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Blick vom Bahnhof in Richtung Norden – der siegreiche Wettbewerbsbeitrag (Bild: asp Architekten, koeber Landschaftsarchitektur)
Die Euphorie ist längst verflogen. In Stuttgart ächzt man unter den Belastungen, die das große Bahnprojekt „Stuttgart 21“ für Pendler und Bewohner mit sich bringt. Da ist es nicht so einfach, Begeisterung für die neuen Quartiere zu wecken, die auf den freiwerdenden Arealen entstehen könnten. Der Wettbewerb dazu ist entschieden – der Sieger trifft die aktuelle Gefühlslage am besten. Der Entwurf bietet viele Chancen – wenn die Stadt bereit ist, sie zu ergreifen.

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Lageplan des Gesamtentwurfs von asp Architekten und Köber Landschaftsarchitektur. (Bild: Entwurfsverfasser)

Wenn man in Stuttgart Wettbewerbsergebnisse mit Skepsis beäugt, dann hat das einen Grund – viele Verfahren wurden mehrmals durchgeführt, bis ein Ergebnis verwirklicht wurde, sei es Staatsgalerie oder das Museum der Stadt, das heutige Kunstmuseum Stuttgart. So manche Wettbewerbe verliefen aber auch vorerst wieder im Sande, wie der zur „Kulturmeile“ (der Stadtautobahn zwischen Staatsgalerie und Charlottenplatz von 2009) oder der zum Marktplatz (2005), bis sie wieder Thema eines neuen Wettbewerbs werden durften (Kulturmeile) oder durch einen städtischen Entwurf ersetzt werden (Marktplatz).

Wenn es um das Areal geht, das im Zuge von Stuttgart 21 entwickelt werden soll, wird die Sache aus weiteren Gründen noch diffiziler. Hier fand im ersten Halbjahr 2019 ein Wettbewerb statt, der, ausführlich vorbereitet und von Bürgerbeteiligung begleitet, nun entschieden wurde. Es ging um das große Areal, das zur Verfügung stehen wird, wenn der neue Bahnhof in Betrieb geht und all die oberirdischen Gleise frei und beseitigt werden können. Im zweistufigen Verfahren hatte es vier Preisträger gegeben, von denen die ersten beiden in eine Überarbeitungsphase geschickt wurden. Ende Juli wurde nun entschieden. Ergebnis: Die schon zuvor Erstplatzierten (asp Architekten, Stuttgart, mit koeber Landschaftsarchitektur) wurden zum Sieger erklärt, dem Team aus Laux Architekten Stadtplaner und terra.nova Landschaftsarchitektur, beide München, blieb erneut der undankbare zweite Platz.

Risikofaktoren

Was allerdings von diesem Wettbewerb tatsächlich umgesetzt werden wird, steht vorerst in den Sternen. Unsicherheitsfaktoren gibt es einige: etwa die nach wie vor nicht abgeschlossene Suche nach einem Interimsstandort für die Oper, die möglicherweise vor dem Kreativzenturm Wagenhallen geparkt werden soll, aber vielleicht auch anderswo innerhalb oder außerhalb des Wettbewerbsgeländes. Auch der Zeitplan ist ungewiss, inzwischen geht man offiziell davon aus, dass der neue Bahnhof 2025 in Betrieb geht, was  sich aber genauso wieder ändern kann, wie sich bisherige Prognosen geändert haben. Damit nicht genug: Inzwischen plädiert auch der Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) für einen Bahnhof, der um unterirdische Kopfbahnhofgleise ergänzt wird – zusätzliche Kosten, weitere Verzögerungen und eine Diskussion darüber, ob man nicht doch diese Gleise oberirdisch führen könnte, sind damit wahrscheinlicher geworden.

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Herzstück des Entwurfs: der Gleisbogenpark. (Bilder: asp Architekten, koeber Landschaftsarchitektur)

Mit dem Wettbewerb wird es nicht einfacher werden. Denn der Siegerentwurf setzt fast zwingend voraus, dass diese Zusatzgleise für den unterirdischen Kopfbahnhof auf der ganzen Fläche des Wettbewerbsgeländes unterirdisch verlaufen. Die Verfasser schlagen vor, einige der noch bestehenden Zufahrtsgleise in einen Park umzuwandeln – einen Park „neuen Typs“, einen, der nicht als englischer Landschaftsgarten konzipiert, sondern eher an Vorbildern wie Superkilen in Kopenhagen oder dem Parc de la Villette in Paris orientiert ist. Er ist eine Kaltluftschneise und dient der Regenwasserspeicherung, ist Verbindungsachse für Rad- und Fußverkehr, er sichert den Anwohnern einen direkten Parkzugang, soll Freiflächen für ein neues Quartiershaus aufnehmen und der heterogenen Stadtgesellschaft einen integrierenden Ort bieten. Eingefasst wird er durch den Neubau einer Konzerthalle und einem für das ethnologische Lindenmuseum, am südlichen Ende wird das Überwerfungsbauwerk als Zeugnis der alten Nutzung wie ein Artefakt eingesetzt. Dieser Park, der in einem Dialog mit Bürgern und Initiativen der Zivilgesellschaft entwickelt werden soll, ist das Rückgrat des neuen Stadtteils.

Normalität und Neues


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Modellfoto mit neuer Konzerthalle (links) und Lindenmuseum (rechts).
(Bild: asp Architekten, MS Architekturmodelle)

Ansonsten setzt der Entwurf weniger auf originelle Stadtgrundrisse als auf ein mehrschichtiges Gesamtpaket: Verkehrsreduzierung – es soll keine Tiefgaragen und viele autofreie Bereiche geben – und ökologische Bebauung, eine reduzierte Oberflächenversiegelung, PV-Anlagen, begrünte Dächer, Oberflächenwasserversickerung und ein neuartiges Versorgungsnetz, das mit niedrigen Temperaturen betrieben werden kann und Erdwärme nutzt, ohne tiefe Sonden bohren zu müssen (LowEx-Netz). Querverbindungen in die Stadt im Westen wie im Osten und ein Radschnellweg nach Cannstatt sind geplant. Die Bebauung ist kleinteilig parzelliert vorgesehen und kann formal frei interpretiert werden – es wird also darauf ankommen, das Projekt sorgfältig zu begleiten, damit das Potenzial dieser Offenheit genutzt werden kann: dass verschiedene Arten von Eigentümern, Mietwohnen, verschiedene Wohnformen, soziale und funktionale Mischung auch verwirklicht werden. Auch Urban Gardening, Worksharing, Maker City – alle Wünsche nach derzeit aktuellen Konzepten könnten erfüllt werden. Das Konzept setzt wenige städtebauliche nachvollziehbare Höhepunkte, als Orte des Quartierslebens könnten die Hubs mit Paket- und Radstation, Parkplätzen, Cafés und öffentlichen Einrichtungen zur Belebung beitragen.

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Ein Regelwerk soll die Struktur und Qualität sichern, die Bebauungsform kann darin variieren. (Bild: asp Architekten, koeber Landschaftsarchitektur)

Das kann funktionieren, setzt aber voraus, dass die Stadt sich mit allen Mitteln, die sie hat, für dieses Konzept, für die gesellschaftlichen Gruppen, die damit berücksichtigt werden könnten, für die Art, wie eine Bebauung eines Blocks moderiert werden kann, einsetzt. Und dafür, dass ökonomische Interessen nicht dominieren. Das Risiko des Entwurfs ist, dass er mit wenigen Änderungen und ohne das Engagement der Stadt zu einem banalen Entwurf abgedimmt werden könnte. Seine Qualität wiederum ist, dass er Normalität und Neues miteinander verknüpft, dass er nicht die Form als Garant für eine moderne Stadt versteht – die muss mit anderen Mitteln erarbeitet werden. Dazu braucht man politischen Willen – und instrumentelle Erfahrung. Gut wäre es, wenn die Stadt schon mal an anderer Stelle übt, wie die Moderation eines solchen Blocks für die Bebauung mit verschiedenen Konzepten und Eigentümern funktionieren könnte. Sie könnte dafür zum Beispiel in Heilbronn nach den Erfahrungen fragen, die man dort gemacht hat.


Nicht noch eine große Transformation


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Lageplan des Entwurfs von Laux Architekten mit terra nova Landschaftsarchitektur. (Bild: Entwurfsverfasser)

Der zweite Preis hat die Veränderung der Stadt, die Notwendigkeit dazu deutlicher und plakativer formuliert: Die Entwurfsverfasser sprechen von der „großen Transformation“, die nicht nur das einführen soll, was in Stuttgart bisher zu wenig berücksichtigt wurde – neue Mobilitätsformen, ressourcenschonende Energieversorgung, Wohnen für eine gesellschaftliches Miteinander. Diese Transformation soll sichtbar werden: Laux/terra nova verbinden sie mit einer stärker kontrastierenden Bebauung als die Wettbewerbsgewinner. Ein großes, rechteckiges Gebäudecluster von hoher Dichte, mit eingeschnittenen Sichtachsen und viele Hochhäuser. Dieses neue kompakte Stück Stadt legt sich an eine Promenade, die an der Kante zum bestehenden Park Innenstadt und Neckar miteinander verbindet. Ein solcher Entwurf ist empfindlicher gegenüber durchschnittlicher Architektur. Im Comic, mit dem die Qualitäten des Quartiers vorgestellt wird, heißt es deswegen nicht zufällig, dass hier „architektonisch die Crème de la Crème vertreten“ sei. Das ist eine gleichermaßen verlockende Aussicht wie verletzliches Konzept: Stuttgart macht gerade am Pragsattel und mit dem Hochhaus Cloud No 7 direkt am großen Einkaufszentrum hinter dem Bahnhof die bittere Erfahrung, wie weh mittelmäßige Hochhäuser tun können. Da helfen auch keine E-Concierges oder To-Go-Zonen (was immer das ist), die in Aussicht gestellt werden.

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Verdichtetes Viertel an der Kante zum Rosensteinpark (Bilder: Laux Architekten, terra.nova Landschaftsarchitektur)

Dennoch haben sich auch die Zweitplatzierten darauf konzentriert, wie sie Qualität sichern können, ohne die Bebauung schon zu detailliert festlegen zu müssen: Pro Wohnraum soll ein Baum gepflanzt, der Stellplatzschlüssel auf 15 Prozent reduziert werden, fünf Prozent des Raumangebots sollen für Gemeinschaft und soziale Teilhabe reserviert werden, die verschatteten Sockelbereichen der „urbanen Produktion“ vorbehalten bleiben. Mit einer Kaskadennutzung der Fernwärme soll Energie gespart werden. Zuerst soll sie dort genutzt werden, wo am meisten gebraucht wird, eine Form eines quartiersübergreifenden integralen Konzepts, das auch den Bestand einbeziehen könnte.


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Viele Ideen für für eine abwechslungsreiche Promenada als Kante zwischen neuem Viertel und Park. (Bilder: Laux Architekten, terra.nova Landschaftsarchitektur)

Für die Parkkante, die die bestehende, teils recht hohe Gleiskörperbebauung neu nutzt, haben Laux Architekten und terra nova eine „Tool-Box“ verschiedener Szenarien und variantenreicher Elemente vorgeschlagen – wie eine Tribüne am Konzerthaus, eine Kolonnade und Rampenanlage am Überwerfungsbauwerk, einen Stadtbalkon mit Aussicht und Parkterrassen – eine wahre Perlenkette der Attraktionen.


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Visualisierung des Entwurfs – „architektonisch ist hier die Crème de lá Crème vertreten.“ (Bild: Laux Architekten, terra.nova Landschaftsarchitektur)

Für den Prozess werden Experimentier- und Laborphasen, Co-Creation Workshops, Bürgerakademien und Lernlabore vorgeschlagen. Sie fordern die Stadt zu einer permanenten Begleitung der Quartiersentwicklung auf. Dennoch hat der Entwurf vielleicht eine Spur zu sehr auf die Überzeugung durch das Neue, das vermeintlich Bessere gesetzt. Vielleicht wäre man woanders neugieriger oder bereitwilliger auf ein solches Experiment eingegangen – in Stuttgart macht man gerade die Erfahrung, wie schwer es werden kann, sich dem Neuen zu sehr zu verschreiben: Man ist skeptisch gegenüber einer weiteren „große Transformation“. Und gerade weil man das neue Quartier dem Versprechen des Neuen –  Stuttgart 21 – verdankt, ist man vielleicht doch nicht schlecht beraten, sich daran zu machen, nun etwas bescheidener und vorsichtiger zu sein – fehlerfreundlicher, wie das Planer gerne nennen.

Der amtierende Bahnchef Lutz wird in der FAZ am 22. Juli 2019 zitiert, dass er das Projekt unter den vertraglichen Bedingungen heute nicht mehr machen würde. Dem stimmen sicher viele Stuttgarter zu. Umso wichtiger, dass sie so nicht in naher Zukunft über das neue Quartier denken.


Stuttgart Rosenstein – Ideen für den neuen Stadtteil
Überarbeitung städtebaulicher Wettbewerb

1. Preis
asp Architekten GmbH: Cem Arat, Markus Weismann
Karsten Schust, Deborah Kunz, Jana Melber, Raphael Dietz, Jule Büchle, Henriette Commichau, Nouran Mansour, Laura Seldwood, Yanxin Chen
Alex Wall
koeber Landschaftsarchitektur GmbH
Joachim Köber
Franziska Bräuninger, Luc Schüller, Mona Jedamzik,
Köhler & Leutwein, Ingenieurbüro für Verkehrswesen
Stefan Wammetsberger, Verkehrsplaner
Dr. Bouteiller Consulting, Philipp Bouteiller
ee-concept GmbH
Thomas Stark, Martin Zeumer
MS Architekturmodelle Michael Schluchter

 

2. Preis
Architektur und Stadtplanung: Laux Architekten GmbH, München / Stuttgart; Ina Laux, Gunther Laux
Freiraum und Landschaft: terra.nova Landschaftsarchitektur, München; Peter Wich
Verkehr und Mobilität: Inovaplan GmbH, Karlsruhe / München; Wilko Manz
Energie und Nachhaltigkeit: IB Hausladen, Kirchheim bei München; Gerhard Hausladen /  Elisabeth Endres
Smart City: Creative Climate Cities. Berlin / Stuttgart; Nadine Kuhla von Bergmann