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Living the Citiy. Ausstellungsansicht. © Jörg Brüggemann OSTKREUZ
Ob der Corona-Lockdown dazu beigetragen hat oder nicht: Die Faszination brodelnder Megametropolen hat sich ähnlich abgenutzt wie das Mittelstands-Biedermeier der Europäischen Stadt. Müssen also dem „Urbanen“ neue Hymnen gesungen werden? Gleich drei Ausstellungen in Berlin gehen der Frage nach.

„Lange galt die vibrierende Großstadt als ultimativer Sehnsuchtsort, nun holt das Landleben auf“, hieß es unlängst im Baunetz, denn laut Umfragen „möchten nur noch 16 Prozent der Deutschen gerne in einer Großstadt leben – und 44 Prozent auf dem Land.“ (1) Der Hype mit dem ländlichen Raum, in dem „insbesondere urbane Kreative neue Chancen der Selbstverwirklichung sehen“, läuft schon länger auf Hochtouren. Doch anstatt hier den Unterschied zwischen (sozial)wissenschaftlicher Entwicklungsneugier und schlichter Lifestyle-Propaganda scharf zu markieren, trommeln die Bannerträger der vorletzten Kampagne einfach zum nächsten Gefecht. Riecht irgendwie schon wieder nach Kulturkampf. Gestritten wird, wem die Zukunft gehört.


Stadthaltig?


Duitsland, Deutschland, Germany, Berlin, Berlijn, 3.9.2020. Akademie der Künste. Ausstellung Urbainable. Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Ausstellung Urbainable. Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

In Berlin sind aktuell gleich zwei Versuche zu besichtigen, dem Phänomen „Stadt“ die nachlassende Begeisterung zurückzugewinnen. Da wäre zum einen „urbainable. stadthaltig“ zu nennen, ein ambitioniertes Projekt der Akademie der Künste, in deren schönen Hallen am Hanseatenweg Matthias Sauerbruch, Jörn Walter und Tim Rieniets 34 Beiträge von Mitgliedern der Sektion Baukunst versammelt haben. Im Pressematerial ist von Nachhaltigkeit die Rede, von Verkehrswende, Energievernunft, Klimafolgen, Ressourcenschutz. Und natürlich von „der europäischen Stadt des 21. Jahrhunderts“.

Allerdings führt die Form der reinen Mitglieder-Präsentation gleich zur Crux des Unterfangens: Auf das Motto hatte man sich noch einigen können, aber dann hat jeder Teilnahmewillige in seiner Projektkiste gekramt und beigesteuert, was am ehesten passend erschien: Die Spanne reicht von einer „Eco-City Wünsdorf“ im darbenden Brandenburg (Winfried Brenne) bis zu Grands projets als mischgenutzte Landmarks für Singapur und andere exotische Regionen (Kees Christianse). Fritz Auer fährt eine Parade berühmter historischer Bahnhöfe auf, wohl als Einstimmung auf sein eigenes Bahnhofsprojekt für München. Umnutzungen und Weiterbauen im Bestand gibt es mehrfach zu sehen (u.a. Anne Lacaton, Matthias Sauerbruch, Ian Ritchie), die Ingenieure unter den Baukunst-Mitgliedern suchen Zukunft in neuen Materialien und ausgeklügelten Konstruktionen (u.a. Regine Leibinger mit Werner Sobek, Thomas Herzog) oder in der Beschäftigung mit Klima- und Energiefragen (u.a. Thomas Auer und Stefano Boeri, Jörg Schlaich). Notorische Querköpfe sinnieren über digital vernetzte Stadtmodelle (Peter Haimerl) oder über den Zusammenhang von Landbesitz und Macht (Arno Brandlhuber), während wenigstens ein Interview-Film sich den hard facts städtischer Ökonomik stellt („Bodenlos“ von Christiane Thalgott, hier bei > vimeo). Die Aufzählung ist so richtungslos wie der Eindruck, der beim Durchwandern der Ausstellung unvermeidlich entsteht. (Kurze Videos sind bei > instagram eingestellt.)
Ach, wie wohltuend, lehrreich und motivierend waren doch frühere Akademie-Ausstellungen, in denen jeweils ein paar Kollegen der Sektion sich um ein Thema scharten, um dann im Vollbesitz von Kompetenz und kuratorischer Freiheit großartige Erzählungen daraus zu spinnen – über „Wasser“, über „Landschaft“ oder „Stadt und Kultur“. Aber jetzt?

Duitsland, Deutschland, Germany, Berlin, Berlijn, 6.3.2017. Schwiebusser Strasse. Vos. Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Berlin, Fuchs in der Schwiebusser Straße. Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Jetzt musste jemand von außen hinzukommen. Jung, frisch und von akademischen Würden noch unbeschwert, sollte Tim Rieniets (Lehrstuhl Stadt- und Raumentwicklung in Hannover) den disparaten Beiträgen eine Art Ouvertüre voranstellen. Um die Besucher schon vorab mit dem gewünschten Leitbild zu ertüchtigen? Trotz der empathischen Alltagsfotografien von Erik-Jan Ouwerkerk wirkt diese brachiale Stimmungsmache „pro Stadt“ einfach nur ärgerlich. Was für hanebüchene Argumente, die sich Kurator Rieniets mit studentischen Kräften da aus zufälligen Statistiken (sic!) zusammenreimt: Es mag ja irgendwo stimmen, dass „Stadtbienen bis zu 50 Prozent mehr Honig sammeln als ihre Artgenossen auf dem Land“, aber spricht das nicht eher für sorgfältigeren Umgang mit Naturlandschaften, als für die Stadt als Biotop? Oder dies: „Je größer eine Stadt, umso mehr nichtheimische Pflanzen wachsen dort.“ Willkommenskultur unter Gärtnern? Und munter weiter: „In einem Dorf mit 100 Einwohnern kann es theoretisch zu 4950 verschiedenen Begegnungen kommen, in einer Stadt mit 1 Mio. Einwohnern sind es fast 500 Milliarden.“ Donnerwetter, aber: So what! „Je teurer der Quadratmeterpreis in Städten ist, desto geringer ist die Wohnfläche pro Kopf. Sind teure Städte also ökologisch nachhaltiger?“ Soll man da lachen oder soll man weinen? So demagogisch wurde einem Wunschbild des Urbanen seit den 1990er Jahren nicht mehr der Weg freigeballert, gegen alle berechtigte Metropolenskepsis und gegen jede aufrichtige, also ergebnisoffene Suche nach einer vernünftigen Raumpolitik. Warum so verbissen?


 

Urbainable – Stadthaltig, bis 22. November, Akademie der Künste >>>





Von Städten und Menschen


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Living the City. Ausstellungsansicht. Foto: © Schnepp Renou

Das zweite große Berliner Ausstellungsprojekt heißt „Living the City“ und will mit „Geschichten von Städten und Menschen“ ein breites Alltagspublikum in die imposante Abfertigungshalle des seit 2008 geschlossenen Flughafens Tempelhof locken. Initiiert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und betreut durch das rührige BBSR, hat hier ein Kuratorenteam (Tatjana Schneider, Lukas Feireiss und Studio TheGreenEyl) fünfzig internationale Fallbeispiele zusammengetragen für urbanistische Prozesse, denen man ministerielles Wohlwollen gar nicht zugetraut hätte: Künstlerische Interventionen, nachbarschaftliche Solidarität, Kreativität in marginalisierten Communities. Man teilt Erfahrungen mit Selbermachen, Upcycling, Sharing, Crowd-Funding, sucht spielerisch nach Alternativen, wagt Utopien im Selbstversuch. Leistet notfalls offenen Widerstand. Stadtentwicklung von unten!

Besucher, die sich mit bürgerschaftlicher Selbstermächtigung schon länger beschäftigen, werden viele der vorgestellten Beispiele kennen. Auch die Szene der Informellen und Normabweichler hat ihre Stars und publicityträchtigen Vorzeigeprojekte, etwa Assemble und deren Liverpooler Selbsthilfeinitiative, „Swim City“ aus der Schweiz, die Zürcher „Kalkbreite“-Genossenschaft, das Freiburger Mietshäusersyndikat oder die belgische Rotor-Gruppe mit ihren Secondhand-Baustoffen. Lacaton & Vassal dürfen mit ihren nachgerüsteten Großwohnblöcken in Bordeaux gleich in beiden hier besprochenen Ausstellungen auftreten.
Doch selbst Insider können in der reichlich chaotisch möblierten Airport-Halle Neuigkeiten aufstöbern, was zum einen an der Ausweitung des Suchhorizontes liegt: Auch aus Osteuropa, aus Nordafrika oder vom Balkan können „Geschichten“ einer aktiven Zivilgesellschaft allzu routinierte Diskurse um „Partizipation“ hierzulande um neue Töne und Farben bereichern. Zum anderen wird nicht verschwiegen, dass Selbstermächtigung auch Konfliktbereitschaft fordert. Was Demonstrationen zeigen, über denen nicht bloß nett illustrierte Pappschilder schaukeln: In Athen wird für Flüchtlinge ein leerstehendes Hotel besetzt, in Belgrad artikuliert sich Widerstand gegen „Investoren-Urbanismus“ lautstark auf den Straßen. Die Rotterdamer Historiker-Kooperative Crimson bietet einen Leitfaden für aufmüpfiges Bürgerverhalten an, der nur auf den ersten Blick wie ein unschuldiger Comic-Strip daherkommt.

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Hommage an Lucius Burckhardt  –  die Aktion „Zebrastreifen“. Im Bild: Reenactment der erstmals 1993 durchgeführte Aktion. Initiator beide Male: Gerhard L ang. (Bild:© Jörg Brüggemann OSTKREUZ)

Und wie Passanten im Verteilungskampf um innerstädtische Verkehrsflächen spielerisch in die Offensive kommen können, hatten Künstler in Kassel schon 1993 mit einem „Mobilen Zebrastreifen“ vorgeführt.
Auch diese Aufzählung klingt so konfus wie ein Gang durch die „poppig-lustige Stadtplanungscollage“, der es allerdings „geschichtsvergessen nur um das bunte Jetzt“ geht, wie Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung (2) zu Recht bemängelte. Friederike Meyer vom Baunetz (3) sieht angesichts des entfesselten Bildertrubels schlicht „die Generation Instagram am Werk“. Die Vielfalt der Ideen und Initiativen zu feiern, mag sinnvoll sein, soweit es um das Werben von Sympathisanten oder um die Motivation entmutigter Lokalpolitiker geht; nicht umsonst zählt Kuratorin Schneider Bürgermeister und Amtsleiter zu ihren „Wunschzielgruppen“. Aber geht es bei Stadtentwicklung nicht eigentlich um komplizierte, eher langwierige Prozesse? Wie steht es um die Mühen der Ebene? Was ist die spektakuläre Besetzung einer Immobilie gegen deren kräftezehrende Legalisierung, soziale Stabilisierung und ökonomische Absicherung?


Living the City, bis 20. Dezember, Flughafen Tempelhof >>>




Crashkurs zur Bodenfrage


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Ausstellungsansicht. Foto: Leon Lenk Fotografie

Dass bloßer Enthusiasmus nicht reicht, um auf gegenwärtige Miseren unserer Städte aktiv zu reagieren, macht eine dritte, vergleichsweise kleine Ausstellung deutlich. Im DAZ, der Ausstellungshalle des BDA in Berlin, geht Stefan Rettich mit Studierenden der Uni Kassel der „Bodenfrage“ nach. Untersucht werden drei grundsätzliche Zusammenhänge: Boden und Klima, Boden und Ökonomie, Boden und Gemeinwohl. Beispielprojekte werden keine kredenzt, es wird analytisch gedacht und knapp, aber systematisch argumentiert – etwa warum ohne Bezug auf die Bodenfrage die Wohnungsfrage nicht zu lösen sein wird. Man darf das ruhig didaktisch nennen, aber ohne solchen Crashkurs an handfestem Basiswissen wird ewig nur über äußerliche Symptome lamentiert. Die recht textlastige Schau ist handlich aufgebaut, sie soll wandern und so ein breiteres Publikum erreichen. Noch warten die Kuratoren auf das hinzugehörige Begleitbuch; der Verlag hofft, dass es im November erscheint. Auch Marlowes wird sich diesem brennenden Thema bald ausführlicher widmen.

Die Bodenfrage, bis 25. Oktober, DAZ >>>


Urbainable – Stadthaltig
Positionen zur Europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert >>>

Bis 22. November
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
Kuratiert von Matthias Sauerbruch, Jörn Walter, Tim Rieniet

Der Katalog (224 Seiten, 30/38 Euro) ist bei ArchiTangle erschienen >>>

 

Living the City
Von Städten, Menschen und Geschichten. >>>

Bis 20. Dezember
Flughafen Berlin-Tempelhof, Platz der Luftbrücke, 512101 Berlin
Kuratiert von Tatjana Schneider, Lukas Feireiss, TheGreenEyl

Der Katalog (340 Seiten, 24 Euro) ist bei Spectorbooks erschienen >>>

 

Die Bodenfrage
Klima, Ökonomie, Gemeinwohl >>>

Bis 25. Oktober
Deutsches Architekturzentrum DAZ, Wilhelmine-Gemberg-Weg 6, 2. Hof, Eingang H1, 10179 Berlin
Kuratiert von Stefan Rettich mit Anna Kraus, Thomas Rustemeyer, Sabine Tastel

Das Begleitbuch zur Wanderausstellung erscheint voraussichtlich im November


(1) „Sehnsuchtsort Brandenburg“, Baunetz-Woche Nr. 563 >>>
(2) Nikolaus Bernau: Wie man die Stadt zurückerobert. In : Berliner Zeitung vom 26.9.2020 >>>
(3) „Made in Europe“, Baunetz-Woche Nr. 564 >>>