Freunde – ab in den Untergrund!
Aus Anlass des 20-jährigen Bestehens unserer Partnerschaftsgesellschaft frei04 publizistik besuchten wir mit den „friends of Marlowes“ die Baustelle. Von oben besehen, also zum Beispiel mit dem Hilfsmittel Google Maps, sieht der Stuttgarter Hauptbahnhof aus, als hätte er die Windpocken bekommen. Überall weiße Punkte zwischen Gleisvorfeld und dem guten alten Bonatz-Bau, dem ja 2010 im Zuge des neuen Bahnhofprojektes ganz schön die Flügel gestutzt wurden. Aber was, das fragen sich die großzügig umgeleiteten Bahnkunden auf ihrem Weg vom Bahnhofsvorplatz zu ihren Gleisen, was genau versteckt sich unter diesen runden Glupschaugen? Oder anders gefragt: Wie weit sind die Maulwürfe da unten mit dem neuen Bahnhof eigentlich vorangeschritten? Wir begaben uns mit David Bösinger vom IST Infoturm Stuttgart in die Tiefe, sozusagen in den gefräßigen Schlund, in dem die Steuer-Milliarden verschwinden, damit die „Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart“ gelingen möge. Eins vorab: Die dazu benötigten Schienen und Oberleitungen sind zwar noch nicht alle zu sehen, aber das macht den Rohbau umso spannender.
In Gummistiefeln, rot-weiß gestreiften Sicherheitswesten, mit Helmen und Stirnlampen (okay, das mit der Stirnlampe war jetzt ein wenig Bergmannslatein) stiefelten wir unserem allwissenden IST-David hinterher, stuften die Stahltreppe zur neuen Bahnhofshalle hinab und staunten. Ja, man darf gegen Stuttgart 21 sein, wenn man es nicht gerade befürwortet, aber der Besuch dieses Rohbaus lässt erahnen, dass hier ein Stück Architekturgeschichte am Werden ist.
Die 28 Kelchstützen sind inzwischen allesamt betoniert und verstehen mit ihrer skulpturalen Erscheinung durchaus offene Münder des bassen Erstaunens wegen zu öffnen! Zwar sind die jeweils rund 200 Quadratmeter großen Lichtaugen zum Schutz der Verglasung fast alle noch abgedeckt, aber man bekommt angesichts der sich nach oben aufweitenden Beton-Schalenkonstruktionen eine Vorahnung, was für eine Wirkung das durch die Glasgitter einfallende Tageslicht dereinst in diesem Milliardengrab entfalten könnte. Noch braucht es 24/7 die Baustellenstrahler, die aber ebenfalls schon ein wenig vorgeben, wie das Kunstlicht in der Nacht die Kelchstützen in Szene setzt, die allesamt vom überaus schlanken Fußpunkt aus angestrahlt werden sollen.
So führte uns die Bautellentour an den halb fertigen Plattformen von einem Bahnhofsende zum anderen entlang, vorbei an einem Bodenbelags-Mockup, der uns zeigt, wie sich der favorisierte Granitstein mit den Beton-Kelchstützen verträgt; und es ging unter den Zwischenebenen hindurch, über die künftig die Zugänge zu den acht Gleisen über Treppen, Rolltreppen und Aufzüge erfolgen. Bemerkenswert: Die aus Stahlbeton und Stahl konzipierten Decken ruhen nur teilweise auf schlanken Stahlstützen. Rund um die Kelchstützen, von denen die Zwischendecken respektvoll Abstand wahren, hängt das Stahlkorsett für die Betonfertigteile hingegen an der Betonkonstruktion der Bahnsteighalle. Natürlich ließen wir es uns im Zuge der Baustellenbesichtigung nicht nehmen, mitten aufs künftige Gleisbett zu stehen und aus einer Perspektive in die beidseitig klaffenden Tunnelröhren zu fotografieren, die nach Fertigstellung des Projektes, wenn hier die ersten Züge anrauschen, nur noch derjenige hat, der sich nach dem Jenseits sehnt.
Zwei Stunden lang haben wir uns dort unten aufgehalten, in einem von Graffiti noch unberührten Rohbau mit einer ganz eigenen Atmosphäre, die sich später, wenn die ersten Verspätungsdurchsagen aus den Mikrofonen krächzen, so nicht mehr einstellen wird. Claudia Siegele
Mehr als der Bahnhof
Einen Eindruck davon, wie der Bahnhof in Funktion wirken könnte, bietet bereits seit einiger Zeit die ans Tageslicht geholte Stadtbahn-Haltestelle „Staatsgalerie“ direkt neben dem zukünftigen Südzugang des neuen Bahnhofs. Die eleganten Betonschwünge aus dem Büro Ingenhoven zeigen sich unbeeindruckt von der nötigen Haltestellen-Möblierung, bieten dem expressiven Planetarium (1977, Wilfried Beck-Erlang) eine Bühne zum großen Auftritt und führen die zu erwartende hohe Betonqualität vor – leider auch, wo Pfuschgefahr lauert (seit geraumer Zeit will es niemandem gelingen, die Freitreppen dicht zu bekommen). Dass die Haltestelle einst einen dezenten, von weitläufigen Grünflächen umgebenen Auftakt zur stadtauswärts führenden Willy-Brandt-Straße (derzeit sechsspurig) bilden könnte, und erst recht zur stadteinwärts führenden Konrad-Adenauer-Straße (derzeit bis zu zehnspurig und vielleicht eines Tages ein begrünter Boulevard), lässt sich derweil, mitten im unübersichtlichen Verkehrs- und Baustellengetöse kaum erahnen. Immer noch werden Fahrspuren verschwenkt, technische Einrichtungen in der Erde versenkt, Leitungen verlegt und Deckel darüber vorgerichtet. Von den bunten Renderings am Bauzaun, die einen Idealzustand weißgottwann verheißen, möchte man sich gar nicht lösen. Mussten wir aber, denn gar zu laut war‘s.
Flugs den Hang hinauf zur fast noch taufrischen John-Cranko-Schule (2020, Burger Rudacs) – ebenfalls in Beton, allerdings frei von Schwüngen streng orthogonal, schließlich geht es in dieser Kaderschmiede des Balletts um Disziplin. Weiter zur Neuen Staatsgalerie (1984, James Stirling, Michael Wilford & Associates – dem wohl dicksten architekturgewordenen Augenzwinkern der Geschichte), dem dazugehörigen Kammertheater, Haus der Geschichte, Musikhochschule, Haus der Abgeordneten, Württembergische Landesbibliothek, Hauptstaatsarchiv, Stadtmuseum. Uff. Und gegenüber auch noch das Württembergische Staatstheater (mal eben das größte Dreispartenhaus weltweit). Also einige der höchstrangigen Kultureinrichtungen des Landes, auf einem knappen Kilometer aufgereiht wie auf einer Perlenkette – leider ist die Schnur eine Stadtautobahn. Eine sehr praktische, möchte man als Autofahrer anmerken. Eine städtebaulich katastrophale, möchte man als Flaneur in den Lärm hinausbrüllen. Eine vielleicht eines Tages befriedete, baumbestandene, durch einen bislang fehlenden Ringschluss um die Stadt herum möglicherweise dereinst entlastete, möchte man als Optimist still in sich hineinträumen. Doch dazu muss der Bahnhof erst einmal fertig sein. Achim Geissinger