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Park am Gleisdreieck, Berlin, Januar 2021
(Bild: Nico Grunze)
Die Diskussion um die Zukunft der Innenstädte läuft auf Hochtouren. Kein Wunder, denn die Pandemie, Beschränkungen und Lockdown haben die Fundamente, auf denen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ruhten, erschüttert. Doch so eben mal werden sich die Innenstädte nicht umkrempeln lassen, vor allem nicht, wenn man die bestehenden Abhängigkeiten außer Acht lässt.

Die vergangenen Monate haben in den zentralen Lagen der Städte unübersehbare Spuren hinterlassen. Etwa seit dem Sommer hat sich eine lebhafte Debatte zur Situation in den Innenstädten entwickelt, die gegenwärtig höchste politische Gremien beschäftigt. Der Wunsch nach einer schnellen Lösung ist verständlich. Mindestens genauso lohnend ist es, innezuhalten und bisherige Effekte des Lockdowns sowie der zwischenzeitlichen sanften Öffnung zu analysieren, um für die Zukunft der Innenstädte Schlüsse zu ziehen.

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Der Potsdamer Platz ist gerade zur Mittagszeit bekannt als ein pulsierendes Zentrum, aber im Dezember 2020 oft nahezu menschenleer.

So ließ sich in Berlin während der Frühlings- und Sommermonate, also zu einem Zeitpunkt, als Geschäfte und kulturelle Einrichtungen zu einem gewissen Grad öffnen konnten und Tourismus möglich war, ein interessantes Phänomen beobachten. In der Stadt kehrte wieder Leben ein. Die Menschen hielten Abstand, dennoch herrschte in vielen Wohnquartieren und in den traditionellen Einkaufsstraßen ein Gefühl von Alltag. Dagegen blieben die Passantenfrequenzen an einigen zentralen Orten erstaunlich niedrig. Die Atmosphäre glich dort einem Themenpark kurz vor Geschäftsschluss. In bester Lage zeigte sich, wie sehr das Angebot auf Besucher, Urlauber oder Geschäftsreisende zugeschnitten ist. An diesen Orten gelang es anscheinend nicht, mit homogenen Angeboten wie steriler Systemgastronomie und uniformem Einzelhandel städtische Bevölkerung anzuziehen, obwohl nicht das übliche Gedränge herrschte. Stattdessen setzte Langeweile ein, Plätze in bester Lage wirkten auf einmal wie vergessene Leerstellen in der Metropole. Besonders betroffen waren davon augenscheinlich Areale rund um privatbetriebene Shopping- und Urban Entertainment Center. Stattdessen waren öffentliche Parkanlagen oder Promenaden überdurchschnittlich besucht. Im derzeitigen Lockdown wiederholt sich dieses Muster, zentrale Bereiche wie beispielsweise der Potsdamer Platz sind nahezu leer, während der unmittelbar angrenzende Park am Gleisdreieck wahrscheinlich neue Besucherrekorde verzeichnet. Worin also unterscheidet sich die Aufenthaltsqualität solcher viel frequentierten Plätze von den Gebieten mit all den Sehenswürdigkeiten einschließlich der spektakulären neuen Architektur? Zu einem Spaziergang müssten diese Orte doch eigentlich auch einladen.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Solche Beobachtungen sollten uns wichtige Hinweise für das geben, was eine krisenfestere Ausgangsbasis für die Zukunft von Handel, Gastronomie und Kultur sein könnte. Derzeit bestimmen schnelle Lösungen, neuen Nutzungen wie Pop-Up-Stores, Showrooms oder Try-before-you-by-Läden die Diskussion. So vielversprechend sie klingen mögen, bleibt doch fraglich ob sie einen nachhaltigen Wandel einleiten können und eine Atmosphäre zum Flanieren schaffen. Eher erinnern sie an alte Routinen, daran, mit neuen Erlebnisversprechen zum Konsum anzuregen. Ein neuer Gedanke besteht hingegen darin, über eine mögliche Normalisierung der Zentren im Sinne der Idee der nutzungsgemischten, europäischen Stadt nachzudenken. Das hieße: Nicht der Preis bestimmt den nächsten Mieter, sondern ein funktionaler und sozialer Mix mit Angeboten für jeden Geldbeutel. Es hieße, das Wohnen in den Zentren zu stärken. Außerdem gilt es zu überlegen, die vielerorts auf leichte Pflegbarkeit getrimmten Anlagen in ökologische Oasen umzugestalten. Auch das Auseinanderklaffen der Tag- und Nachtbevölkerung ließe sich durch abwechslungsreiche Angebote und eine konstantere Nutzung erheblich mildern.

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Der Sonnenschein lockt im Dezember 2020 zahlreiche Bewohner in den Park am Gleisdreieck, nur wenige hundert Meter vom Potsdamer Platz entfernt.

Für kulturelle oder gastronomische Einrichtungen ist zu hoffen, dass der Betrieb bald ähnlich wie bisher wieder aufgenommen werden kann. Dagegen ist der Wandel in anderen Branchen kaum mehr bezweifelbar mit strukturellen Folgen verbunden. Der stationäre Einzelhandel hat im Vergleich zu Onlineanbietern vor allem bei Gütern des mittelfristigen Bedarfs an Marktanteilen verloren. Corona beschleunigt hierbei lediglich den Strukturwandel. Hinter der Nutzung von Büros im bisherigen Umfang stehen ebenfalls erhebliche Fragezeichen, denn selbst in Toplagen haben sie gegenüber dem Homeoffice aus wirtschaftlichen und gesundheitlichen Argumenten an Bedeutung eingebüßt. Ganz ähnlich sind Hotels betroffen, denn Einschränkungen im Tourismus und auf das Notwendigste reduzierte Geschäftsreisen führen zu einer massiv abnehmenden Nachfrage. Die Städte sind bereits mit Leerstand in den zentralen Lagen konfrontiert. Das ist die Chance für Umnutzungskonzepte. Hotels, mitten in der Stadt, ließen sich zu Apartments für ältere Menschen oder Studierende umbauen. Der Wohnanteil in den zentralen Lagen könnte erhöht werden, und die Stadt der kürzeren Wege ergäbe sich fast automatisch. Beispiele aus mehreren Städten zeigen die Möglichkeit, Warenhäuser horizontal neu zu gliedern und als Quartierskerne zu etablieren. Auch könnten die Kommunen alternative Magneten wie Verwaltungen, soziale Infrastruktureinrichtungen, Ausbildungsstätten oder (Hoch)Schulen in den zentralen Lagen etablieren. Für Architekten, Planer und Ingenieure ergeben sich aus all dem neue Aufgabenfelder.

Friktionen

Die Ideen für neue Nutzungen sowohl kleinteiliger Geschäfte als auch großer Warenhäuser sind vielfältig, stoßen in der Umsetzung aber schnell an Grenzen. Aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung, auf wirtschaftliche Abhängigkeiten der Immobilienbesitzer, Projektentwickler, Centerbetreiber oder Banken hinzuweisen, um realistische Ziele zu formulieren. Am Beispiel der Betreibergesellschaften von Einkaufszentren oder Hotelimmobilien wird deutlich, wie schwierig deren aktuelle Situation ist und in welchem Dilemma diese stecken. Die Betreiber stehen auf der einen Seite Geschäftsinhabern gegenüber, deren Umsätze eingebrochen sind und die zur Zeit ihre Miete nicht in vollem Umfang bezahlen können. Auf der anderen Seite warten institutionalisierte Anleger und Fonds auf vereinbarte Erträge. Aufgrund ihrer treuhänderischen Funktion ist es ihnen oft nicht ohne weiteres möglich, auf Renditen zu verzichten, da die Anleger selbst Verpflichtungen, beispielsweise gegenüber Rentenversicherungen, haben. Außerdem laufen Finanzierungen der Immobilien über Banken mit dementsprechenden Zinsen und Tilgungen. Mittendrin stehen die Betreibergesellschaften.
Dennoch macht die aktuelle Situation deutlich, dass ein Umdenken in der Stadtpolitik notwendig ist. Die bisherige Logik, nach der der Höchstbietende den Zuschlag bekommt und damit maßgeblich über die Bodennutzung bestimmt, mündet in kurzfristig orientierte Anlageobjekte und ist kaum resilient. Monostrukturierte Räume mit dem zentralen Ziel, Gewinne zu generieren, können in dieser Form, wenn überhaupt, kaum länger als bis zur nächsten Krise funktionieren.

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Im Dezember 2020 lockt der Mercedes Platz als Herzstück eines neuen Quartiers zwischen Friedrichshain und Kreuzberg kaum Menschen an.

Seit der Finanzkrise und der anschließenden Nullzinspolitik nahm die Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten Fahrt auf. Im Fokus dabei: die Metropolen. Je höher der Druck, Rendite zu erwirtschaften, desto weniger ging es noch um eine lebenswerte Stadt. Auch in Berlin. Die Anzahl von halböffentlichen und privaten Räumen nimmt zu. Die Wachstumslogik des Marktes „höher, schneller, weiter“ mündete in zahllose austauschbare Events. Sie zielte auf den Tourismus und gewann immer mehr an Gewicht, günstige Flugverbindungen taten ein Übriges. Die Tourismusindustrie bestimmte in einigen Quartieren den Takt, für die Bewohnerschaft musste sich das anfühlen muss wie ein Leben in einer Werkhalle. Mit der funktional und sozial gemischten europäischen Stadt hat das nichts mehr zu tun.

Events in der Stadtentwicklung funktionieren erst ab einer kritischen Masse, aber wie viel braucht die Stadtgesellschaft davon? Welche Perspektive ist damit verbunden, in Berlin die jährliche Übernachtungszahl (34 Mio. 2019), um weitere Millionen zu steigern? In den 2000er Jahren war es vor allem die „sexy“ Atmosphäre, von der Besucher partizipieren wollten. „Arm, aber sexy“ war einmal: Nach und nach ist genau diese Atmosphäre verschwunden. Als idealtypisches Beispiel muss die Oranienburger Straße genannt werden. Sie ist heute in einem Zustand, der kaum noch plausibel erklären lässt, welche Energie für die gesamte Stadt einst von dort ausging. Das letzte Jahr machte deutlich, dass es mehrere dieser trostlosen Orte gibt, nur waren sie bis zum März 2020 schwer zu erkennen.

Für einen neuen Realismus

Wann wenn nicht jetzt ist die Gelegenheit, Stadtentwicklung stärker aus Sicht der Bewohner sowie der lokalen Wirtschaft, und deren tatsächliche Bedürfnisse anzupacken? Zwar gehen neue Lösungen zunächst mit geringeren finanziellen Gewinnen für Investoren einher. Doch Bewohner, die sich gern auf den Weg in das Stadtzentrum machen, tragen letztendlich zu einer krisenfesteren Rendite bei. Eine Voraussetzung für funktionale, soziale und ökonomische Mischung lässt sich nur in einer heterogenen Bau-, also auch Mietenstruktur realisieren. Das ist eine Grundvoraussetzung für ein diversifiziertes, kleinteiligeres und lokaleres Angebot von Handel oder Dienstleistungen. Die Umnutzung von Warenhäusern oder Hotelgebäuden kann zu dieser ausgeprägteren Vielfalt beitragen.

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Jung und Alt sind im Januar 2021 zwischen unspektakulärer Wohnbebauung und Rummelsburger Bucht auf der Zillepromenade unterwegs. (Alle Bilder dieses Beitrags: Nico Grunze)

Bevor wir uns aber daran machen, diese längerfristigen Visionen zu verfolgen, sollte allerdings überlegt werden, wie die Bundes- und Landespolitik Geschäftstreibenden, Vermietern und Banken aus der größten Not helfen kann. Gleichzeitig muss der Weg geebnet werden, um die Innenstädte so zu bereichern, dass die Attraktivität für die Stadtbevölkerung steigt. Die Ausgangssituationen in den Innenstädten und Zentren sind dabei differenziert zu betrachten. Allein die Stadtgröße oder die Lage in einer prosperierenden oder schrumpfenden Region entscheidet mit über die jeweiligen Perspektiven. In ähnlicher Weise lassen sich auch die unterschiedlichen Potenziale und Hemmnisse im Grad der Abhängigkeit von Berufspendlern oder dem Tourismus feststellen. Nicht zuletzt ist es die politische Führung sowie die kommunale Haushaltslage, die Stadt- und Zentren-Entwicklung prägt. Es zeichnen sich keine Patentrezepte, sondern individuelle Ansätze ab. Die Kommunen müssen aber auch in die Lage versetzt werden, solche individuelle Wege zu beschreiten, etwa in dem es ihnen leichter gemacht wird, Immobilien zu erwerben und Zwischennutzungen zuzulassen. Vielleicht sollte man aufhören, von einer Verödung der Innenstädte zu reden – zu sehr wurden sie in den letzen Jahren im Hinblick auf den Konsum optimiert. Jetzt kommt es darauf an, sie wieder zu normalisieren.


Der Beitrag fußt auf Beobachtungen und Eindrücken, die 2020 und 2021 in Berlin gesammelt wurden. Dieser Berliner Blick ist geeignet, um die Diskussion zu den Innenstädten voranzubringen, bietet aber durch die vielfältigen Ausgangssituationen in anderen Städten kaum die Gelegenheit zur Ableitung von allgemeingültigen Aussagen.