• Über Marlowes
  • Kontakt
Bild: Archiv Wawrik

Man findet auch unter notorisch ruhelosen, schöpferisch Tätigen selten einen, der im hohen Alter noch eine „swingende“ Zukunftsvision anbietet. Einer dieser selten Fälle: der Wiener Architekt Gunther Wawrik, Jahrgang 1930, der jetzt im Züricher Verlag Park Books sein Buch »Die Bergstadt. Eine Fiktion« vorgelegt hat. Er entwirft darin, angeregt durch die Kindheit am Rande von Salzburg, ein Gegen-Modell zu den heute ziellos dahinwuchernden Agglomerationen.


2106_KF_Bergstadt1

2106_KF_Bergstadt7

Alle Zeichnungen und Modellbilder: Archiv Gunther Wawrik. Alle Seitenabbildungen aus dem besprochenen Band

Wawriks Bergstadt ist keine Utopie, die wortgetreu anzustreben wäre, wie er betont. Sie ist auch kein Manifest wie die hochfliegenden Programme der Moderne oder Postmoderne, die in Stadtplanung und Siedlungsbau an der Eigendynamik „schlechter Wirklichkeit“ nicht nur zerschellten, sondern diese auch unfreiwillig karikaturhaft mitgeprägt haben. Wawriks Fiktion bietet eine leichthin skizzierte Metapher, eine Denk-Figur dafür, wie antagonistische Handlungsmuster miteinander verbunden, wie bestimmte Qualitäten von Gelände und Nutzung, von Natur und Gebautem, von privaten und öffentlichen Freiräumen, von Verkehr auf Wegen und Plätzen organisiert werden könnten, um wieder die in natürlichen Abläufen autonom entstehende, gut wohnbare Balance all dieser Faktoren zu erreichen.

Eine solche Polemik zwischen Formvorstellungen war Kern in Le Corbusiers Städtebau gewesen. 1925 auf französisch, bald auch auf deutsch publiziert, war es die Schrift zur Zukunft der Städte – wegweisend für die Maximen der CIAM, der Charta von Athen, die bis in die 1960er Jahre global als Richtschnur galten. Corbu entfaltete sein Argument aus dem Gegensatz von naturhaft krummen und autogerecht geraden Straßen: „Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat; er weiß wohin er geht, er hat sich für die Richtung entschieden und schreitet in ihr geradeaus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an…“


2106_KF_Bergstadt4

Die Bergstadt von oben.

Am Ende von Corbusiers Plädoyer für die geradlinige, die autoverkehrsgerechte Stadt, projektiert auf das vom Bestand entleerte Zentrum von Paris – ein Städtebau als Absage an Camillo Sittes gekurvte Räume nach „künstlerischen Prinzipien“, steht aber der lapidare Satz: „Meine Theorie bezieht sich auf ebenes Terrain. Auf unebenem besitzt die Kurve von vorneherein gesicherte Rechte!“ Und da liegt, in meinen Augen, auch der Startplatz für Wawriks Fiktion.

Wir können sie als ein Kontra zu Corbu lesen: eine bergig terrassierte Stadt ohne PKW-Kreuzungen und Gegenverkehr, wo Autos an den Rand gedrängt sind und es primär attraktive Fußwege gibt sowie lautlose öffentliche Verkehrsmittel. Aus der Vogelschau zeigen sich als Hauptstruktur zwei Straßenspiralen – eine hinauf, die andere hinunter. Sie sind ineinander verschlungen in der Figuration eines uralten Ornament-Motivs: Laufender Hund beziehungsweise Doppelmäander. In diesem universellen Signet dreht sich eine Spirale von außen ins Zentrum hinein, die zweite windet sich aus der Mitte wieder hinaus – als gekurvte oder auch orthogonale Wellenbewegung.


2106_KF_Bergstadt2

Schichtenplan (links) und Tangentialstraßen

2106_KF_Bergstadt5

An die Radialstraßen gliedern sich tädtebauliche Einheiten – Stadtpartikel – sowie terrassierte Gärten und Glashäuser als Allmende an.

Der Grundriss von Wawriks Stadt hat also eine mythopoetische Signatur – den Doppelmäander. In der Antike bedeutete dies die Erlangung von Ewigkeit in der Zeit durch Reproduktion: Ein alterndes Wesen setzt ein junges an seine Stelle. Das Ältere rollt sich zusammen, während das Junge sich entfaltet. Es referiert auf den alterslosen Eros und die ewig sich erneuernde Energie im Kosmos. Dieselbe Signatur hat auch das Yin-Yang-Zeichen. Es vereint komplementäre Gegensätze: Tag/Nacht; Himmel/Erde; männlich/weiblich … Die Doppelspirale der Bergstadt ist nun überlagert von den Strahlen der orthogonal über sie – in Falllinie – hinwegführenden, geraden Radialstraßen. Ihre konzentrische Geometrik stammt wiederum aus der neuzeitlichen, rationalen Organisation von Stadtkörpern.

Die Bergstadt verknüpft also Krummes mit Geradem, „Organisches“ mit „Rationalität“. Das eine wäre die zwiebelhafte Struktur eines archaischen, ein „heiliges Zentrum“ mit Schichten und Schilden umhüllenden Topos, das andere die zentralperspektivisch grenzenlose Rationalität im Sinn von Renaissance und Aufklärung. Doch in mindestens einem Brennpunkt befreit sich Wawriks Fiktion energisch aus archaisierender Verhaftung: In alten Ensembles besetzt die Spitze des Bau- und Lebensgefüges die Burg samt Bergfried, die Abtei samt Turm, der Dom oder ein Haupttempel – von Athen oder Shatrunjaya bis Prag, Salzburg, Laibach… Dies war die alte Hierarchie, die exklusive Besetzung des besten, dominierenden Platzes. Hier aber ist der Bergkamm, der oberste Rücken, unbebaut gedacht, freigehalten als leere Mitte, grüner Festplatz.


2106_KF_Bergstadt3

Der Stadt vorgelagt: Ein eine Kuppe fassender „Kopf“.

Als Ineinander von Oppositionen hatte Wawrik schon seine Monografie zum 70. deklariert, deren Titel Architektur zwischen Bricolage und Instrument sich auf Claude Lévi-Strauss bezog. Im legendären Buch Das wilde Denken erklärte der französische Ethnologe Differenzen und Gemeinsames von „primitiven“ und „zivilisierten“ Gesellschaften, von „Erster“ und „Dritter Welt“ anhand der Typologie: hier der rationale Fachmann, der wissenschaftlich induktiv vorgehende Ingenieur, dort der improvisierende Bastler, der Bricoleur, der gewitzt mit zufällig Gegebenem, mit Mangel zurande kommt. Das Ingenieurwesen liebt die tabula rasa, die Löschung all dessen, was war, und braucht zum Neubau avancierte Stoffe und Techniken, um Werke „aus einem Guss“ zu schaffen. Bricolage hingegen kann jederzeit auskommen mit allem, was zur Hand ist, sie nutzt auch Disparates oder Reste, transformiert sie zu hybriden Ganzheiten, schafft Zustände, die ihrerseits als Durchgangsstadien nächsten Transformationen offenstehen.

Mit dem so handlich gestalteten Buch „Die Bergstadt“ hebt Architekt Wawrik seine in früheren Projekten partiell angesteuerte Verschränkung der Denk- und Handlungsstile in eine große, sinfonische Fiktion und sagt uns im Metatext: Die Polarität zwischen Natur und Artefakt als ökologische Herausforderung zu bewältigen, benötigt die Verschmelzung von „rationalen“ mit „wilden“ Denk- und Handlungsweisen. Nicht eine Dogmatik, welche das jeweils andere ablehnt, sondern eine Intelligenz, die durch beides radikal, doch interdependent hindurchgeht.


140×210 mmGunther Wawrik: Die Bergstadt. Eine Fiktion. Herausgegeben von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser und Claudia Mazanek.
112 Seiten, 46 farbige und 21 Abbildungen, 16 x 24 cm, 29 Euro
Park Books, Zürich, 2020
Weitere Information >>>

 


Dieser Text wurde erstmals am 28. November 2020 in Die Presse / Spectrum veröffentlicht.

Eine ausführlichere Auseinandersetzung Otto Kapfingers mit Wawriks Bergstadt ist auf den Seiten des GAT zu finden >>>