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Stuttgart mondän?


Deutet sich mit der schrittweisen Eröffnung des „Dorotheen-Quartiers“ mitten in Stuttgart ein Image-Wandel der Schwabenhauptstadt vom moralisierenden Wutbürgertum zum leichtlebig Mondänen an? Keine neue Shopping-Mall, sondern ein ganzes Shopping-Quartier bietet seit neuestem den „Reichen und Schönen“ eine Bühne, die sie bislang nicht hatten. Aber das Quartier böte mehr als diese Bühne, wenn denn die Stadtverwaltung tätig werden wollte.

Die Sporerstraße zwischen Karlsplatz und Karlspasse (Kaufhaus Breuniger). Im Erdgeschoss stört die Verbarrikadierung des Sansibar-Aßennbereichs, dass ein tatsächlich öffentlicher Platz entsteht. (Bild: Ursula Baus)

Die Sporerstraße zwischen Karlsplatz und Karlspasse (Kaufhaus Breuninger). Im Erdgeschoss verhindert die Verbarrikadierung des Sansibar-Außenbereichs, dass ein tatsächlich öffentlicher Aufenthaltsplatz entsteht. (Bild: Ursula Baus)

Bis in die 1980er-Jahre hinein gab es in Stuttgart kaum einmal Außengastronomie – so erinnert sich auch Stefan Behnisch in einem heiteren Gespräch an die Zeit, in der ich fürs Architekturstudium nach Baden-Wüttermberg zog. Stefan Behnisch bekennt sich zu Stuttgart als seiner Heimatstadt; hier lebt und arbeitet er, obwohl er sich charmant über die pietistische Mentalität der Hiesigen lustig macht: Der gottgefällige Schwabe schaffe, und in der Freizeit baue er fleißig sein Häusle oder putze sein Auto. Er – der Schwabe – verdiene gern viel Geld, zeige es aber nicht. Wer diese Klischees nicht als bittere Wahrheit selbst erlebt hat, kann den Wandel, der sich in den letzten Jahrzehnten in der Schwabenhauptstadt abgespielt hat, kaum ermessen. Vieles mag darin begründet sein, dass die gute Arbeitsplatzsituation viele Nicht-Schwaben einwandern ließ. Das vom Büro Behnisch Architekten gebaute und Anfang Juni eröffnete Dorotheen-Quartier bietet Anlass, die stadtgesellschaftliche Veränderung und weitere Konsequenzen für Städtebau und Architektur in der Landeshauptstadt zu differenzieren.

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Zwischen Marktplatz (südlich) und Karlsplatz (nördlich) liegt das neue Dorotheen-Quartier (Lageplan: Behnisch Architekten)

Stadtgrundrisse

Es gab ein „Stuttgart“ vor der Erfindung des Autos und vor der Ideologie der autogerechten Stadt. Vergleicht man beispielsweise das Innenstadtquartier, um das es hier geht, in seinen Konturen von 1794 mit dem, was jetzt gebaut worden ist, dann fallen wiedererkennbare Stadträume ansatzweise auf. Das große Dilemma ist und bleibt jedoch bis auf weiteres, dass Richtung Osten eine teils zwölfspurige Bundesstraße (B 14) in autobahnähnlich raumgreifender Aggression die Innenstadt durchschneidet und ihr Wegenetz zu Stückwerk verunstaltet. Hoffentlich nicht mehr lang.

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Das Quartiersgelände in einem Plan von 1794 (Bild: Wiki commons)

Es wäre so einfach: Auf der B14 im kleinen Innenstadtbereich vom Neckartor bis zum Marienplatz Tempo 30 vorschreiben – und schon ließe sich bewerkstelligen, was seit Jahrzehnten gefordert wird: eine fußgängertaugliche Vernetzung der Innenstadt mit den Wegen an den Hängen zu den Wohngebieten gen Osten hinauf, die für Stuttgart typisch sind. Für welche auch die Sichtachsen eminent wichtig sind. Ohne stinkende, trostlose Unterführungen, sondern mit Fußgängerampeln und vielleicht auch Zebrastreifen oder mehr. Ließen die bisher eingerichteten Ampeln den Autoverkehr mitnichten – wie von den Mitarbeitern des Tiefbauamtes dogmatisch prognostiziert – den Verkehr stadtweit zusammenbrechen, wäre eine solche Zivilisierung des Autoverkehrs im Bereich der sogenannten Kulturmeile zwischen Staatsoper, Theater, Staatsgalerie und Musikhochschule, Schloss und Stadtmuseum, Stadtkern und Bohnenviertel und, und, und … eine Kleinigkeit.
Genau diese „Kleinigkeit“ bereitet das neue Dorotheen-Quartier mit ortskenntnisreichen Blickbezügen vor, um nebenbei einem Teil der Stadtgesellschaft ein Bühnenszenario zu bauen, das diese bislang nicht hatte.
Keineswegs entstand nun im Dorotheen-Quartier eine geschlossene Shopping-Mall wie beim „Gerber“ und beim „Milaneo“ (siehe Beiträge in der Randspalte), sondern eine – salopp gesagt – vergleichsweise normale Stadtstruktur mit kommerziell genutzten Erdgeschossen, vielen Büroetagen und wenigen Wohnungen. Im Einzelnen dazu unten mehr – doch zunächst zurück zur Stuttgarter Zivilgesellschaft.

Sansibar in Stuttgart – Sehen und gesehen werden

Fehlt Stuttgart das Mondäne? Was Düsseldorf mit der Kö und München mit der Theatinerstraße hat? Bislang zeigt sich der Teil der Schwaben, der vermeintlich schön und gewiss reich oder doch wohlhabend ist, eher andernorts. Gern auf Sylt, südlich Rantum, auf den Dünen oberhalb vom Strand „Sansibar“, wo der Exil-(Alb-)Schwabe Herbert Seckler seit Jahrzehnten den Sansibar-Strandkiosk betreibt, der sich zum Promi-Schicki-Micki-Etablissement entwickelt hat. Und nun richtete Seckler eine Depandance mitten im Stuttgarter Dorotheen-Quartier ein, in der – beobachtet man derzeit die Quartiersbesucher – manche Klientel offenbar sehr gern gesehen werden möchte.

Eine Eventankündigung auf der Website des Dorotheen-Quartiers

Eine Eventankündigung im Prospekt des Dorotheen-Quartiers (Foto: Ursula Baus)

Weil ein Foto von Personen ein publizistisches Problem ist, sei diese Klientel kurz mit Worten skizziert. Bei reiferen Paaren fällt „er“ mit weichen Lederslippern, hellen Hosen und pastellfarbenem Kaschmirpulli auf. „Sie“ ist braungebrannt, blondiert oder schwarzgefärbt und gibt sich in goldschimmernden Turnschuhen und alltagstauglichem Lametta sportlich, zumindest jugendlich. Jüngere Klientel – gut versorgte Familien mit zwei Kindern, die sich das Wohnen in und um Stuttgart erlauben können – orientiert sich deutlich am Markendogma, mit dem das Dorotheen-Quartier wirbt. Geschmacklich noch nicht gefestigt, wählt diese Familie das Modegenre „Casual“ mit obligatorischen Turnschuhen, bestellt schmallippig oder auch polternd laut „Veganes“ oder die 12 Euro teure Curry-Wurst. Auch ein magerer Dreißiger fällt auf, der mit patinierten Turnschuhen, einer Schirmmütze auf kahlem Kopf, Sakko und einem Designerucksack umherschlendert und ein Schreibblöckchen mit Bleistift mit sich führt. Ein Literat? Man fragt sich, wie dieses Quartier „funktioniert“.

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Links im Bild: Der Außenbereich der „Sansibar“-Gastronomie ist eingehegt. Wer im Dorotheen-Quartier nicht konsumiert, findet keine Bleibe. (Bild: Ursula Baus)

Nicht kommerzialisierte Stellen – Bänke, Sitzplätze welcher Art auch immer–, die das Büro Behnisch vorgeschlagen hatte, wurden nicht genehmigt. Ganz so öffentlich, wie er sich gibt, ist der öffentliche Raum im Dorotheen-Quartier also keineswegs. Darin gleicht es dem vor einigen Jahren sanierten „Bosch-Areal“ in Stuttgart-West, unterscheidet sich aber beispielsweise essentiell von einem anderen, zentrumsnahen Quartier nahe am Nordbahnhof, das eine nichtkommerzielle Oase ist: das von Künstlern bestückte Terrain neben den > Wagenhallen.
Mit dem Dorotheen-Quartier kommt jetzt dennoch eine Facette des in Stuttgart stadttypologisch Fehlenden vor, ob es einem gefällt oder nicht: Es gehört zur inflationär beschworenen und inhaltlich wenigsagenden „Urbanität“ irgendwie dazu und fehlte bislang im pietistisch geprägten Stuttgart. OB Manfred Rommel, so Stefan Behnisch, habe Stuttgart sozial befriedet. Städtebaulich aber nichts bewegt. OB Wolfgang Schuster wurde bundesweit mit der Aktion „Let’s putz“ bekannt, widmete sich ansonsten Prestige-Projekten. Und verantwortet als städtischer Bauherr durchaus vieles, das zu erläutern hier zu weit führt. Hinterließ seinem „grünen“ Nachfolger Fritz Kuhn aber mit dem Dorotheen-Quartier ein Kuckucksei.

Und damit zum Projekt

Der Investor Breuninger, der 1881 als Familienunternehmen in Stuttgart begann, hatte Grundstücke rund um seinen Stammsitz erworben und startete 2007 das Projekt unter dem modischen Namen „da Vinci“, was ihm durchaus Hohn und Spott und wegen der Projektgröße auch heftige Kritik eintrug. Willem van Agtmael, damals Breuninger-Chef, hatte weltstädtische Atmosphäre im Sinn und legte immerhin Wert darauf, dass keine geschlossene Shopping-Mall, sondern ein mit der Umgebung vernetzter öffentlicher Raum entstehen möge, was Stefan Behnisch heute durchaus als segensreiche Grundlage des Quartiers anerkennt. Direkt mit Planungsideen beauftragte Breuninger zunächst Ben van Berkel (UN Studio), der das schicke Mercedes Museum im benachbarten Bad Cannstatt gebaut hatte. 2010 wurden dann elf Büros zu einem internationalen Wettbewerb eingeladen, den Behnisch Architekten gewannen. Damals hatten sie zwei recht große und konventionelle Quartiersblöcke entworfen – aber es kam alles anders.

Fassaden der neue Baukörper am Karlsplatz, Blickrichtung Stiftskirche (Bild: Ursula Baus)

Fassaden der neuen Baukörper am Karlsplatz, Blickrichtung Stiftskirche. Anders als vom Büro Behnisch geplant, springt der hintere Baukörper zurück, so dass keine durchgängige Arkade zur Markthalle zustande kam. Die Traufkanten hätte Behnisch gern weniger rigide gestaltet. (Bild: Ursula Baus)

Abreissen, Erhalten, Weiterbauen

An der Seite zum Karlsplatz stand das ehemalige Finanzministerium – hervorragende Nachkriegsarchitektur der Architekten Karl Schwaderer und Claudius Coulin von der OFD Stuttgart. Östlich daneben steht das ehemalige „Hotel Silber“ – der Wiederaufbau eines Gebäudes, in dem sich die Nationalssozialisten eingenistet und Folterkeller eingerichtet hatten. Das Finanzministerium war gepflegt, es hatte wunderschöne Treppenhäuser und war denkmalgeschützt. Allein, das hilft in Stuttgart gar nichts, was wir in zwei Foto-Essays dokumentierten (siehe Seitenspalte). Zwar hatte das Haus eine schäbige Rückseite, doch die hatte das Kaufhaus Breuninger – ein Betonbau von Rudolf Czermak – auch, abgerissen wurde es dennoch nicht. Der wichtigste Grund für den Abriss und Neubau des Ministeriums war eine höhere Nachverdichtung, und die ist im Dorotheen-Quartier natürlich horrend. Anfänglich knapp 50.000 Quadratmeter Geschossfläche mussten reduziert werden, es sind immer noch etwa 38.000.
Dass das Hotel Silber erhalten blieb und heute eine Art Kontinuität im Gefüge der Innenstadt, außerdem als Gedenkstätte eine nicht-kommerzielle Bereicherung sondergleichen bietet, ist allein privaten, kulturell ambitionierten Initiativen zu danken; genannt seien sich Persönlichkeiten wie Max Bächer, Karl Ganser, Edzard Reuter, Jörg Schlaich, Gottfried Kiesow, Roland Ostertag und viele andere. Für Behnischs Projekt zeichnete sich nach der Entscheidung für das Hotel Silber etwa 2013 ein Neustart ab, der – so Stefan Behnisch heute – dem Projekt gut getan habe.

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Blick aus der Karlspassage Richtung Karlsplatz; im Hintergrund (gelb) das ehemalige Waisenhaus (heute Café Planie und ifa), davor die Stirnseite des ehemaligen Hotel Silber (Bild: Ursula Baus)

Statt zwei riesiger Blockbauten gibt es jetzt drei neue Baukörper und das erhaltene Hotel Silber, und mit dieser kleinteiligeren Ensemble-Struktur wird das einstige Stadtgefüge reanimiert. Die Traufhöhen legte die Stadt mit etwa 20 Metern analog zu Martin Elsaessers Markthalle von 1912-13 fest, und was nun darüber hinausragt, sind nicht etwa Dachgeschosse, sondern Vollgeschosse, die so aussehen, als gehörten sie zum Dach. Ein geplantes Luxus-Hotel kam nicht ins Raumprogramm, stattdessen Büroetagen für Landesbeamte und außerdem 19 „exklusive“ Wohnungen.
Aus der Fußgängerperspektive entwickeln die nicht rechtwinklig angeordneten öffentlichen Räume mit überzeugenden Sichtbezügen einen bemerkenswerten Charme. Die Vollgeschosse über den Traufen wirken im Blick nach oben wie gen Himmel wegretuschiert – es ist nunmal ein gewaltiges Volumen, das sich in die Höhe türmt. Vor allem die Außenhaut der Obergeschosse gab Rätsel auf: Wann wohl die Schutzfolie von den Gläsern abgezogen würde? Die Architekten wollten die Glashülle so wie sie jetzt ist, und nun nimmt sich die „fünfte Fassade“ des Quartiers, die von den Stuttgarter Hängen aus als eine Art Stadtlandschaft wahrgenommen wird, neben der Glastonne am Königsbau vergleichsweise harmlos aus.

Blick nach Ost, über die B14 Richtung Bohnviertel und Halbhöhe (Bild: Ursula Baus)

Blick nach Ost, über die B14 Richtung „Bohnenviertel“ und Halbhöhe. Behnisch konnte mit Unterstützung von Breuninger eine helle, rechteckige Bodenplatte durchsetzen. (Bild: Ursula Baus)

Kreuz und quer, privat und öffentlich

Die Intention Behnischs, eine stärkere Verbindung aus der Stadtmitte über die B14 zum Bohnenviertel hin vorzubereiten, ist deutlich erkennbar. Blickbezüge nötigen als vorweggenommene Querspangen jetzt ständig dazu, die Bundesstraße innenstadtverträglich zurückzubauen, was die Stadt aufatmen ließe.
Zugleich meldeten sich in der regionalen Presse Stimmen, die endlich auch den benachbarten Marktplatz – einen in früher Nachkriegszeit auf historischem Grundriss umbauten Platz – ähnlich „belebt“ wissen wollen. Nun bietet der Marktplatz aber genau das, was das Dorotheen-Quartier verweigert: Aufenthaltsstellen ohne Konsumzwang. Er muss, weil er Marktplatz ist, ohnehin weitgehend frei bleiben, kann womöglich etwas Gastronomie oder kulturelle Nutzung vertragen. Wo die Stadt Eigentümerin am Platzrand ist oder anders Einfluss nehmen kann, muss sie dies in gemeinnützigem Sinne tun. Doch man erschrickt, wenn jetzt davon die Rede ist, dass sie den Marktplatz als Ganzes „endlich in Angriff“ nehmen will. Das wird für Stuttgart wieder eine andere Baustelle… Zudem wird in Sichtweite des Dorotheen-Quartiers, gegenüber der Stiftskirche, wieder einmal abgerissen. Ein geschickt positionierter und gegliederter Bau aus der frühen Nachkriegszeit verschwindet – was stattdessen kommen wird, konnte in den letzten Tagen nicht herausgefunden werden. (Ergänzung vom 14. Juni 2017: Es wird ein Bau von Wulf-Architekten sein, der die übliche Rasterarchitektur mit Anschlussproblemen an den Bestand in sich trägt, siehe facebook)

(Bild: Ursula Baus)

(Bild: Ursula Baus)

Fassaden, Falten und Facetten

Bewirkt die Abkehr vom rechten Winkel in den Grundrisskonturen unumstritten eine angenehme Raumfolge, gehen die Meinungen über die kommerzialisierten Erdgeschosse und die plastisch reliefierten Fassaden auseinander. Passanten schauen hoch und diskutieren, die Heterogenität der Gebäudehüllen – Stein, Stahl, Glas – gibt in ihrer ungewohnten Geometrie Anlass genug dazu. Einförmige Raster wollte das Büro Behnisch nicht. So bleibt auch abzuwarten, was eine Beleuchtung in der dunklen Jahreszeit hier bewirken kann.

(Bild: Ursula Baus)

(Bild: Ursula Baus)

In Stuttgart wurde ein Stück Stadt ein bisschen luxuriös, aber nicht peinlich prätentiös oder mit Talmi herausgeputzt. Das Dorotheen-Quartier bleibt, weil der vermeintlich öffentliche Raum kommerzialisiert und damit latent privatisiert ist, zwar exklusiv – und schließt damit Teile der Stadtgesellschaft aus. Strukturell und mit der Architektur sind aber keine funktionalen Perspektiven verbaut, die à la longue zu weiterer Stadtaufwertung zu öffnen sind.

Blick vom Karlsplatz Richtung Karlspassage (Bild: Ursula Baus)

Blick vom Karlsplatz Richtung Karlspassage (Bild: Ursula Baus)

 


Bauherr:
E. Breuninger GmbH, Stuttgart

Architekten:
Behnisch Architekten, Stuttgart

Wettbewerb: 2010
Überarbeitungsstudie: 2013
Ausführung: 2014-2017