Wenn wir auch künftig sozial verträglich und umweltgerecht leben wollen, geht das nur, wenn wir verschiedene Handlungsweisen kombinieren. Eine ist das Aktivieren und Reaktivieren bestehender Räume innerhalb unserer Ansiedlungen. Drei Beispiele aus Wittstock, Bremen und Köln zeigen, wie Innenentwicklung gelingen kann, ohne dabei stumpf auf quantitative Dichte zu setzen.
Nachverdichtung ganz ohne Enge
Das Örtchen Wittstock liegt etwa auf halbem Weg von Berlin nach Rostock. Ein Grüngürtel umschließt die alte Kernstadt und markiert gut ablesbar, wo einst die Stadtmauer stand. Das südwestliche Viertel des Ortskerns wird geprägt von der Marienkirche, deren Umgebung in den letzten Jahren einen erstaunlichen Wandel erfuhr. Zunächst wurde der unmittelbar südlich an die Kirche anschließende Kirchplatz neu gestaltet und unter anderem mit Sitzgelegenheiten und Kinderspielplatz für eine breite Öffentlichkeit interessant gemacht. Weiter südlich aber, zwischen Schulgasse und Kuhstraße, befand sich jahrelang ein merkwürdiges innerstädtisches Vakuum. Das Pfarramt, an der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden St. Marienstraße gelegen, verfügte hier über einen großen, weitestgehend ungenutzten, ja vernachlässigten Garten.
Nach zweijähriger Planungs- und Bauzeit konnten Kannenberg & Kannenberg Freie Architekten BDA und Ingenieure 2019 schließlich einen großen Teil dieses Pfarrgartens für die Stadtgesellschaft erschließen. Den Architekt:innen ist es dabei nicht nur geglückt, ein in sich schlüssiges Refugium zu etablieren, sondern den Ort so auszuformulieren, dass er sich selbst in einen größeren Dienst stellt: in den der gesamten Stadt.
Die Unruhe der relativ stark frequentierten Kuhstraße war über die Freifläche hinweg bis zum Vorplatz der Marienkirche spürbar. Kannenberg & Kannenberg haben entlang der Straße nun einen Wandelgang etabliert: Seine Konstruktion aus gerostetem Stahl ist dreiseitig mit Holz gedeckt, so dass er gleichermaßen den Lärm der Straße abhält wie als optisches Rückgrat des neuen Stadtgartens dient. An zwei Stellen wird seine archetypische Satteldachfigur von alten Birken malerisch durchbrochen. Pflanztröge und Sitzbänke greifen die Materialien Holz und Stahl auf, was den auf polygonalem Grundriss entwickelten Garten optisch fein zusammenhält. Wer mag, kann sich gar auf Bibelzitate einlassen, die auf Schautafeln zu lesen sind. Wessen Sache das nicht, für den hat sich hier ein bislang nicht gekannter Freiraum inmitten der kleinen Stadt entwickelt, der zum Lustwandeln ebenso einlädt wie zum stillen Sinnieren – etwa darüber, welch Gewinn Räume wie dieser für jede Stadt sind.
Pfarrgarten und Quartier St. Marien Wittstock
Ort: Kirchplatz 2, 16909 Wittstock/Dosse
Bauherrschaft: Ev. Gesamtkirchengemeinde Wittstock, Wittstock/Dosse
Architektur | Freianlagen: Bärbel Kannenberg | Kannenberg & Kannenberg freie Architekten BDA und Ingenieure, Wittstock/Dosse
Tragwerksplanung: Matthias Kannenberg | Kannenberg & Kannenberg freie Architekten BDA und Ingenieure
Selbstverständlicher Stadtbaustein
Merklich urbaner geht es an der Straßenbahnhaltestelle „Am Hulsberg“ in Bremen zu. Hier, in der östlichen Vorstadt, treffen die in Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen „Am Schwarzen Meer“ und „Am Hulsberg“ auf die sie orthogonal kreuzenden Verdener- und Friedrich-Karl-Straße, sowie die aus Südwesten dazu kommende Hemelinger Straße. Im Süden schließt sich homogen gründerzeitliche Bebauung an, deren Bremer Häuser sich gleichmäßig bis zum Weserstadion aneinander reihen, im Norden ist die Bebauung von der Heterogenität der Nachkriegsjahrzehnte geprägt: unterschiedlich große Bauvolumen, verschiedene Geschoss- und Gebäudehöhen prallen hier zusammen. Die südliche Spitze der Kreuzung zwischen Hemelinger- und Verdener Straße war jahrelang angestammter Platz einer alten, kleinen Tankstelle, die irgendwann aufgegeben und von einer Grill-Taverne nachgenutzt wurde.
2019 konnten sich Wirth Architekten in einem Wettbewerb mit ihrem Entwurf durchsetzen: 15 Wohneinheiten ergänzen nun eine Gewerbeeinheit, die fast das gesamte Erdgeschoss einnimmt. Das Haus reagiert so auch funktional angemessen auf den Ort und seine städtische Öffentlichkeit. Für viele ist der Bäcker im Erdgeschoss offenkundig ein beliebtes Ziel während der Mittagspause und nach Schulschluss. Nach oben hin staffelt sich der Bau, der allseitig umlaufen werden kann und keine echte Rückseite hat, vielschichtig in die Höhe. Die vielen Rücksprünge reagieren gleichermaßen auf die unterschiedlichen Trauf- und Gebäudekanten der Nachbarhäuser, wie sie innerhalb einer internen Logik den Wohnungen Balkone und Terrassen zuschlagen. Das Haus, dem eine sauberere Detaillierung zu wünschen gewesen wäre – Wirth Architekten bearbeiteten das Projekt nur bis Leistungsphase 4 –, steht angemessen an dieser belebten Kreuzung, an der es als städtischer Baustein sehr selbstverständlich funktioniert.
Hulsbergspitze – Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses
Ort: Hemelinger Straße 45, 28203 Bremen
15 Wohneinheiten, 1 Ladenlokal (155qm)
Bauherrschaft: Tektum Holding GmbH, Bremen
Architektur: Wirth Architekten BDA, Bremen
Tragwerksplanung: S|1, Bremen
Bruttogeschossfläche: 1.620qm
Fertigstellung: 2021
Fotografie: Caspar Sessler, Bremen
Kleines Haus ganz groß
Um einiges kleiner, aber ebenso logisch, fügt sich das Haus K18 in das Gefüge des ehemaligen Fischerdorfs Niehl – heute ein Stadtteil Kölns, der mit der Straßenbahn nur gut 15 Minuten vom Dom entfernt und unmittelbar am Rhein gelegen ist. Die bauliche Struktur lässt noch gut auf den einstigen Charakter als Dorf schließen, die größtenteils ein- bis dreigeschossigen Häuser werden hier und da von recht unsensibel eingepflegten baulichen Maßstabssprünge der letzten Jahrzehnte übertrumpft. Für die eigene Familie hat der Kölner Architekt Till Robin Kurz hier ein altes, baufälliges und für das Leben mit Kindern zu kleines Haus abgebrochen. Die Backsteine des ehemaligen Fischerhäuschens aber wurden geborgen und eingelagert. Sie bilden nun die äußere Mauerschale des Neubaus, der traufständig direkt an der schmalen Straße steht und mit seinen zwei Stockwerken unter einem Satteldach viel souveräner am Ort steht, als diverse Gebäude der letzten zwanzig Jahre in der näheren Umgebung.
Das Haus füllt das schmalrechteckige Grundstück in der gesamten Tiefe aus, im Norden und Süden gliedern sich ungedeckte Freiräume an, die dem Innern des Hauses als angemessene Schwellen zur Stadt dienen. Über einen gepflasterten Hof betritt man das Gebäude im Norden und gelangt in den Wohnbereich des Erdgeschosses. Hier werden ein Wohnraum und die Küche durch einen inneren Puffer getrennt, der zum einen das kleine Bad, zum anderen die Treppe in die Obergeschosse aufnimmt. Die Wohnküche überrascht in dieser kleinen Architektur durch ihre Raumhöhe: sie ist zweigeschossig und führt ihrerseits durch eine ehedem von Hecken eingefriedete Terrasse im Süden wieder nach draußen. Im Zwischengeschoss findet sich ein Schlafzimmer sowie eine Home Office-kompatible Galerie, das Dachgeschoss bietet einem Duschbad und zwei kleinen Zimmern Platz. Beeindruckend ist bei all dem nicht nur, mit welcher Sicherheit der Architekt das Haus im städtischen Gefüge platziert hat, sondern auch der Grad der Detailausarbeitung: Waschbecken, Wasserausläufe, Schwellen, Sitz- oder Fensterbänke – überall findet das Auge Halt und damit Momente des Staunens.