wie Denkmalpflege gleichermaßen heraus, über ihre angestammte bildungsbürgerliche Zielgruppe (mal mit, mal ohne Taufschein) hinauszudenken. Dafür kann die Umbaukultur hilfreiche Strukturen übernehmen und hinderliche Schwellen auflösen. Denn den Abriss von Kirchenbauten kann sich diese Gesellschaft einfach nicht mehr leisten.