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Stilkritik (29): Es steht nicht gut um Europa. Das muss uns Sorgen machen. Wir müssen uns aber auch deswegen Sorgen machen, weil sich manche anscheinend so gar keine Sorgen machen. Etwa die EU-Kommission. Sie macht es auch den Architekten ziemlich schwer, europabegeistert zu sein.


Pulse of Europe, so lesen wir in Wikipedia, ist eine 2016 in Frankfurt am Main gegründete, überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative mit dem Ziel, „den europäischen Gedanken  wieder sichtbar und hörbar [zu] machen“. Ich würde mich freuen, wenn die Initiative Erfolg hätte. Ich würde mich schon freuen, wenn es dieser sympathisch naiven Initiative gelänge, dass ich bei Europa nur noch einen Gedanken hätte. Am besten natürlich den, dass ein geeintes und grenzenloses Europa eine wunderbare Sache ist, für das sich einzusetzen lohnt. Aber mir kommen bei Europa leider viele Gedanken. Einer davon ist der, dass wir so sehr dazu gezwungen sind, den europäischen Gedanken zu verteidigen, dass es fast schon ein Tabu ist, sich auch kritische Gedanken über Europa zu machen. Dafür aber ist es höchste Zeit.

Die Kommission, eine Zumutung

Und so war ich ganz erleichtert, als Guy Verhofstadt vor Kurzem forderte, die EU-Kommission abzuschaffen. (1) Verhofstadt war vor einigen Wochen ein Facebook-Star, weil er den Mut hatte, Klartext zu reden. Er fragte Victor Orban, wie weit er noch gehen wolle und ob bald die Bücherverbrennungen kämen. Verhofstad ist also einer, der noch weiß, warum wir für den europäischen Gedanken sein sollten.
Die EU-Kommission, das ist einer der Gedanken, den ich habe, wenn ich an Europa denke, ist eine Zumutung. Zum Beispiel für die Filmemacher, wie kürzlich zu lesen war. (2) Und es gibt sicher den ein oder anderen Architekten, der ähnlich denkt. Nicht nur weil die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet und sie verklagt hat – Grund: die HOAI. Dafür allein muss man die Kommission nicht kritisieren. Es ist nicht zu viel verlangt, dass man darlegen muss, warum man etwas anders macht als andere EU-Staaten. Die Kommission begründet ihre Anklage freilich etwas merkwürdig, um es vorsichtig auszudrücken: die HOAI verhindere, dass sich mehr aus- und inländische Büros in Deutschland niederlassen. Klingt irgendwie als gäbe es in Deutschland einen eklatanten Mangel an Architekturbüros. Als würde man in Städten wie Stuttgart so gut wie keine mehr finden. Auch andere Argumente waren so verquer, dass die Bundesarchitektenkammer ungewöhnlich deutlich werden musste: „Statt einer sauberen Prüfung (…) stellt die Kommission pauschale, zum Teil sogar andere Berufsgruppen betreffende Behauptungen auf oder führt simplifizierte, oft mehrfach mit anderem Wortlaut wiederholte und zudem unstrukturierte Scheinbegründungen an, die eine vertiefte und vor allen Dingen sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik vermissen lassen.“ (3)


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Wie sich Europa gerade anfühlt. Eine Annäherung. (Bild: Christian Holl)

Ein Paket voll böser Überraschungen

Nun setzt die EU-Kommission dem Ganzen aber die Krone auf. Das Machwerk nennt sich Dienstleistungspaket und ist Europa zum Abgewöhnen. Mit ihm wird der bisher an Schnapsideen nicht armen Sammlung der Kommissionsvorschläge eine neue Schnapsidee hinzugefügt:  Die sogenannte Dienstleistungskarte. Mit dieser Karte könnte man in ganz Europa planen und bauen. Das Land, in dem der Karteninhaber aktiv sein will, hätte demnach eine Woche Zeit, um zu prüfen, ob der Bewerber die notwendigen Voraussetzungen dafür auch mitbringt. Verstreicht diese Frist, gilt der Antrag als genehmigt. Das sollte mal jemand beim Asylrecht vorschlagen, das immerhin, im Gegensatz zum Recht, den Architektenberuf auszuüben, ein Grundrecht ist. Eine Woche verstrichen, ohne dass die Behörde reagiert, und schon ist er genehmigt, der Asylantrag. Aber zurück zu den Architekten: es wird, so heißt es in einem Rundscheiben des Verband Freier Berufe in Hessen, „die Einführung des Herkunftslandsprinzip durch die Hintertür befürchtet.“ Mit anderen Worten: Die berufsrechtliche Kompetenz des Staates würde gezielt unterminiert. Der Europäische Gerichtshof hatte einmal das Subsidiaritätsprinzip verteidigt und anerkannt, dass jeder Mitgliedsstaat selbst bestimmen kann, welche Berufe er in welchem Umfang reglementiert. Die EU-Kommission ficht das nicht an.
Hier geht es nicht mehr nur darum, dass das Vertrauen darauf, dass Europa eine gute Sache sei, gefährdet wird. Denn das Dienstleistungspaket birgt weitere Überraschungen – etwa eine verfahrensrechtliche Umkehr. Die Kommission könnte, würde das im Paket Vorgeschlagene umgesetzt, zum Beispiel die HOAI einfach kassieren, ohne das Ergebnis des Vertragsverletzungsverfahren abzuwarten. Das widerspricht den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, nichts weniger. Ein Albtraum. Damit soll der „europäische Gedanke“ verteidigt werden?

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Wie sich Europa gerade anfühlt. Ein zweiter Versuch. Zumindest wird die Vermutung illustriert, dass Abriss und Neubau nicht grundsätzlich falsch sein müssen. (Bilder Christian Holl)

Nein, diese Kommission fühlt sich für europäische Gedanken offensichtlich nicht zuständig. Sie scheint vor allem neoliberaler Brachialideologie verpflichtet. Und was genauso schlimm ist: Außer Verhofstadt scheint das anderen Politikern wenig Sorgen zu bereiten. Ja, Politiker müssen sich derzeit um viele Dinge Sorgen machen und man kann nachvollziehen, dass man ein System, das lange funktioniert hat, nun nicht auch noch in Frage stellen will. Doch dieses System ist dabei, zu kollabieren, dafür muss man keine prophetischen Organe ausgebildet haben. Man muss dieses Europa ändern, bevor es zu spät ist. Vielleicht sollte man, fürchtete man sich nicht vor dem Applaus von der falschen Seite, lieber gegen Europa demonstrieren, rein aus strategischem Kalkül: Damit die, die etwas entscheiden können, erkennen, wie schlimm es um den europäischen Gedanken steht. Man muss sie wohl herausfordern, so wie die EU-Kommission meint, die Staaten herausfordern zu müssen. Wir erklären euch, warum die HOAI in Ordnung und die Berufsgesetzgebung in den Ländern gut aufgehoben ist. Und dafür erklärt ihr uns, wozu wir eine demokratisch nicht legitimierte, technokratische Kommission brauchen, die Dinge wie das Dienstleistungspaket meint auf den Weg bringen zu müssen. Und wenn ihr schon mal dabei seid, dann könnt ihr uns vielleicht noch erklären, ob eigentlich irgendwas gegen Verhofstadts Vorschlag spricht, die EU-Kommission zugunsten einer echten europäischen Demokratie abzuschaffen.


(1) Die Zeit vom 6. Juni: „Wir müssen die EU-Kommission abschaffen“ >>>
(2) FAZ vom 1. Juni 2017: „Die EU zerstört Europas Filmwirtschaft“ >>>
(3) Stellungnahme zum Aufforderungsschreiben der EU-Kommission vom 19. Juni 2015 >>>