Vom schlichten Mund-Nase-Schutz zum modischen Accessoire: Die Schutzpflicht zwingt zu Körperdistanz und mimischem Schweigen, das durch maskenbildchen Ausdruck ersetzt wird. Soziologen, Psychologen, Historiker und andere wagen erste Diagnosen und Prognosen zu den Veränderungen, die sich hartnäckig im Alltag der verunsicherten Gesellschaft einnisten.
Ob es die Essküche als Ort familiären Zusammentreffens oder ein guter Platz im öffentlichen Raum als Treffpunkt für die Dorfjugend oder urbane Nachtschwärmer ist: Was lassen sich ArchitektInnen nicht alles einfallen, um private Gemeinschaftsräume und animierende Begegnungsstätten für Jedermann zu konzipieren! Welche Schaffenskrisen durchleben sie, um ihren Gebäuden einen angemessenen Ausdruck zu verleihen! Alle dabei errungenen, vermeintlichen Gewissheiten werden gerade etwas erschüttert. Schlagartig müssen wir uns dabei auch in Erinnerung rufen, wie brüchig beispielsweise die (Gebäude-)Funktion als Basis des formalen Ausdrucks ist. Innenstädte – welcher Größenordnungen auch immer – werden sich nach Corona geändert haben oder ändern müssen. Den Erdgeschossen werden, früher als durchdacht, neue Aufgaben zuteil. Welche ikonographischen Veränderungen sich dadurch in den Innenstädten ergeben, hängt davon ab, wie intensiv wir uns mit den Veränderungen befassen.
Distancing
Häuser auf Abstand, Grün und mehr Parks in den Städten statt aberwitziger Nachverdichtung – die Rufe nach derartigem Architectural Distancing wirken derweil hektisch und unbeholfen, die Pflicht zum Social Distancing sind nach dem Stand der Wissenschaft dagegen sehr berechtigt. Beide Distanz-Forderungen sind Momenten wissenschaftlicher Einsicht, aber auch unbegründeter Angst und Panik geschuldet und halten einer vernünftigen Argumentation „nach Corona“ nicht unreflektiert stand.1)
Staunen, Analysen, Prognosen
Dass die Feuilletons und andere, rasch geforderte Medien nicht gekniffen, sondern sich teils mit staunenden Beobachtungen und bemerkenswerten Recherchen sowie Thesen geäußert haben, erkennen AutorInnen und die Herausgeber (Michael Volkmer und Karin Werner vom rührigen, ambitionierten transcript Verlag) eines der ersten Bücher zum Thema an. Zwar verlieren Volkmer und Werner sich in ihrer Einleitung zum „Making-of“ des Buchs etwas in schwerfälliger und auch schwurbelnder Sprache. Jedoch überzeugen die meisten der von ihnen eingeforderten Beiträge in präziser Beobachtung und methodischer Zurückhaltung, wo es um vermeintlich neue Erkenntnisse geht.
In 13 Kapiteln äußern sich insgesamt 43 AutorInnen – vorwiegend aus Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichtswissenschaften –, die sich teils verblüffend offen zu den Grenzen ihres Metiers bekennen, teils aber auch nur eigene Forschungsschwerpunkte erläutern und dies mit etwas Corona-Dekor tarnen. Lesenswert sind die Aufsätze allemal – wenn auch die 6 Beiträge zum Themenkomplex „Räume“ zum schwächeren Part gehören.2)
Fragile Körper
Hier sei nun der Beitrag von Gabriele Klein und Katharina Liebsch angesprochen, die sich den einzigartigen Aspekten der Körperhaftigkeit in Corona-Zeiten widmen. Social Distancing ist im derzeit erlebbaren Viren-Schutz- und Bekämpfungs-Szenarien vor allem ein Physical Distancing. Die Autorinnen weisen darauf, dass die gegenwärtigen Abstandsregeln – Sicherheitsabstand, Mundschutz, Homeoffice, digitales Lernen zuhause, geschlossene Schwimmbäder, Kneipen, Konzertsäle, Kinos Stadien und so weiter – explizit auf den Körper gerichtet sind. Paradoxerweise schützen die Regeln den einen Körper gegen alle anderen, virenverdächtigen Körper. Und sie antizipieren zugleich, dass der/ die zu Schützende möglicherweise selbst ansteckend ist. Derzeit sind diese wechselseitigen, omnipräsenten Virenverdächtigungen in ihren sozialen Konsequenzen – Jeder gegen Jeden – noch nicht mit belastbaren, sozialwissenschaftlichen Daten bewertbar.
Menschliche Körper werden jedenfalls zu Herden und Populationen gemacht, das „Verhältnis von Staatskörper, Kollektivkörper und Individualkörper“ werde neu ausgerichtet, aber eine Angleichung gesellschaftlicher Gruppen gehe damit mitnichten einher. Im Gegenteil, das lässt sich feststellen: Wohlstand vergrößert den Abstand in dem Maße, als den Abstandsregeln Genüge getan werden kann.
Daneben nehmen beispielsweise Musizieren aus den geöffneten Fenstern oder kollektives Balkon-Yoga in der Körperwahrnehmung kommunizierenden Einfluss auf den öffentlichen Raum. Wie sich solche Veränderungen dereinst rückblickend analysieren lassen und wie sich in Kürze, nach Corona, menschliche Umgangsformen vor allem für den öffentlichen Raum neu gestalten: Wer weiß das schon?
Insofern zeigt sich sehr deutlich, dass sorgfältige Analysen vorschnellen Konsequenzen dringend vorzuziehen sind.
1) Till Briegleb: UV-Licht im Aufzug allein genügt nicht. Warenhäuser zu Sozialwohnungen! Die Pandemie, Mangel an Wohnraum und Klimakrise bringen Architekten dazu, das Konzept der Stadt völlig zu überdenken. In: Süddeutsche Zeitung, 25. 8. 2020 >>>
2) Weiter reichende Rezension: Andreas Schulz: https://soziologieblog.hypotheses.org/13715 (erstellt am 14. September 2020, aufgerufen am 13. Oktober 2020)