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Patterns vs. Codes


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Christopher Alexander, 2012. (Bild: Wikimedia Commons, Michaelmehaffy, CC BY-SA 4.0)

Erinnerungen an Christopher Alexander (1936–2022)

Bis heute gehört die Pattern Language – die Mustersprache – zu einem der wichtigen Werke der Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Und blieb dennoch als eine vermeintliche Außenseiterposition des alternativen Milieus respektvoll isoliert. Dafür gibt es Gründe, die im Werk und in den Positionen Alexanders begründet liegen. Anlässlich des Todes von Alexander gilt es aber, sich wieder die damals wie heute ungenutzten Qualitäten der Pattern Language zu vergegenwärtigen.

Wenn man am Ende der 1970-er Jahre in der Thematik „Sprache der Architektur“ unterwegs war, stieß man irgendwann auf die „Pattern Language“ von Christopher Alexander. (1) Mit etwas Glück gelang es, sich über den wunderbaren und leider jüngst verstorbenen Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich ein Exemplar der in rotes Leinen gebundenen, mit Goldprägung versehenen und auf Dünndruckpapier gedruckten Originalausgabe zu besorgen, die fast die Anmutung einer Bibel ausstrahlte. Der von Beginn an angeschlagene hohe Ton tat ein übriges, um den semi-sakralen Charakter des Buches zu unterstreichen. Mit dem entsprechenden Respekt näherte man sich denn auch dem Werk und versuchte, dieses Konzept einer architektonischen Sprache zu begreifen.

Bereits im Vorwort wurde man dazu ermahnt, auch die zeitnah erschienene andere Schrift Alexanders über „The Timeless Way of Building“(2) zu Rate zu ziehen, die die theoretischen Grundlagen zur „Pattern Language“ (im folgenden kurz PL genannt) verdeutlichen sollte, und die auf dem gleichen „niedlichen“ Buchhandelsweg aufwändig beschafft werden konnte. In gleicher bibliophiler Ausstattung gestaltet und im gleichen hohen Ton geschrieben, der immer wieder darauf hinwies, dass beide Bände zusammengehören und sich erst dadurch ein Verständnis als Ganzes ergäbe, erhöhte sich die Zugangsschwelle noch und bewirkte eine quasi ehrfurchtsvolle Haltung bei der Rezeption.

Häuser als Gedichte

Erzählt wird zunächst die Geschichte einer zeitlosen Architektur, die sich quer durch alle Kulturen und Regionen dieser Welt entwickelt hat, und die für die letztlich immer gleichen Probleme einer angemessenen Behausung der Menschen in dieser Welt die letztlich immer gleichen Lösungen gefunden hat. Dass es dabei eine breite Variation der Lösungen in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen des Bauens gegeben hat, wird nicht ignoriert, sondern im Gegenteil als Ausdruck menschlicher Kreativität und Innovationskraft angesehen. Aber entscheidend ist, dass in der „Tiefe“ aller dieser vielfältigen Lösungen immer gleichartige Konfigurationen beobachtet werden können, aus denen Alexander eine Reihe von „Patterns“ destilliert, die wie die Zeichenelemente in einer Sprache immer neu kombiniert und zusammengefügt werden und bei entsprechend kompetenter Anwendung eine eigene „Poesie“ entfalten und Gebäude hervorbringen können, die „Gedichte“ sind.(3)

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Pattern 133: Staircase as a Stage, in der deutschen Ausgabe von 1995 als „Die Stiege als Bühne“. (Bild: Christian Holl)

Die „Patterns“ betreffen alle Dimensionen des Bauens und Planens, von der Regional- über die Stadt- und Gebäudeplanung bis zum innenarchitektonischen Detail und der gesamten konstruktiven Umsetzung, und alle hängen wie bei einer Sprache miteinander zusammen, so daß die Wahl eines „Patterns“ verschiedene andere nach sich zieht, um zu konsistenten Lösungen zu kommen. Hier stellt sich die Analogie zu einer Grammatik ein, die Zusammenhänge zwischen den Einzelelementen regelt, aber zugleich unendliche Spielräume zu immer neuen Kombinationen und Ausdrucksformen ermöglicht. Aus dieser Sprachähnlichkeit bezieht Alexander die Berechtigung, von einer PL zu reden und diese anhand von 253 „Patterns“ auszuarbeiten. Eines meiner Lieblingspatterns ist die Nummer 133: „Staircase as a Stage“(4), bei dem empfohlen wird, die Haupttreppe eines Gebäudes so zu gestalten, dass sie sich in einen zentralen Raum hinein entfaltet und herabsteigenden Personen einen Auftritt wie auf einer Bühne ermöglicht. Was für einen schöne Idee für das Zusammenleben in einer Hausgemeinschaft und das gesellschaftliche Leben überhaupt!

 2217_AT_Dreyer_linzcafeVon der Menschenfreundlichkeit dieses Ansatzes konnte ich mich 1980 auf der Ausstellung „Design ist unsichtbar“ in Linz überzeugen, zu der Christopher Alexander den temporären Bau des „Linz-Cafés“ beigesteuert hatte, und bei dem zahlreiche seiner „Patterns“ zum Einsatz kamen. Am meisten beeindruckte der gesamte Innenraum des Cafés, der an das Hauptschiff einer Kathedrale erinnerte.

Das Café Linz, 1980 (Bild: Claus Dreyer)

 

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Haupttreppe und Hauptraum im Linz-Café. (Bild: Claus Dreyer 1980)

Im Zentrum befand sich eine breite Treppe, die ins offene Erdgeschoß führte und vielfältige Auf- und Abtritte ermöglichte. Darum herum waren in den „Seitenschiffen“ zahlreiche reich dekorierte Sitznischen angeordnet, die zum Verweilen einluden. Durch viele unterschiedlich große Fenster, die am Lauf der Sonne orientiert waren, fiel zu allen Tageszeiten eine Fülle an Licht in die Räume, die dem Ganzen eine feierliche Stimmung gaben. Konträr zu dieser fast sakralen Atmosphäre stand die gesamte Holzkonstruktion, aus der das Gebäude bestand, und die eigentlich eher an das Urbild einer „Hütte“ als an eine Kirche erinnerte. Aber darin dürfte sich Alexanders Idee von der Zeitlosigkeit der architektonischen Grundformen und -konstruktionen spiegeln, von der er fest überzeugt war.



Im Schatten der Diskurse

Viele der „Patterns“ haben eine Nähe zum Dörflichen und Ländlichen, und es wird deutlich, dass Alexander der architektonischen Moderne mit ihrer Technikeuphorie und ihrem Originalitätsdrang kritisch bis ablehnend gegenübersteht und schon früh den Zerfall der Gesellschaft in Singularitäten und Fragmentarisierungen beklagt.(5) All das machte seine Position nicht leichter, die in heftiger Konkurrenz zu zeitgleichen wirkungsstarken Alternativkonzepten von universellen Architektursprachen stand. Diese waren sehr stark sprach- und kommunikationswissenschaftlich fundiert und führten zu Konzeptionen, die an damals aktuelle Diskurse eher anschlussfähig waren als Alexanders Positionen, beispielsweise die Auffassung von „Architektur als Massenmedium“(6), die versuchte, Architektur dazu zu befähigen, Bestandteil eines öffentlichen und sozialen Kommunikationssystems zu sein. Damit wurde die Nähe zu neueren Tendenzen der theoretischen Modernisierung gesucht, die durch Kybernetik, Medientheorie, Systemtheorie, Kommunikationstheorie und Semiotik geprägt waren. Besonders wirkmächtig wurden diese Theorien im Zusammenhang mit der Kritik und Überwindung der Moderne durch die Postmoderne, was besonders in der Architektur und Architekturtheorie der siebziger Jahre zum Ausdruck kam.

Als ein Beispiel von vielen sei hier Charles Jencks genannt, in dessen „Language of Post-Modern Architecture“(7) der kommunikationstheoretische Begriff des „Codes“ eine zentrale Rolle spielt. Darunter werden begrenzte sprachähnliche Zeichensysteme verstanden, die vor allem formaler Natur sind und die diverse Referenzen zu Technik, Natur, Geschichte, Kunst, Region … besitzen, und besonders in metaphorischer Ausprägung und Verwendung von Jencks gefeiert werden. Für die postmoderne Architektur soll, im Gegensatz zur monotonen Moderne, eine „doppelte Codierung“ charakteristisch sein, die eine Mehrzahl von konventionellen, populären und elitären Codes miteinander vermischt und zu einer hybriden Gesamtform vereinigt, die die Komplexität der bestehenden Gesellschaft spiegelt und einen hohen ästhetischen und intellektuellen Genuss verspricht. Als gelungenes Beispiel für diese Konzeption kann die Stuttgarter Staatsgalerie von James Stirling angesehen werden.

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Staatsgalerie Stuttgart, 2017 (Bild: Wikimedia Commons, Fred Romero, CC SA 2.0)

Diese Ansätze standen quer zu Christopher Alexanders PL mit ihrer antimodernistischen und quasi essenzialistischen Ausrichtung, die dem damaligen Zeitgeist widersprach. Auch wenn gelegentlich versucht wurde (auch von mir), Alexanders „Patterns“ als einen (beispielsweise traditionalistischen) Code zu interpretieren, konnte sein Ansatz weder in der Alltags- noch in der High-End-Architektur reüssieren. „Patterns“ vs. „Codes“ wäre ein schönes achitekturtheoretisches Schlachtfeld gewesen, das aber leider niemals in großem Stil eröffnet wurde. Dagegen war Alexander im alternativen Milieu große Aufmerksamkeit garantiert, und mit der zunehmenden ökologischen und regionalistischen Sensibilität gegenüber der Umwelt und ihrer Gestaltung ergaben sich von seinem kalifornischen Arbeitsmittelpunkt aus weltweite Projekte und Aufgaben. Das architektonische und architekturtheoretische „Hauptfeld“ aber wurde von der Postmoderne mit ihren vielfältigen Sprachen und „Codes“ beherrscht und in spektakulären Ausstellungen, Projekten und Publikationen bekannt gemacht.(8)

Übersehene Aktualität

Heute sind die Diskurse der architektonischen Postmoderne fast völlig vergessen, architektonisch wird die Postmoderne meist als abschreckendes Beispiel für architektonische Verwirrungen und Verirrungen thematisiert. Auch von architektonischen „Patterns“ ist nicht mehr die Rede, statt dessen wird der Diskurs von Themen wie Klima- und Umweltfreundlichkeit, Nachhaltigkeit, ökonomische und sozialadäquate Verfügbarkeit geprägt. Dabei hätte Christopher Alexander sicher ein Wort mitzureden, besonders wenn man sein umfangreiches Spätwerk über „The Nature of Order“(9) in die Debatten einbeziehen würde. Es könnte deutlich werden, dass sein Ansatz von der PL bis zu den naturphilosophischen Betrachtungen sehr viel mehr zukunftsweisendes Potenzial hat, als lediglich die Basis für Experimente mit formalen Sprachen und Codes zu geben; das ambitionierte „New European Bauhaus“ könnte vielleicht von seinen Beiträgen profitieren. In einer weiteren Hinsicht könnte Alexander als Anreger und Beiträger fungieren: bei der Suche nach fundamentalen Daten, Spuren und Netzen, die als „Muster“ einer digitalen Sphäre konstituiert werden könnten (10), und die als Grundelemente unserer sozialen Welt auch als Basis für architektonische Planungen dienen könnten. Eine PL, die mit den digitalen „Mustern“ der sozialen und kulturellen Welt korrespondiert, wäre eine interessant Perspektive.

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Pattern 74: Animals, in der deutschen Ausgabe von 1995 als „Tiere“. (Bild: Christian Holl)

Beim Wiederblättern in Christopher Alexanders PL stoße ich auf ein Pattern, das ich zuvor noch nie beachtet hatte: Nr. 74 „Animals“ (11). Hier wird auf die Notwendigkeit verwiesen, im privaten und öffentlichen Bereich die Haltung von Tieren zu berücksichtigen und zu ermöglichen, weil sie als Bestandteil der Natur für die Menschen und seine Entwicklung genau so wichtig sind wie die Pflanzen. Zeitgleich kommt das neueste Heft der Zeitschrift Arch+ (12) auf meinen Schreibtisch, in dem unter dem Oberthema „Cohabitation“ aus unterschiedlichen Perspektiven und an zahlreichen Beispielen das Zusammenleben von Mensch und Tier in architektonischen Zusammenhängen verhandelt wird. Christopher Alexander wird darin nicht erwähnt, aber seine hellsichtigen Empfehlungen hätten gut dazu gepasst. Vielleicht gibt es noch Einiges zu entdecken in seinem umfangreichen Werk, das für die gegenwärtige und zukünftige Architektur von Bedeutung sein könnte.

Christopher Alexander, der am 4.Oktober 1936 in Wien geboren wurde, ist am 17. März 2022 in Binsted, Sussex UK gestorben.




(1) Christopher Alexander u.a.: A Pattern Language. Towns Buildings Constructions. Oxford University Press, New York 1977
(2) Christopher Alexander: The Timeless Way of Building. Oxford University Press, New York 1979
(3) Alexander 1977, xliv
(4) Alexander 1977,.637 ff
(5) Vgl. Alexander 1979, 225 ff
(6) Renato De Fusco: Architektur als Massenmedium.  Anmerkungen zu einer Semiotik der gebauten Formen. Bari 1967/Gütersloh 1972
(7) Charles Jencks: The Language of Post-Modern Architecture. London 1977
(8) z.B. Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne Architektur der Gegenwart 1960-1980. Braunschweig, Wiesbaden 1984. Dazu auch: Claus Dreyer: Architektonische Codes aus semiotischer Sicht. In: Andrea Gleiniger und Georg Vrachliotis (Hg.): Code. Zwischen Operation und Narration. Basel 2010, 55-74
(9) Christopher Alexander: “The Nature of Order”. 4 Bde. Berkeley 2002-2004
(10) Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019
(11) Alexander 1977, 371 ff
(12) ARCH+ 247 (2022)