Größtes Sorgenkind beim Klimaschutz im Gebäudesektor ist unser Gebäudebestand. Die Sanierungsquote dümpelt seit Jahren um die Ein-Prozent-Marke herum, und wenn ein maroder Altbau ins Visier von Investoren und Planern gerät, ist man mit der Abrissbirne schnell zur Stelle – viel zu oft bei schutzwürdiger Baukunst. Und die im Rohbau verborgene Ressource an Grauer Energie landet viel zu oft im Schuttcontainer. Denn Kostenrisiken, Brand- und Schallschutz ersticken planerisch durchdachte Alternativen für Sanierungslösungen im Keim. Was ist uns unser Gebäudebestand wirklich wert?
Die gute alte Abrissbirne, sie hat längst ausgedient. Wieder so eine Kindheitserinnerung, melancholiebefreit, ausgemerzt von moderner Technik. Ich habe ihn noch förmlich vor Augen, den Maschinenführer mit Schiebermütze und Fluppe im Mundwinkel, wie er gekonnt die tonnenschwere Stahlkugel an dem Ausleger seines tuckernden Seilbaggers zurückschwingen lässt, um dann im rechten Moment wieder Kurs auf das angeschlagene Gebäude zu nehmen und die Kugel – WOAMMM!!!!! – punktgenau in die Ziegelwand zu donnern, die mit Staub und Karacho ein weiteres Stück in sich zusammenfällt. Was damals Tage in Anspruch nahm, sprich: ein abbruchreifes Gemäuer in einen bunten Schutthaufen aus Steinen, Holzbalken und Metallgewirr zu verwandeln, erledigen heute riesige Kettenraupen mit betonknabbernden Kneifzangen in einer Dimension, Kraft und Präzision, die unweigerlich an den nächsten Zahnarzttermin erinnern und sehr anschaulich den Abriss des eigenen kariösen Backenzahns visualisieren.
Bauen mit dem, was da ist
Glaubt man den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, rückten die Abrisskommandos im Jahr 2019 in Deutschland 15.157 Mal aus, um Wohn- und Nichtwohngebäude dem Erdboden gleich zu machen.1) Um Platz für Neues zu schaffen. Wobei das „Neue“ leider allzu oft dem vorher Dagewesenen nicht in allen Belangen das Wasser reichen kann. Insbesondere dann, wenn sich der Denkmalschutz wieder einmal nicht durchsetzen konnte und unwiederbringliche Juwele architektonischer Meister oder bedeutende Vertreter stilprägender Epochen auf dem Friedhof der Baukultur zu Grabe getragen werden.
„Lass bleiben und baue mit dem, was schon ist!“, fordern daher immer mehr Beschützer des rettbaren Gebäudebestandes; aber auch solche, die in der Grauen Energie, die ja in der gebauten Masse steckt, wertvolle Ressourcen erkennen und diese gerne in die CO2-Bilanz mit eingerechnet sehen wollen. Der Verein Architects for Future („A4F“), der sich im Einklang mit der Fridays for Future-Bewegung dafür einsetzt, dass auch die Baubranche ihren Teil für die Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaabkommens beiträgt, sieht die Abriss-für-Neubau-Strategie ebenfalls kritisch. Für das Erreichen des 1,5°C-Ziels ist es laut einer Studie des Wuppertal Institutes essentiell, dass unser gesamter (!) Gebäudebestand bis 2035 klimaneutral wird.2) Laut dem dena Gebäudereport 2016 gehen mehr als zwei Drittel des Wärmeverbrauchs auf Bestandsgebäude zurück, die vor 1979 gebaut worden sind. Immerhin knapp zwei Drittel unseres Wohngebäudebestandes stammt aus der Zeit vor 1979, bietet also ein riesiges Potential an Energieeinsparungen und damit auch CO2-Reduktion.
Insgesamt besehen ist der Gebäudesektor mit 122 Mio Tonnen CO2-Äquivalenten unmittelbar für rund 15 % der deutschen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Zählt man auch die indirekten Emissionen hinzu, also die öffentliche Versorgung der Gebäude mit Strom und Wärme (zum Beispiel Fernwärme), erhöht sich der Anteil des Gebäudesektors an den Gesamtemissionen um das Doppelte auf nahezu 30 %.3) Und zu guter Letzt: Fast 40 % des Energieverbrauchs und 60 % des Abfallaufkommens in Deutschland hat der Gebäudesektor zu verantworten.4) Vor allem letztere Zahl, also alles was in Containern, Big Bags und auf Ladeflächen von LKWs landet, um auf Deponien, in Müllverbrennungsanlagen oder aber in Recyclinganlagen zu verschwinden, rechtfertigt das Plädoyer, den Abriss von Gebäuden stets kritisch zu hinterfragen und sich intensiver mit dem Wert des Gebäudebestandes auseinanderzusetzen.
Hemmnisse torpedieren den Gebäudeerhalt
Doch auf den Appell, bitte erst einmal zu analysieren, ob sich mit dem Vorhandenen womöglich etwas ganz Vernünftiges anfangen lässt, reagieren Investoren, Bauherren und auch Architekten reflexartig kritisch bis ablehnend. Die Bedenken reichen von unkalkulierbaren Kostenrisiken über Fragen zum Brandschutz und Angst vor unliebsamen Überraschungen bis hin zu fragwürdiger Amortisation und zu hoher Haftungsrisiken. Tatsächlich mögen Brandschutz und das (Nicht-)Erfüllen energetischer Anforderungen für so manchen Bestandsbau die k.o.-Kriterien für dessen Erhalt sein. Bei Ersterem geht es um Leib und Leben, weshalb bei Flucht- und Rettungswegen oder Brandschutzklassen kaum Spielraum zum Verhandeln mit Behörden und Feuerwehr gegeben ist. Und einen Bestandsbau um den Preis zu erhalten, dass er über die vielen Jahrzehnte seiner Nutzung deutlich mehr Energiekosten verursachen wird als ein adäquater Neubau, ist klimapolitisch auch nicht so ganz einfach zu rechtfertigen. Zumal eine sanierte Energieschleuder am Markt schwierig zu verkaufen ist, es sei denn, die Lage-Lage-Lage schlägt die Effizienz. Was bleibt, sind die hohen Verbäuche. Das ist auch nicht wirklich gut, für die Mieter nicht und für die Umwelt auch nicht.
Ressource versus Energieeffizienz
Wie relevant ist also die Graue Energie hinsichtlich Energieeffizienz und Ressource? Der Leiter des Energieinstituts Hessen,5) Werner Eicke-Hennig, vormals Leiter der Hessischen Energiespar-Aktion des Hessischen Wirtschaftsministeriums, schrieb dazu in der Fachzeitschrift Gebäude-Energieberater einen bemerkenswerten Artikel 6), in dem er auf die Verknüpfung von Energie- und Ressourceneffizienz verweist. Zitat: „Mit dem Fokus auf das Optimieren der Grauen Energie bleibt die Heizenergieeinsparung auf der Strecke. Die Physik zwingt uns zur Lösung beider Aufgaben. […] Es geht bei der Heizenergieeinsparung um ganz andere Größenordnungen als bei der Grauen Energie.“ Er unterlegt diese Aussage mit einer Grafik aus einer Veröffentlichung von 1982,7) derzufolge sich durch „bewusste Baustoffauswahl“ 87 % Heizenergie einsparen und 30 % Graue Energie reduzieren lassen.
Auch unsere Nachbarn in der Schweiz beschäftigen sich ausgiebig mit der Thematik. Eicke-Hennig bezieht sich in seinem Artikel auch auf eine Publikation der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt,8) die 2005 in einem nationalen Zukunftsszenario berechnet hat, dass auf die gesamte Neubau- und Sanierungstätigkeit in allen Wohn- und Nichtwohnbauten der Schweiz 10 % der Grauen Energie auf den gesamten baulichen Primärenergiebedarf entfallen. Hingegen gingen 90 % der Energieflüsse am Gebäude auf das Konto des Heizungs- und Stromverbrauchs während der langen Gebäudelebensdauer. Eicke-Hennig benennt als wichtigste Ergebnisse der Studie, dass der Energiesparstandard die Graue Energie nur unwesentlich beeinflusst, jedoch der größte Anteil an Grauer Energie in den Massivbauteilen eines Gebäudes steckt.
Ein entscheidender Hinweis auf die Optimierungsstrategie – denn einen verbesserten Energiestandard wegen des Verweises auf die Herstellungsenergie zum Beispiel von Dämmstoffen abzulehnen, lässt sich jedenfalls mit der dafür nötigen Grauen Energie nicht begründen. Bestes Beispiel hierfür ist das erste Passivhaus in Deutschland in Darmstadt Kranichstein von Wolfgang Feist, das heute immer noch viele Architekten als architektonischen Irrweg verspotten: Bei diesen wohl mit am besten analysierten und dokumentierten Reihenhäusern Deutschlands entfielen nur 14 % der Herstellungsenergie auf die Dämmung einschließlich des Mehraufwandes bei Fenstern, 7 % auf den energetischen Teil der Haustechnik, jedoch 79 % auf den klassischen Massivbau inkl. Ausbau9).
Der Rohbau ist des „Pudels“ Kern
Wie also wollen wir künftig vorgehen, um die Energie- und Ressourceneffizienz im Gebäudesektor gleichermaßen zu verbessern? Dogmen à la Abrissverbot beziehungsweise unabdingbarer Bestandsschutz sind hierfür ein denkbar schlechter Ratgeber. Eine grundlegende Analyse des vorgefundenen Bestandes hingegen ist ein absolutes Muss. Wir dürfen es uns fortan schlicht nicht mehr leisten, die in den Bestandsbauten versteckte Graue Energie zu verpulvern, ohne die Chance zu prüfen, ob sich die Funktionalität und energetische Effizienz nicht auch im vorgegebenen Mäntelchen des mehr oder weniger entkernten Rohbaus vergleichbar oder sogar besser als bei einem Ersatzneubau umsetzen lässt. Ganz abgesehen vom baukulturellen Wert, den ein Abriss unwiederbringlich macht, wenn man nicht gerade vorhat, einen Neubau in der Art des Berliner Schlosses anzugehen oder gar eine neue Altstadt plant, wie zuletzt in Frankfurt geschehen.
Fakt ist: Der effizienteste Weg, die Graue Energie zu decarbonisieren ist, ihren größten Bestandshalter im Gebäudebestand, nämlich die massive Rohbaukonstruktion aus Mauerwerk oder Beton, möglichst zu erhalten und vor allem: sie vernünftig und ansehnlich zu dämmen. Egal mit welchen Materialien – sei es expandiertes Polystyrol, Polyurethan, Zellulose, Holzfaser und, oder, und. Mittels WDVS, vorgehängte Fassade, Zweischaligkeit – ganz egal. Wichtig ist, möglichst wiederverwertbare Baustoffe auszuwählen, auf ihre Trennbarkeit zu achten und dabei nicht die Fassade zu verhunzen oder dem sanierten Gebäude ein Gesicht zu verpassen, das nach dem Fall der Gerüste und Planen die Frage aufwirft: Warum in aller Welt hat man hier nicht neu gebaut?
Von der Wiege zur Wiege – Vision oder bald Realität?
Bei der Frage, ob eher Abriss und Neubau zu forcieren ist oder eine umfassende Sanierung den Königsweg weist, sollte man bedenken, dass Forschung und Entwicklung auch im Bauwesen nicht auf der Stelle treten. Die Ökobilanzierungen bei den Baustoffen und Produkten verbessern sich von Jahr zu Jahr – die Frage des Recyclings beschäftigt die Branche ebenso wie der Umstieg auf regenerative Energien bei der Produktion. Dem entgegen steht der Trend hin zu Verbundbaustoffen, die alles und noch viel mehr können, aber eben – nomen es omen – im Falle eines Rückbaus stofflich schwer zu trennen und kaum mehr den jeweiligen Stoffkreisläufen zuführbar sind. Das Cradle-to-Cradle-Konzept (von der „Wiege zur Wiege“) ist auf die vorhandenen beziehungsweise zu verwendenden Bau-Produkte zu adaptieren, nicht auf die Frage, ob Abriss oder Neubau. Keine Sanierung kommt ohne den Einbau und die Installation neuer Produkte und Bauteile aus. Die richtigen, sprich möglichst nachhaltigen und recycelbaren Produkte und Konstruktionen auszuwählen, darum kommt ein Planer weder beim Neubau noch bei der Sanierung herum. Das Maximum an Grauer Energie ist und bleibt der massive Rohbau aus Stein und/ oder Beton: Primär dessen (baukultureller) Wert, Qualität, Nutzbarkeit und Flexibilität in der Struktur rechtfertigen die ökobilanzielle Überlegung, ob sein Energieinhalt durch Abriss verloren gehen darf, oder ob er durch Erhalt und gut durchdachte energetische Sanierung des Bestandes in die Haben-Seite der Ökobilanzierung einfließt. Letzterem sollte im Zweifelsfall stets der Vorrang gewährt werden.