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Vittorio Gregotti (1927–2020)


Er hat die Architektur der italienischen Moderne von der Nachkriegszeit bis zur Jahrtausendwende geprägt wie kein Zweiter –  als Architekt mit einem umfassenden Anspruch.


Es ist ein wahrhaft prominentes Opfer der Krise. 92-jährig starb am 15. März in Mailand infolge der Infektion mit dem Corona-Virus Vittorio Gregotti. Er war ein stiller Riese, hatte nicht die Aufmerksamkeit eines Aldo Rossi bekommen, nie einen Kultstatus des Einzelgängers wie Carlo Scarpa erreicht, nicht die bildmächtigen Provokationen geliefert, wie es Superstudio getan hatte. Und dennoch war er einer der einflussreichsten Personen für die italienische Nachkriegsmoderne überhaupt. Als Architekt, Städtebauer, Ausstellungsmacher, Autor und Publizist. Fast zwanzig Jahre lang war er Direktor der Zeitschrift Rassegna, fünfzehn Jahre lang gab er die Casabella heraus, war er Redakteur von Lotus International – prägende Zeitschriften für den Diskurs nicht nur in Italien. Er war 1964 verantwortlich für die Einführungssektion der XIII. Triennale in Mailand  und noch vor der ersten Architekturbiennale, 1976, organisiert er eine Architekturausstellung auf der Biennale, in der Arbeiten Carlo Aymonio, Oswald Matthias Ungers, Hans Hollein, Aldo Rossi, Peter Eisenman und Robert Venturi gezeigt wurden. Sein Büro gründete er 1952 in Mailand, wo er Architektur studiert hatte, und nachdem er bei Auguste Perret gearbeitet hatte. Als Architekt wird er dem Rationalismus zugerechnet, eine etwas unbefriedigende Zuschreibung, wie es alle Etiketten sind: kleiner als das, woran sie geheftet werden.

Morphologie der Stadt


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Landschaftliche Geste: Neubau der Università della Calabria (Bild: wikimedia commons, Fernando Santopaolo, CC BY-SA 4.0)

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Wohnungsbau in Cannaregio, Venedig. (Bild: flickr.com, Steve Cadman, CC BY-NC-SA 2.0)

Gregotti war mit Aldo Rossi, dem er freundschaftlich verbunden war, einer der Architekten, die Forschungen zu Morphologie und Typologie für die Stadtgestaltung und Architektur fruchtbar machten und damit die Elemente des öffentlichen Raums in eng verwobenem Bezug zur Architektur stellten. In „Il territorio dell‘architettura“ von 1966 hatte er die theoretischen Grundlagen dafür publiziert, umgesetzt wurden diese Ideen etwa in der Anlage Università della Calabria in Rende aus den 1970er Jahren ebenso wie in der Wohnanlage auf Cannaregio in Venedig (1985). Diese ging auf ein Entwurfsseminar von 1978 zurück, das auch zu den Bauten von Giancarlo de Carlo auf Mazzorbo und Gino Valle auf der Giudecca führte. Alle verfolgten den hohen Anspruch, das historische Dominante der Lagungenstadt zeitgemäß zu interpretieren, ohne sie radikal mit einem Gegenmodell zu überformen. Cannaregio ist vielleicht eines der schönsten Projekte Gregottis geblieben.

Eine der Pionierarbeiten für den stadttypologischen Ansatz, der die räumliche Prägung der Straße durch die Architektur wieder thematisiert, hätte auch das 1977 begonnene Quartiere Z.E.N. in Palermo sein können – doch es ist in den Querelen der Ausführung zerrieben worden. Auch wenn das Scheitern von Z.E.N. der Architektur und dem Städtebau angelastet wird, so lag das auch wesentlich daran, dass Infrastruktur und Architektur nicht wie geplant verwirklicht wurden. (1)

Virtuose des Monumentalen


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Vittorio Gregotti 2016. (Bild: wikimedia commons, xiquinhosilva, CC BY-SA 2.0)

In Deutschland entstanden im Rahmen der IBA Berlin die Torhäuser an der Lützowstraße (1986), in Italien baute er für die WM 1990 das Luigi Ferraris Stadion in Genua komplett um, entwarf die Kirche und Gemeindezentrum in Burracana (Seveso, nördlich von Mailand, 2003). Die Neigung zu strengen, großen, auf geometrischen Grundformen aufbauenden Volumina hat oft zu einer gewissen Monumentalität geführt – die er virtuos zu handhaben wusste. Er hat sie im burgenhaften Kulturzentrum in Belém bei Lissabon (1993) pitturesk gebrochen, beim Hauptsitz von Pirelli von 2003 technizistisch gewandet, als selbstbewusste Großform im Wohnkomplex in Lecco (1996/2003) als stadtlandschaftlich ordnenden Geste eingesetzt. Beim Quartier Bicocca (2005) in Mailand, dort wo einst die Pirelli-Werke standen und sich nun der neue Haupsitz befindet, kommt diese Klarheit der großen Form an ihre Grenze, hier verweigert die Monumentalität den Räumen das Maß an Aneignung, das dem Ensemble die notwendige Alltäglichkeit verleihen könnte.

Vor zwei Jahren hatte er sein Büro geschlossen, unzufrieden mit der Lage seiner Profession – niemand interessiere sich mehr für Architektur. Lässt sich seine resignative Einsicht widerlegen?


(1) Eine kritische Würdigung diese Projekts ist zu finden in: Vittorio Magnano Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert, Band II, Berlin 2010, S. 817-19