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Wieder Lockdown. Die Tage sind kurz, die Abende lang. Drei Buchempfehlungen für kleine Fluchten und gründliche Vertiefungen.

 

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LAN Local Architecture Network, Benoit Jallon, Umberto Napolitano (Hg.): Napoli Super Modern. 24 x 30 cm, 232 Seiten, 48 Euro
Park Books, Zürich, 2020

Neapel ist ein Ort für Geschichten, Vorurteile, Schwärmereien. Calcio, Camorra, Canzone, getürmte Dichte, großartige Baukunst, Verfall und Lebenslust. „Napoli Super Modern“ lenkt den Blick auf die Architektur der Zeit zwischen 1930 und 1960, zeigt an 18 ausgewählten Beispielen, wie sich hier internationale Strömung mit dem besonderen genius loci Neapels verband. Wie die Moderne sich in das dichte Stadtgefüge eingeschrieben hat. In wunderschönen Fotografien von Cyrille Weiner, weitausgreifenden Essays und einer Darstellung, nach welchen Kriterien die Herausgeber Benoit Jallon und Umberto Napolitano vom Architekturbüro LAN die Projekte ausgewählt haben, im einen Teil; in übersichtlichen Grundrissen, Ansichten und Lagepläne sowie kurzen Projekttexten und Architektenbiografien im anderen Teil entführt dieser schön gestaltete Band in die faszinierende Metropole unter dem Vesuv abseits der Reiseführerwelt. Es ist ein Buch für Entdeckungen: Im Haupsitz des Instituto Nazionale Assicurazion (Marcello Canino, 1937) wird die Stadt in einem Mix aus Klinker, Naturstein, moderner Kargheit und historischen Referenzen fortgeschrieben. Der Cubo d‘Oro (Luigi Piccinato, 1940) auf dem Ausstellungsgelände der Triennale delle Terre Italiane d‘Oltremare zeigt, wie das faschistische Italien den Kolonialismus feierte. Mit den Sozialwohnungen von Luigi Cosenza, Carlo Coen und Francesco della Sala (1947) wird mit rigidem Zeilenbau ein Neuanfang in der Nachkriegszeit inszeniert, in den Terrassen, Balkonen und Stegen des Palazzo della Morte lebt der Traum der Verschmelzung von Architektur, Landschaft und Natur fort (Stefania Filo Speziale, Carlo Chiureazzi, Giorgio di Simone, 1960).

Ein paar kleine Schwächen hat das wunderschön gemachte Buch leider auch. Im Bemühen um Ästhetik und Klarheit wurde darauf verzichtet, auf einem Übersichtsplan zu zeigen, wo die Bauten stehen, sie bekamen keine Adresse, und ihre fotografische Darstellung ist etwas ungleichgewichtig: Von der Villa Oro (Luigi Cosenza, Bernhard Rudofsky, 1937) findet sich bedauerlicherweise gleich gar kein Foto. Für den Freund der Moderne, der eine ihrer vielen Spielarten studieren möchte, sollte das aber nicht ausschlaggebend sein.



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Gottfried Müller: Vorläufige Höhepunkte der Baukunst. 16 Gechichten. 24,0 x 17,0 cm, 144 Seiten, 70 farbige Abbildungen, 24, 95 Euro
Birkhäuser Verlag, Basel, 2020

„Wir müssen den in Worten und Bildern gleichermaßen brillierenden Autor Müller loben, weil er uns mit Schrecklichem unterhalten hat und weil seine witzig-pointierenden Übertreibungen uns die Grotesken und Gräuel des Baualltags in brillanter Überschärfe nahegebracht hat“, so Gottfried Knapp im Vorwort zu Gottfried Müllers neuestem Buch. Empfehlung genug für jeden, der sich gerne an den Unzulänglichkeiten epigonaler Architektur erfreut, an den merkwürdigen Heimwerkerburgen und verbauten Beständen, die sich allerorten finden lassen. Mit Antworten auf Fragen, die man sich sicher schon einmal gestellt hat. Wie konnte so etwas genehmigt werden? „Der Cousin vom Vater war der Landrat, da ging es eben doch. Und dem sein Großneffe ist der jetzige Landrat, deswegen geht es immer noch“, lässt Müller in einem der zwölf fiktiven Interviews einen Herrn über sein Haus sagen, eines der 12 missratenen, die uns vorgestellt werden. Zu ihnen gehört auch die Villa Föhnblick, das Haus Sumpfgrund 43 oder das Haus T., das zum vierten Mal zum Verkauf steht. In dessen Plänen ist zu sehen, dass die vollverglasten Wohnräume leer und aufgeräumt sind und sich in Bad und Schlafzimmer das Chaos ausbreitet – aus Angst, die Gäste könnten versehentlich einen Blick in eines dieser Zimmer werfen, laden die Eigentümer schon lange keine mehr ein.

Aber nicht, dass früher alles besser gewesen sei: Geschmäcklertum und Pfusch am Bau macht auch das Leben in alten Häusern schwer. „Meine Frau ist Interior-Designerin, die ist schier durchgedreht, als sie begriffen hat, dass man hier drinnen nichts designen kann“, so Dr. H.c. Hubertus von Gezla-Rindesloh im Interview über die Villa Föhnblick. Ergänzt werden die „missratenen Häuser“ um die „sieben Fassaden des Bankhauses Soleder“ und um drei Entwürfe der Heroen Wright, Mies und LeCorbusier, die entweder – angeblich – wieder abgerissen oder dann doch nicht gebaut wurden. Wrights Landhaus für das Ehepaar Carson etwa hatte angeblich ein Dach, das etwa die zehnfache Fläche des eigentlichen Hauses überdeckt, LeCorbusiers Villa für einen italienischen Funktionär hatte einen verlängerten Balkon, der bis zur Mittelmeerküste reichte.

Jede Geschichte wird dabei von den großartigen Zeichnungen Müllers illustriert. Baugeschichtsforschung und Geltungssucht der Gestalter werden ebenso aufs Korn genommen wie die Eitelkeit der Bauherrschaft und die Niederungen der alltäglichen Politik. Man könnte von Tragödien sprechen, denn es kommt zum Drama, weil die Menschen eben so sind, wie sie sind: Humor für alle Tage, auch für die schwereren.



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Harald Bodenschatz, Max Welch Guerra (Hg.): Städtebau unter Salazar. Diktatorische Modernisierung des portugiesischen Imperiums 1926–1960. 24 × 30 cm, 496 Seiten, 98 Euro
Dom Publishers, Berlin, 2019

Für alle Freunde Portugals ebenso wie der Stadtbaugeschichte Europas des 20. Jahrhunderts ist das von Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra herausgegebene Werk über den portugiesischen Städtebau unter dem Diktator Salazar ein Muss. Es ist die erste umfassende Aufarbeitung des Städtebaus dieser Zeit, und sie zeigt, wie sehr die Planungen jener Zeit bis heute Portugal prägen. Denn in diese Phase fallen nicht nur die städtebaulichen Prestigeprojekte wie der Campus der Technischen Universität Lissabon oder das „vielleicht größte und bedeutendste Städtebauprojekt der Diktatur überhaupt“; das Ausstellungsgelände in Bélem, ein Propagandaprojekt, auf dem 1940 die „Ausstellung der portugiesischen Welt“ gezeigt wurde. Die Zeit der Diktatur war verknüpft mit der infrastrukturellen Modernisierung des Landes, mit dem Anschluss des ländlichen Raums an die Moderne und mit umfangreichen Wohnungsbauprogrammen. Die Planungen, Wettbewerbe, Diskussionen einschließlich der Entwicklungen in den Kolonien Portugals werden in diesem üppigen Band ausführlich und reich bebildert ausgebreitet – was aber auch heißt, dass man sich Zeit nehmen muss, um die verschiedenen Entwicklungslinien nachvollziehen zu können.

Um sich im Portugal von heute orientieren zu können, ist dies aber fast unabdingbar. Denn wenn auch dieser Teil europäischer Stadtbaugeschichte bislang wenig beachtet wurde, sei er in Portugal selbst ein großes und wichtiges Thema – einerseits. Andererseits sei der Städtebau der Diktatur „völlig umstandslos (…) in den postdiktatorischen Alltag integriert, so heißt es im Schlusswort, sei „das Erbe ganz und gar präsent und zugleich als solches unsichtbar“, ein „selbstverständlicher und akzeptierter Teil der Welt von heute.“ Dass dies so ist, kann nicht nur damit erklärt werden, dass sich gezwungenermaßen die Diktatur in den späten 1940er und den 1950er Jahren stark nach Westen orientierte und sich dies auch in den Planungen niederschlug, die nun den gängigen Leitbildern modernen Städtebaus folgte. Es ist auch damit zu erklären, dass sich der Städtebau Portugals von denen anderer europäischer Diktaturen unterscheidet, insofern er zwar auch stark staatlich kontrolliert und gesteuert wurde, aber hauptsächlich technokratisch verstanden wurde: Salazar habe sich nie wie Hitler oder Mussolini für Städtebau interessiert, für ihn sei der Ausbau der Infrastruktur entscheidend gewesen. Auch die Hinwendung zur Geschichte war eine andere: So könne die erhaltende Erneuerung der Altstadt von Évora der 1940er und 50er Jahre als eines der bedeutendsten Beispiele dieser Art vor Beginn der großen Zeit der behutsamen Stadterneuerung gelten,  auch wurde nirgendwo sonst in Europa ein vergleichbares Burgenbauprogramm entwickelt – die Rekonstruktion des Lissabonner Kastells St. Georg von 1940 ist das prominenteste Beispiel dafür.

Dass die Diktatur zwar bis 1974 währte, das Buch aber nur den Zeitraum bis 1960 behandelt, liegt daran, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Befreiungskriege in Afrika und internationale Isolation einen Niedergang einleitete, der auch auf den Städtebau durchschlug. Das opulente Werk ist im Übrigen Teil eines Forschungszusammenhangs, der neben Portugal auch Spanien umfasste: die Publikation „Städtebau als Kreuzzug Francos“ ist bereits für den kommenden Monat angekündigt.