• Über Marlowes
  • Kontakt

Zwei alpenländische Entdeckungen


Nicht zuletzt der jüngst verstorbene Friedrich Achleitner hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Architektur aus Österreich in Deutschland nicht nur gut bekannt ist, sondern sich außerordentlicher Beliebtheit erfreut.  Dennoch lassen sich immer wieder Neuentdeckungen im vermeintlich bekannten Terrain machen – etwa dank zweier jüngst veröffentlichter Biografien.



1926_KF_ramersdorfer

Ingrid Holzschuh und Patricia Ramersdorfer (Hg.):
Architekt Willi F. Ramersdorfer. Bauten + Projekte 1950–2010.
264 Seiten, 22 x 31 cm, 48 Euro
Park Books, Zürich 2018
Weitere Information >>>

Willi F. Ramersdorfer

Diese Architektenmonografie zu einem lokal bekannten, maßvoll Modernen, einem Erneuerer des in der Nachkriegszeit noch recht konservativen Architekturlandes Vorarlberg, lässt einem – vom ersten Griff bis zum genauen Lesen – mehrfach Meinungen ändern. Zunächst: Meine Güte so modisch, der überaus zeitgemäß plan beschnittene Buchblock, das massive Cover, der protzige Silberschnitt, machen schon etwas her, dazu der elegante Schwung der Fifthies auf dem Titel. Doch, das ist nur ein erster fotogener Einblick in das Werk des Universalisten Willi F. Ramersdorfer (1922-2010), dieses Tiroler Sep Ruf-Schülers, der an verschiedenen deutschen Schulen ausgebildet war, der in der Schweiz praktizierte und in Vorarlberg erfolgreich ansässig wurde. Ramersdorfer steht für eine Generation von Architekten im Alpenland, die nach schwierigen Studienjahren und in seinem Fall, dank eines gut vernetzten älteren Büropartners (German Meusburger) den Wirtschaftswunderschwung in hochästhetische, international geprägte Architekturen übersetzte und die formalen Wenden aller folgenden Dekaden ebenso erfolgreich aufgriff, wobei er seine moderne Grundhaltung geschickt mit lokalen Vorstellungen paarte. All das kann man am ‚coolen‘ Äußeren des Bandes noch nicht ablesen und deswegen ist der genaue Blick so aufschlussreich, denn nicht nur um lässige Bungalows und Dynamik vermittelnde Industriebauten geht es, sondern beispielsweise um die Entwicklung eines Bautyps für SOS-Kinderdörfer (realisiert vom Ländle bis Saigon) genauso wie um den kraftvollen Auftritt der Tourismusbauten ab den 1970er Jahre mit dunkel schwerer und orgiastischer Holzverwendung, die oft genug als „überzeichnete Rustikalismen“ abqualifiziert werden.

1926_KF_Ramersdorfer-S-108_Haus-Vasily

Haus Prutz (vormals Vasily), Feldkirch, Entwurf, Perspektive, 1965

Das Buch beginnt mit der sehr persönlichen Einführung der Tochter als Mitherausgeberin, die zunächst eine Doktorarbeit über den Vater plante, und endet mit Hochzeits- und Familienfotos. So viel Nähe, gut, dass daraus keine Dissertation wurde. Denn wie hätte Patricia Ramersdorfer, Architektin und Nachfolgerin im Büro, jemals wissenschaftliche Distanz aufbauen können. Doch ließ sie der forsche Willen, das Werk des Vaters mit einer Reihe von Fachautoren ergründen, im Archiv das Beste auswählen und die „Ramersdorfer-Grafik“ sehr gut aufbereiten. Im ersten Teil der Monografie beleuchten sieben Fachbeiträge den Entwicklungsgang des Architekten und alle Gattungen seines Werkes bis 1973 als Partner, die folgenden Jahrzehnte in selbständiger Verantwortung. Wenn es soviel Faktisches auszubreiten gilt, wird manches wiederholt, ein kleine Schwäche, aber das wiegen andere Beiträge wieder auf, wie jener zur Abweichung von der „dörflichen Metapher“ für die SOS-Projekte (Christian Kühn), wie die Untersuchung zu den mit öffentlichen Projekten „gebauten Identitäten“ (Ingrid Holzschuh) oder die kulturkritische Einlassung Bernhard Tschofens auf die des „zweiten Blicks“ zu würdigenden, mächtigen Hotelburgen der Siebziger Jahre. Vor allem letztgenannter Aufsatz war eine Offenbarung für die Rezensentin – und nun wird es ebenso persönlich – fand sie doch darin mehrere Orte ihrer Kindheit überraschend wieder: Ach, das ist ein Ramersdorfer!

1926_KF_Ramersdorfer-S-138-139_Stadthalle_Dornbirn

Gesamtansicht der neuen Messehalle Dornbirn, nach 1954, Postkarte Hellensteiner © Stadtarchiv Dornbirn. Beide Abbildungen sind dem rezensierten Buch entnommen.

Im zweiten Teil des Buches werden in zwölf Abschnitten wenige, doch gut gewählte Hauptwerke bildgewaltig und platzverschwenderisch gezeigt, auch das funktioniert, denn die vorangestellten Textbeiträge haben den Wissenshintergrund gelegt. Was noch zu einer ersten Monografie gehört, Werkverzeichnis, Literatur, Archive, Lebensdaten – also, Überblick geben –, all das ist vorhanden. Man hat ein wirklich schönes Buch über einen interessanten Baukünstler auf den ersten und zweiten Blick in den Händen.


 





1926_KF_Cover1

Juliane Mayer: Der Architekt Wilhelm Stigler sen. 1903–1976.
2 Bände. Neue Studien zur Architektur der Tiroler Moderne.
Band 1: 368 Seiten, 34,90 Euro; Band 2: 244 Seiten, 24,90 Euro
Schriftenreihe des Archivs für Baukunst der Universität Innsbruck. StudienVerlag, Innsbruck u.a. 2018
Weitere Information zu Band 1 >>>
Weitere Information zu Band 2 >>>

Wilhelm Stigler sen.

Es liegt mehr als zwanzig Jahre zurück, als ich im Zug eines Ausstellungsprojekt zur „Phänomenologie des Ungleichzeitigen“ der Tiroler Moderne einen Blick auf den geordneten aber wissenschaftlich unbearbeiteten Nachlass des Wilhelm Stigler sen. werfen durfte. Mein Eindruck damals: Welch großartiges Material, welche Arbeit und – „das muss doch einmal jemand machen!“ Juliane Mayer hat es gemacht (zugleich ging Stiglers Nachlass in das Innsbrucker Archiv für Baukunst über) und sie legt als Ergebnis ihrer Doktorarbeit zwei üppige Bände vor – ein Textbuch und ein umfangreich bebildertes, detailtief kommentiertes Werkverzeichnis. Wilhelm Stigler sen., diesem Tiroler Modernen der zweiten Generation, ist damit endlich zu einem gebührenden Auftritt verholfen.

Mayer schreibt eine klassische Architektenmonografie, die sich im Sinne der biografischen Werkforschung zunächst einmal in Materialfülle ergehen kann, die Lehrmeister und Einflüsse (von German Bestelmeyer an der TH München bis Praktika bei Clemens Holzmeister) darstellt, die zeithistorische Rückbindungen und Begrenzungen (vom Bauen für das heimische Unternehmertum bis zum Wohnbauwesen im Dritten Reich) verständlich macht, die Vergleichsfälle und Vorbilder (von anonymen Bauten bis Robert Vorhoelzer) sucht, und die die notwendig kritische Einschätzung eines Architekten der „Kontinuität und Brüche“-Generation über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg trifft. Auch arbeitet Mayer bautypologisch, sie kann dabei Ergebnisse ihrer universitären Lehrtätigkeit einbeziehen, worin sie mit Studierenden viele (Modell-)Studien zu Stiglers bekanntesten Bauten erarbeitet hat, die nun dem Buch zugutekommen.

1926_KF_kematen

Siedlung Messerschmitt in Kematen, 1942. Bild: ©Juliane Mayer

Doch trifft die Autorin klugerweise eine Auswahl, die sie im Textband zu Schwerpunkten entwickelt: Es sind nach der ausführlichen Erzählung der Entwicklung Stiglers zum Architekten einmal dessen sehr produktive Phase zwischen 1926 und 1937 in der er, kräftig im Tiroler Baugeschehen mitmischte und sich mit Wohnbauten und Innenraumgestaltungen in die Architekturgeschichte einschrieb; und es sind die Siedlungsplanungen nach 1938 (eine Werkssiedlung in Kematen und der Wiederaufbau des nach einem Brand zerstörten Dorfes Grins). Letztere waren komplette Desiderate und sind nun erstmals beziehungsreich dargestellt. Im ersten Schwerpunktkapitel ist besonders die vergleichende bau- und elementtypologische Herangehensweise Mayers wesentlich, sie hilft von oft geübten Stereotypen in der Charakterisierung der Tiroler Moderne aufzubrechen. Im zweiten Vertiefungskapitel zeigt die Autorin, dass Stigler alles andere als unbelastet war und eine kontinuierliche NS-Arbeitsbiografie hatte, welcher sie belegend und nüchtern nachgeht.

1926_KF_CC4.0_Rhombergpassage,_Innsbruck

Die Rhomnbergpassage in Innsbruck (mit Willi Stigler jun.), 1959–1961. Bild: Wikimedia Commons, CC BY 4.0, Simon Legner >>>

Die beiden Bände zeichnen sich durch Detailreichtum in jeder Hinsicht aus, sei es durch aufschlussreiche Subkapitel, wie etwa zu einem nicht letztgültig einzuordnenden Archivbestand, Stiglers Fotosammlung anonymer Architektur, die in der Nähe der volkskundlichen Inventarisierungsbemühung der 1940er Jahre steht; sei es durch eine Reihe von Farbtafeln, die den expressiven Darstellungsstil des Architekten, der kräftige Kohlestriche setzte, diese bunt anlegte und so gerade Innenräume plastisch werden ließ, zeigen.
Stigler sen. bleibt laut Juliane Mayers Fazit, zwischen „progressiv“ und „regressiv“, zwischen „reaktionär“ und „modern“ schwer zu greifen. Doch gerade dieses Uneindeutige lässt diesen Fall vor dem Hintergrund einer ersten (gut erforschten) und einer zweiten (noch besser zu erforschenden) Tiroler Moderne lebendig werden.