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Bild: Christian Holl
Stilkritik (30): Wir sind viele, aber wer sind „wir“? In der Diskussion um die kollektive Selbstvergewisserung spielen die Architektur und Symbole eine wichtige Rolle. Keine einfache Diskussion, denn beliebig kann man Symbolen kollektive Bedeutungen nicht zuweisen. Die Debatte sollte deswegen entsprechend sensibel geführt werden. Davon kann leider keine Rede sein.

Vermutlich haben es die meisten schon wieder vergessen. Bevor das Sommerloch kam, hatte Thomas de Maizière die Idee, wieder einmal das leidige Thema Leitkultur auszugraben und es mit Banalitäten einzunebeln, etwa in der Art von: „Wir legen Wert auf soziale Gewohnheiten.“ Um dann unter der Hand im harmlos daherkommenden Ton des Grüß-Gott-Onkels perfide Grenzen zu ziehen: „In unserem Land gibt es darüber hinaus viele Menschen, die seit langer Zeit hier leben, ohne Staatsbürger zu sein – auch sie gehören zu unserem Land. Wenn ich aber von „wir“ spreche, dann meine ich zuerst und zunächst die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unseres Landes.“ (1) Also ob bezweifelt werden sollte, könnte oder dürfte, dass alle anderen zum Beispiel keinen Wert auf soziale Gewohnheiten legen. Die Decke des zivilen Anstands ist aber nicht nur beim Bundesinnenminister erschreckend dünn. Beim Spiegel erschien vor wenigen Tagen ein Beitrag, der vermeldete, dass 2017 wieder mehr Menschen über das Mittelmeer nach Europa fliehen. Dort, wo man sonst die Beiträge der Redaktion kommentieren kann, stand: „Leider erreichen uns zum Thema Flüchtlinge so viele unangemessene, beleidigende oder justiziable Forumsbeiträge, dass eine gewissenhafte Moderation nach den Regeln unserer Netiquette kaum mehr möglich ist. Deshalb gibt es nur unter ausgewählten Artikeln zu diesem Thema ein Forum. Wir bitten um Verständnis.“ (2)

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Leider keine Leitbauten: Die FH von Potsdam im Stadtzentrum. Die Gebäude sollen abgerissen werden. (Bilder: Christian Holl)

Um wessen Identität geht es?

Nun bekommt in diesen Tagen ja sogar der rundum sinnfreie Confed-Cup („scho au wichtig“, wie es vielleicht der Bundes-Jogi umschreiben würde) mehr Aufmerksamkeit als die wieder in der Versenkung verschwundene Leitkultur-Debatte, die kaum mehr als ein paar routinierte Empörungs-Wölkchen vorüberziehen ließ. Doch man sollte sich nicht täuschen. Thomas Albrecht, Architekt des Museums Barberini in Potsdam, schrieb neulich von Leitbauten, also der Stein gewordenen Leitkultur: „Nach jahrzehntelanger bewusster Zerstörung und Vernachlässigung des ehemaligen Zentrums beschloss die Stadt (Potsdam) – auch hier: fraktionsübergreifend! – gestützt durch Bürgerinitiativen einen komplexen, ambitionierten Bebauungsplan mit dem Konzept der sogenannten Leitbauten, um die Identität der ehemaligen Residenzstadt wiederherzustellen.“ (3) Zugegeben, der Text, den Jürgen Tietz über das Museum Barberini geschrieben hatte, auf den Albrecht reagierte, war nicht unbedingt wohlwollend. (4) Dennoch fragt man sich, was oder wer denn womit in dieser ehemaligen Residenzstadt identisch sein soll. Und warum, Herr Albrecht, werden dann Bürgerinitiativen überhört, wenn es um das Erbe der Nackkriegsarchitektur geht? (5) Damit die DDR-Bauten weiter so lange vernachlässigt werden dürfen, bis man deren Abriss rechtfertigen kann? Self-fullfilling-prophecy nennt man das wohl.
In Berlin hat am vergangenen Freitag der Stiftungsrat des Humboldt Forums verlauten lassen, dass es dabei bleibe, dass die Kuppel des Berliner Schlosses mit Kreuz errichtet werde (und nicht ohne, wie es manche forderten). Denn, anschnallen, „alles andere wäre Geschichtsklitterung und Verfälschung.“ (6) Man fragt sich manchmal, für wie dumm man eigentlich noch verkauft werden soll. An diesem so genannten Berliner Schloss ist so ziemlich alles entweder Geschichtsklitterung oder Verfälschung, wenn nicht beides. Denn jede Rekonstruktion ist Geschichtsklitterung und Verfälschung, der Natur der Sache entsprechend: Sie trachtet danach, einen geschichtlichen Akt ungeschehen zu machen, der das Gebäude zum Verschwinden gebracht hat, das rekonstruiert wird oder werden soll. Das muss nicht verwerflich sein. Aber man sollte wissen und sagen, was man tut. Mit bewundernswerter Unverdrossenheit schreibt der wackere Nikolaus Bernau Artikel um Artikel, um mit der Ambivalenz des Schlosses, das kein Schloss ist, umzugehen, und das Gebäude als ein „Museums- und Kulturzentrum, das in Grundrissen, Räumen und Nutzungen nichts mit dem 1950 auf Befehl der SED gesprengten Schloss zu tun hat“ zu verstehen. (7)

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„Palast des Zweifels“, Lars Ø Ramberg, 2005. Bild: >de.wikipedia.org / Andreas Praefcke

Und um wessen Geschichte geht es?

Wer sich auf Geschichte zu beruft, wählt stets aus, vor allem wenn es ums Bauen geht, dabei wird das eine ein- und das andere ausgeschlossen. Sich hier auf eine vermeintlich objektive oder absolute, also unbezweifelbare Wahrheit meinen berufen zu können, ist eine naive Illusion. Es geht um etwas anderes: um einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der Gebäuden eine Legitimation innerhalb eines Narrativs der Gemeinschaft verleiht. Wird diese Legitimation nicht mehr hinterfragt, sprechen die Soziologen von Objektivierung.
Diese Aushandlung ist freilich keine Kaffeekränzchen-Plauderei, sondern mitunter auch knallharte Machtdemonstration im Sinne der Mehrheit oder des Stärkeren. Mal brachial, mal subtil, mal perfide. Worunter das fällt, womit Kulturstaatsministerin Monika Grütters sich für das Kuppel-Kreuz stark machte, mögen Sie selbst entscheiden: „Das Angebot eines offenen Hauses, wie es das Humboldt Forum sein will, ist nur glaubwürdig, wenn wir uns unserer eigenen Wurzeln bewusst sind und sie auch zeigen. Nur wer sich seiner Identität sicher ist, kann dem anderen Raum geben, ohne sich bedroht zu fühlen.“ (8) Womit wir wieder bei de Maizière sind. Anscheinende gibt es auch für Frau Grütters ein „wir“, das darüber entscheidet, was „unsere“ Wurzeln sind: Wer „wir“ zu sein haben. Und wer nicht zu „uns“ gehört.
Um in diesem Spiel nicht in Sippenhaft genommen zu werden, haben sich die Gründungsdirektoren des Forums, Hermann Parzinger, Neil McGregor und Horst Bredekamp, dafür ausgesprochen, den Schriftzug „Zweifel“ des norwegischen Künstler Lars Ø Ramberg an der Ostseite des Humboldt Forums anzubringen. Ramberg hatte ihn für den Palast der Republik entworfen, er war kurz vor dessen Abriss angebracht worden. (9) Eine schlaue Idee der Herren Gründungsdirektoren, die den Zweifel als Prinzip der Wissenschaft manifestiert hätte, deren Geist man sich damit verpflichtet zeigen würde. „Zweifel“ könnte aber auch frei auf alle anderen Diskussionen um den Bau des Humboldt Forums angewendet werden . Der Architekt, Franco Stella, sieht darin denn auch eine Verunstaltung seiner Architektur. Schade. Stella ist wohl doch so humorvoll, wie es der Ostflügel des Schlosses befürchten lässt, also überhaupt nicht. Allerdings ist auch Lars Ø Ramberg noch nicht einmal angefragt worden. Er zweifelt zudem an der Idee von Parziner, McGregor und Bredekamp, unter anderem, weil er noch nicht sicher sein kann, dass seine Arbeit nicht einfach instrumentalisiert und der Konflikt verharmlost würde: „Wenn man den Zweifel auf das Dach stellt, darf man nicht denken: Ach, jetzt ist alles wieder gut.“ (10)

 

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Kuppel des Humboldt Forum im Bau, Juni 2016. Bild: >wikimedia.org /Ernstol

Sehr sehr wichtig

Vorerst ist jedenfalls ziemlich wenig wieder gut. Es bleibt ziemlich wenig gut, wenn diese Gesellschaft nicht den Mut aufbringt, sich bei aller Notwendigkeit einer Selbstvergewisserung der Realität einer Einwanderungsgesellschaft zu stellen und die Konflikte, die daraus entstehen, ernst zu nehmen, und zwar bevor man sie mit Symbolen behandelt, die man hin und her schiebt, wie es gerade passt und dabei irgendwelche Identitäten behauptet werden. Symbole, so Silke Steets, „sind assoziativer als Zeichen und sie entziehen sich qua Definition einer rationalen Diskurslogik.“ (11) Sie sollten deswegen auch immer wieder in aller Ernsthaftigkeit an eine fundierte Auseinandersetzung gekoppelt werden, die durch Symbole nicht ersetzt werden kann, die anders als mit albernen „Wir geben uns die Hand“-Phrasen à la Maizière geführt wird und die danach fragt, wie ernsthaft und konkret eigentlich das Bemühen um all die Werte sind, von denen immer behauptet wird, dass „wir“ sie teilen. Das ist mehr als „scho au wichtig.“ Ohne diese Auseinandersetzung, gilt wohl bis auf weiteres, was Mark Siemons in der FAS über die Berliner Symbolpolitik konstatierte: „Wer es sich in symbolisch besetzten Kulissen gemütlich gemacht hat, kann deren Zeichen auch nach Belieben als Instrument der Ein- und Ausgrenzung nutzen.“ (12) Das kann’s ja wohl auch nicht sein.


(1) Die Thesen zur Leitkultur in ganzer Länge: >>> 
(2) Spiegel.de am 25. Juni 2017 >>>
(3) Leserbrief von Thomas Albrecht, Architekt des Barberini (HILMER SATTLER ARCHITEKTEN AHLERS ALBRECHT, Berlin  >>>
(4) Jürgen Tietz: Rekonstruierter Spatz in der Hand, db 3/2017: >>>
(5) Niklas Maak und Claudius Seidl: Make Potsdam schön again, FAZ, 10. April 2017 >>>
(6) Jetzt steht fest: Berliner Schloss bekommt ein Kreuz, Berliner Zeitung vom 23. Juni 2017 >>>
(7) Nikolaus Bernau: Warum es kein Kreuz für die Kuppel geben darf,  Berliner Zeitung vom 12. Mai 2017 >>>
Nikolaus Bernau: Die Debatte um die Schlosskuppel wird zum Kulturkampf, Berliner Zeitung vom 22. Mai 2017 >>>
(8) Lucas Wiegelmann: Da fehlt noch was, Die Welt vom 22. Mai 2017 >>>
(9) Horst Bredekamp, Neil MacGregor und Hermann Parzinger am 6. Juni 2017 >>>
(10) Was hält der „Zweifel“-Künstler vom Kuppelkreuz? Deutschlandfunk, 19. Juni 2017 >>>
(11) Silke Steets: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt, Berlin 2015, S. 205
(12) Mark Siemons: Stadt der leeren Zeichen, FAS vom 3. Juni 2017 >>>