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Unter der Paulinenbrücke mitten in Stuttgart zeigte die Initiative Stadtlücken, was möglich ist, wenn man einen Platz den Anwohnern zur Verfügung stellt. Nun hat die Initative junger Stadtmacher*innen mit dem Amt für öffentlichen Raum (AföR) eine fiktive Behörde in der architekturgalerie am weißenhof in Stuttgart eröffnet.

Bild oben: In der Ausstellung „Amt für öffentlichen Raum“ (Bild: Stadtlücken)

 

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Über Nacht zum Amt für öffentlichen Raum geworden: Die architekturgalerie am weißenhof in Stuttgart. Bild: Stadtlücken

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Ein interaktives, frei zugängliches Miroboard unter www.aför.de kreiert zusammen mit der analogen Ausstellung einen interaktiven und kooperativen Denkraum. (Bild: Martina Metzner/Stadtlücken)

Das mit der Ausstellung haben sich Stadtlücken anders vorgestellt. Aber die junge Initiative ist das Experiment gewöhnt. Schon die Eröffnung der Ausstellung „Amt für öffentlichen Raum (AföR)“ Ende Oktober 2020 war, bedingt durch die Corona-Pandemie, nur per Instagram-Livestream möglich. Es folgten digitale Gesprächsrunden mit Stadtmacher*innen bundesweit. Und während die Ausstellung in den feinen Räumen der architekturgalerie am weißenhof auf die Besucher*innen wartet, wächst die digitale Ausstellung, die Stadtlücken als Miroboard unter www.aför.de ins Netz transportiert haben. Hier, auf diesem riesigen digitalen Whiteboard, findet man Ausstellungstexte, liegen Bücher, Anträge, Bilder – und mit digitalen Post-its kann man ebenso mitmachen und seine Kommentare hinterlassen. Ja, auch das ist öffentlicher Raum.

Die Ausstellung Amt für öffentlichen Raum stellt die Essenz der Erfahrungen dar, die die jungen Stadtmacher*innen während ihrer Intervention auf und mit dem Österreichischen Platz in Stuttgart gesammelt haben. Über das Jahr 2018 hinweg haben sie dort etwas bewegt, was unbeweglich schien. Sie haben gezeigt, was möglich ist, wenn man durch gemeinschaftliches Engagement ein Stückchen Stadt selbst gestaltet.

Stadtlabor Österreichischer Platz

Doch drehen wir die Zeit zurück. 2016, nachdem Hanna Noller und Sebastian Klawiter ihre Abschlussarbeit an der Akademie für Bildende Künste (ABK) in Stuttgart über „Stadtlücken“ abgelegt hatten, gründeten sie mit weiteren fünf den Verein, der zum Reallabor werden sollte. Wie in anderen Städten auch, herrscht in Stuttgart Immobilien- und Bodenspekulation, werden informelle Orte wegsaniert. Davon gibt es ohnehin nur wenige, zumal die Stadt sowieso eher beschaulich und irgendwie immer „in Ordnung“ wirkt. Doch es gibt viel Potenzial – die Universität, die Fachhochschule und die Akademie für Bildenden Künste bilden in den Fächern Design, Architektur und Stadtplanung aus. Stuttgart hat mit über 4000 eingetragenen Architekt*innen die höchste Dichte dieser Berufsgruppe in einer deutschen Großstadt. Und es gibt viele „Stadtlücken“, die die Menschen nutzen könn(t)en – Baulücken, Zeitlücken, soziale Lücken, rechtliche Lücken, Wissenslücken …

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Wo ist eigentlich dieser Österreichische Platz? Selbst Stuttgarter*innen haben Schwierigkeiten, dies zu beantworten. (Bild: Stadtlücken)

Selbst viele Stuttgarter*innen hatten Schwierigkeiten, den Österreichischen Platz vor der Intervention durch Stadtlücken zu lokalisieren. Es gibt zwar eine nach ihm benannte Bus- und U-Bahn-Haltestelle, ein städtischer Platz findet sich in deren Umgebung allerdings nicht. Wenn man so will, ist der Österreichische Platz ein riesiges Elefantenklo in der Stadt: Eine Ebene, die von stark befahrenen, sich dort kreuzenden Straßen überzogen wird und wo sich durch die Kreisverkehr-Regelung ein riesiges Loch auf eine untere Ebene öffnet. Dort liegt er, der Österreichische Platz – die Fläche unter dem Kreisverkehr diente lange als Parkplatz und Pinkelstelle. Mitten in Stuttgart. Ein Unort. Bis Stadtlücken ihn 2018 für sich entdeckten und bei der Stadt erwirkten, ihn für ein Jahr zu nutzen.

Erstmal Aufmerksamkeit schaffen, dachten sich die Stadtlücken. Das taten sie mit einem selbst gebauten Kiosk, den sie unter der Paulinenbrücke positionierten. Dort verkauften sie Merchandising-Artikel, Schals, Aufkleber mit der Aufschrift „Wo ist eigentlich dieser Österreichische Platz?“ oder „Wem gehört die Stadt?“. Dann haben sie den Parkplatz, quasi die Einfahrt zum Österreichischen Platz, freigeräumt. Statt parkenden Autos fanden die Stuttgart*innen ein Jahr lang hier einen öffentlichen Raum für gemeinsame Veranstaltungen, Kino, Picknicks, Tanzkurze, Installationen zu Stadt, Architektur und Kunst; zuletzt wurde hier eine Boulderwand installiert. Über 200 Veranstaltungen haben sie mit Partner*innen organisiert. Und immer wieder über die Stadt, das Wohnen, das Zusammenleben diskutiert. Wie kann man sich einbringen? Was bedeutet öffentlicher Raum und Boden? Wer kümmert sich darum? Und wem gehört er überhaupt? Für die offenen Gemüter der Stadt, vor allem die Kreativen, aber auch für viele darüber hinaus, ist der Platz unter der Paulinenbrücke zu einem informellen Treffpunkt geworden.

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#Essenessenessen – bei der wiederkehrenden österreichischen Brettljause. (Bild: Stadtlücken)

Abends, unter der Woche, war der Österreichische Platz immer belebt. Ich selbst habe dort den Film „Property Drama“ von Arno Brandlhuber und Christopher Roth gesehen, zusammen mit rund 40 Leuten, Studierenden, Kreativen, ein bunt-gemischtes Volk. Wir saßen auf Getränkekisten. Ein junges Paar gesellte sich zu mir, sie trug ein schönes Kopftuch, er bereitete ihr eine Decke auf der Straße, damit sie sich hinsetzen konnten. Hinten am Kiosk standen ein paar der Obdachlosen, die immer morgens unter der Paulinenbrücke präsent sind. Sie gehörten auch dazu – das war ja ihr Platz, bevor Stadtlücken kamen. Am Donnerstag kamen sie auch nachmittags – dann gab es Kaffee umsonst. Man kannte sich und man schätzte sich – von Anfang an. Als Stadtlücken den Kiosk gebaut haben, haben die Obdachlosen ihn nachts bewacht.

Vom Platz in die Kirche

„Es muss mehr geben als nur Plätze zum Wohnen, Arbeiten und Konsumieren“, sagt Hanna Noller. Möglichkeitsräume, die offen sind, an denen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und Ansichten begegnen und austauschen können, die keinem Verwertungsdruck unterliegen. Andere Orte als etwa das Gerber, eine neu entwickelte Shoppingmall gleich gegenüber des Österreichischen Platzes. Immerhin: „Hier kann man gut auf Toilette gehen“, sagt Tine Raven.

2107_KF_Stadtluecken_stmariaalsWas so locker daherkommt, ist von langer Hand erdacht und entwickelt worden. Stadtlücken hatten die Tragödie der Allmende vor Augen, als sie sich dem Österreichischen Platz 2016 annahmen. Im Mittelalter hatte jedes Dorf solch eine Allmende: Eine Wiese, die der Gemeinschaft gehört und auf der alle Bauern ihre Kühe grasen lassen konnten. Doch die romantische Vorstellung des Gemeinguts hat auch ihre Schattenseiten – das kann man mit dem aktuellen Ressourcenverbrauch auf der Erde sehen. Wenn der Zugang nicht geregelt wird, kommt die Allmende unter Druck, es kommt zur Übernutzung. Die Politologin Elinor Ostrom hat in den 1990er Jahren ein Buch dazu publiziert, in dem sie vorschlägt, die Ressource von einer lokalen Institution verwalten zu lassen, die sich selbst organisiert. Für die Verwaltung der sogenannten „Commons“ stellt sie klare Regeln auf, die sich auch Stadtlücken zu Herzen nahmen und nehmen.

Die Stadtlücken sind erstaunlich gut organisiert. Alles läuft wie am Schnürchen. Es gibt zwar keine fixierten Zuständigkeiten, dafür arbeiten die Stadtlücken mit Slack als digitalem Projektmanagementtool. Einen Kassenwart gibt es auch. Jeder der Stadtlücken arbeitet ehrenamtlich, alle mit voller Begeisterung fürs Projekt – und alle über ihre Arbeit und Grenzen hinaus. Die meisten sind Berufsanfänger*innen, Kreative und Künstler*innen, viele Absolvent*innen der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Dort lernt man abstraktes „Out of the Box“-Denken – allerdings mit einem guten Schuss Pragmatismus.

Stadtlücken speisen sich aus der gegenseitigen Motivation, aus der Erfahrung, was die Power von Gemeinschaft bewegen kann. Natalie zum Beispiel war nach dem Studium und als Fotografin schon auf dem Weg nach Berlin. Dann hat sie Stadtlücken kennengelernt – und blieb: „Es hat gleich gefunkt“. Sie habe durch die Arbeit in der Gruppe Mut, Engagement und Ehrlichkeit erfahren. Jonas, seines Zeichens Designer, kam gerade frisch aus Berlin. Stuttgart – nicht gerade die Stadt, wo was geht. Dann hat er sich Stadtlücken angeschlossen. Da geht doch was. „Wir sind Lernende. Wir haben keine Haltung. Nur die, dass es informell sein soll.“

Die Geschichte von Stadtlücken erschöpft sich nicht darin, dass sich Menschen in selbst verwalteten, partizipativen und vor allem informellen Strukturen, auf freier und künstlerischer Art einem öffentlichen Gut annehmen. Es gelang ihnen auch, durch künstlerische, wie auch sportive oder interkulturelle Angebote eine Vielfalt Menschen anzusprechen, sie zu aktivieren. Ihre Sache haben sie so gut gemacht, dass der Pastoralreferent Andréas Hofstetter-Straka von der nahegelegen katholischen Kirche St. Maria auf Stadtlücken zu kam: „Ich habe eine Kirche – habt ihr eine Idee?“ Sie hatten eine, und viele andere auch – zwei Wochen lang, ein Trampolin, Tanzabende, Gespräche. Es wurde viel diskutiert. Was darf in einer noch nicht entweihten Kirche passieren? Was erweitert ihre spirituellen und gesellschaftlichen Grenzen?

Ein Amt als Plattform für den Dialog

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Verlängert: Die Ausstellung der Stadtlücken in der Stuttgarter architekturgalerie am weißenhof. (Bild: Stadtlücken)

Was die Stadtlücken relativ schnell bemerkt haben: Es gab schon wahnsinnig viele Initiativen in der Stadt. Und sie haben sich mit ihnen vernetzt, mit Critical Mass oder der Initiative, die sich um die Stäffele kümmert, die vielen Treppen, die die Hänge hinaufführen. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, immer konstruktiv zu sein, nie zu schimpfen“, sagt Hanna und verweist auf die Stuttgart 21-Demos. Das habe Spuren in der Stadt und im Miteinander hinterlassen. Mittlerweile haben sie auch guten Kontakt zu allen Ämtern. Mit ihrer Initiative haben sie erreicht, dass mehr ämterübergreifend diskutiert wird. Ämter, die sich um den öffentlichen Raum kümmern, das Hochbau-, das Tiefbau-, das Stadtplanungsamt, das Grünflächen-Friedhofsamt würden nun gezielter miteinander reden, so Sascha.

Für den besseren Dialog schlagen Stadtlücken nun ein „Amt für öffentlichen Raum Stuttgart (AföR)“ vor, das – wenn es Realität würde – sich als „initiativ und kooperatives Querschnittsreferat innerhalb der Stadt“ verstehen und sich um nicht-kommerzielle Begegnungsorte im öffentlichen Raum kümmern würde. Die Ausstellung in der architekturgalerie am weißenhof, die aufgrund der vorübergehend Schließung durch die Corona-Pandemie nun verlängert wird, bietet einen Vorgeschmack auf das, was ein solches Amt leisten könnte: Als digital-analoger Denk- und Dialograum, zu dem alle Stuttgarter*innen und weitere mehr eingeladen sind, darüber zu sprechen, wie man gemeinsam Stadtraum gestalten kann. Konkrete Antworten soll die Ausstellung nicht liefern, vielmehr versucht sie sich vor Ort mit einem Wissensarchiv und durch Interaktion mit Besucher*innen sowie im virtuellen Raum über Diskussionen und Gesprächsrunden inhaltlich weiterzuentwickeln. So fragen Stadtlücken auch: Braucht es so ein Amt für öffentlichen Raum überhaupt?

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Baden im Neckar? Solche Fragen zur Entwicklung der Neckarinsel diskutieren Stadtlücken – hier noch vor der Corona-Pandemie – mit den Stuttgarter*innen. (Bild: Stadtlücken)

Den Zuschlag mit 1,6 Millionen Euro für die konkrete und langfristige Entwicklung des Platzes unter der Paulinenbrücke unterdessen haben sie von der Stadt Stuttgart bekommen. Ein großer Erfolg. Doch das Projekt ist ins Stocken geraten: Die Feuerwehrwache Stuttgart Süd wird hier temporär bis 2025 unter die Betondecke ziehen. Erst danach können die Stadtlücken loslegen. Derweil hat die neue Generation der Stadtlücken die Neckarinsel für sich entdeckt. Sie wollen eruieren, wie man den Neckar als Ort für Erholung und Entspannung noch besser nutzen kann. Dazu haben sie schon Diskussionen veranstaltet, um Ideen gemeinsam zu entwickeln. Und wenn alles gut geht, erlebt Stuttgart vielleicht ein zweites Stadtlücken-Sommermärchen wie einst unter der Paulinenbrücke. Vor allem aber öffnen Stadtlücken die Gedanken von Menschen, welche ungeahnten Möglichkeiten es doch gibt, sich in seiner Stadt einzubringen und diese in Gemeinschaft voranzubringen.