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Berlin-Ost: „Paläste für die Arbeiter“. Ehemalige Stalinallee, Block C Nord, Architekt: Richard Paulick, 1953. Foto: Wikimedia Commons, Gryffindor

Hartnäckig sind sie ja, die Kämpfer um einen gemeinsamen Welterbe-Status für die zwei Paradestücke der Berliner Nachkriegsarchitektur. 2013 an die UNESCO eingereicht, war ihr Antrag „Zwei deutsche Architekturen – Karl-Marx-Allee und Interbau 1957“ von der Tentativkommission zurückgestellt worden, zwecks tieferer wissenschaftlicher Fundierung. Vor diesem Hintergrund hatten Landesdenkmalamt und ICOMOS-Nationalkomitee mit Unterstützung der Akademie der Künste vom 10. bis 12. September zu einer internationalen Konferenz geladen.



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Im Hinterland der ehemaligen Stalinallee träumt in manch vergessenem Detail der Zeitgeist der Erbauer. Foto: W. Kil

Nun hat sich die Materiallage, also Umfang und Qualität der fraglichen Bauten, gegenüber dem bisherigen Antrag nicht groß verändert. Auch zum intellektuell zugespitzten Thema „Konfrontation und Koevolution“ ist eigentlich alles Wesentliche gesagt. Gewinnen konnte eine Konferenz deshalb nur durch die Hinzuziehung auswärtiger Erfahrungen, was dank eines großzügigen Budgets auch gelang. Prominente Gastreferenten entfalteten zur Einstimmung ein weit über Europa hinausreichendes Panorama planerischer Entwicklungen von der Zwischenkriegszeit bis in die Hochphase des Kalten Krieges. Gestreift wurden Strömungen, Paradigmen und Konflikte jenes Jahrhundertphänomens, das allzu vereinfacht stets nur „die Moderne“ genannt wird, sich im konkreten Erscheinungsfall von enormer Vielfalt und voller Widersprüche zeigt. Vom Einfluss technokratischen Denkens bei der Planung von Industriestädten (von Wolfsburg bis Nowokusnezk) oder von Retorten-Hauptstädten (von Brasilia bis Canberra) war ja schon anderenorts zu hören, auch vom Beglückungsanspruch autoritärer Regime oder von der Hoffnung, aus den Trümmerwüsten der Weltkriege nicht nur neue Häuser, sondern auch neue Formen an Gemeinschaft heranziehen zu können. Aber die hier gebotene Zusammenschau schuf ein breitgefächertes Zeitbild, das ins Spiel zu bringen für Denkmaldebatten umso wichtiger wird, je mehr zeitlicher Abstand zur verhandelten Epoche wächst. Und dann kommen am Ende selbst für den Kalten Krieg mehr Korrespondenzen ans Licht, als man gemeinhin denkt – Koevolution eben.


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Berlin-Ost: Karl-Marx-Allee, 2. Bauabschnitt. Statt Konfrontation jetzt Koevolution? Mit Joseph Kaisers Pavillons begann die zweite Ostmoderne. Foto: Wikimedia Commons, Lotse

Konfliktreich

Entscheidenden Schwung gewann die Tagung, als Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin für Denkmalpflege der TU Berlin, mit „Bau und Gegenbau“ das fortan dominierende Begriffspaar der Debatte aufrief. Was für eine produktive Diskursfigur, gefunden beim Historikerkollegen Martin Warnke, der nicht wenigen Unternehmungen der Architektur unterstellte, unverhohlenem Konkurrenzdenken zu folgen. „Es dürfte ein latentes Strukturprinzip der Architekturgeschichte sein, dass Bauten sich weniger einem Harmoniebedürfnis als einem Überbietungswillen verdanken.“ (1) Weitere Referenten nahmen den Ball auf und wiesen etwa mit dem Stuttgarter Siedlungsstreit „Weißenhof versus Kochenhof“, oder – noch überraschender! – mit Le Corbusiers Pavillon de Temps nouveaux gegen das Palais de Chaillot zur Pariser Weltausstellung 1937 auf die grenzenlosen Möglichkeiten, Zeitgeschichte als Konfliktgeschichte zu entziffern: im Neben- und Gegeneinander von Stilen, Höhe und Masse oder ideologischer Veranlagung. Wobei an Dolffs beunruhigende Schlussforderung sich niemand recht heran traute: Wenn der Kern eines Erinnerungswertes im Konflikt besteht – müsste der nicht auch im Denkmalszusammenhang erkennbar bleiben, also Schutz genießen? Aber wie sähe das in der Praxis aus? Um Baudetails effektvoll zu kontrastieren, kennt Denkmalpraxis ja zahllose elegante Lösungen (von Scarpa bis Haimerl), aber in stadträumlicher Dimension? Widerspräche solch Ansinnen nicht dem verständlichen Bedürfnis nach einem „harmonischen“ Lebensumfeld? Wer setzt ein Alltagspublikum in die Lage, aus Bauwerken oder Stadträumen die oft diffizilen historischen Sachlagen herauszulesen? Zumal an dieser Front architektonischer „Geschichtsarbeit“ mit ressentimentgetriebener Abrisswut die Antiaufklärung fortgesetzt Triumphe feiert. Von nicht minder ideologischen Fantasie-Rekonstruktionen ganz zu schweigen …

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Minsk. „Hauptstraße nach Moskau“, der Unabhängigkeitsboulevard heute. Foto: W. Kil

Bedrohtes Erbe?

Der zweite Konferenztag wurde wesentlich mit Beiträgen aus Mittel- und Osteuropa bestritten. Aus Minsk, diesem beeindruckenden, hierzulande so gut wie unbekannten Freilichtmuseum heroischer sowjetischer Wiederaufbaukunst, kam ein überraschender Vorschlag: Hätten die Triumphgesten des stalinistischen Städtebaus, also die Karl-Marx-Allee in Berlin, das MDM-Quartier in Warschau, der Kiewer Kreschtschatik, in Minsk der vormalige Lenin-Prospekt (heute Unabhängigkeitsboulevard) und in Moskau die einstige Gorkistraße (heute wieder Twerskaja) nicht ebenfalls das Zeug zum grenzüberschreitenden Welterbe?

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Minsk. In manchen Geschäftshäusern sind Interieurs noch im Original erhalten. Foto: W. Kil

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Bau und Gegenbau heute: Ein Dutzend Skyscraper umzingeln den Warschauer Kulturpalast von Lew Rudnew (1957), um ihn in der Stadtsilhouette zu „neutralisieren“. Foto: W. Kil

Die dazu gezeigten Bilder eklektizistischer Prachtfassaden konnten sicher leicht für die Idee einnehmen, doch die Fallstricke eines solchen Projekts sollte man nicht verkennen: Längst nicht in allen Ländern der vormals sowjetischen Einflusssphäre ist jenes besondere Trauma der Stalin-Jahre schon so aufgearbeitet, dass die Wertschätzung entsprechender baulicher Erbschaften öffentlich mehrheitsfähig wäre. (In der Ukraine stehen aufgrund des Gesetzes zur „Dekommunisierung öffentlicher Räume“ die mit Sowjetsymbolik reich verzierten Bauten eigentlich sogar auf dem Index.) Andererseits würde ein derartiges Thema „Diktatur als Bauherr“ den Welterbe-Fokus eindeutig auf die Baugeschichte Osteuropas richten. Die ist wahrlich interessant und verdient jede Zuwendung, aber der Berliner Antrag bezieht sich nun mal ausdrücklich auf den Kalten Krieg. Um die Konfrontationsgeschichte zweier politischer Weltsysteme zu erzählen, muss der Westen mit im Spiel bleiben, daraus ziehen ja die Berliner ihr Alleinstellungsmerkmal. Und übrigens: Angesichts der überall ordentlich, wenn nicht gar aufwändig restaurierten Stalin-Boulevards mag man an deren Gefährdung nur schwer glauben. Wofür in Warschau, Prag, Moskau, und auch im ach so aufgeklärten Berlin, akut gestritten werden muss, sind hervorragende Bauwerke des Spätmodernismus oder des Brutalismus. Die „Pracht der Macht“ scheint doch allenthalben übern Berg zu sein.


(1) Martin Warnke: Bau und Gegenbau. In: Hermann Hipp und Ernst Seidel (Hrsg.): Architektur als politische Kultur. Berlin 1996.