Es gibt mehrere Möglichkeiten, ein Erbe auszuschlagen. Braunschweig wählt möglicherweise den Weg, das Erbe nur fadenscheinig anzunehmen, um es damit aber nur um so endgültiger abzulehnen. Die Rede ist von einem unerkannten Meisterwerk Gottfried Böhms. Es soll zwar in Teilen erhalten werden, doch das eigentlich Beeindruckende des Originals soll durch ein modisches Remake ersetzt werden.
Von großer Aufmerksamkeit begleitet, wurden Ende Mai die Planungen für ein neues Musiktheater in Braunschweig vorgestellt. Die Renderings und Zeichnungen zeigen eine beeindruckende Architektur mit heruntergezogenen Fassadenelementen, die sich dem Passanten wie Segel entgegenschwingen.

Hinter der Fassade. Erster Preis im Wettbewerb „Haus der Musik“ für ADEPT. (BIld: ADEPT, Kopenhagen, Hamburg)
Das Erdgeschoss öffnet sich durch hohe Glasflächen dem Außenraum. Im Inneren erweist sich das Foyer mit großzügigen Emporen und aufregender Spindeltreppe als ein „Dritter Ort“, gleichsam als eine neue Agora für die Stadtgesellschaft. Diffus einströmendes Licht an den Segelflanken sorgt für eine wohlige Raumatomsphäre im Haus, durch die beschwingte Fassade abgeschirmt vom Trubel der Braunschweiger Innenstadt. Der Wettbewerb für ein „Haus der Musik in Braunschweig “ wurde im vergangenen Jahr vom zwischenzeitlich verstorbenen Braunschweiger Unternehmer Friedrich Knapp (New Yorker) ausgelobt und mit Unterstützung der Stadtverwaltung durchgeführt. Die Preisjury spricht von einem Meilenstein für die Innenstadtentwicklung und für die Kultur in Braunschweig. Mit dem ausgezeichneten Siegerentwurf aus dem dänisch-deutschen Büro ADEPT werde „das Bestandsgebäude großenteils erhalten und behutsam weiterentwickelt.“ Die Außenhaut sei als eine Reminiszenz an die Fassade des früheren Karstadt-Gebäudes zu verstehen. Der Zuspruch auf den Social-Media-Plattformen ist überwältigend. Offensichtlich haben die Planungen den Nerv der Zeit getroffen, die Erwartungen an eine neue Architektur im Herzen der alten Welfenstadt erfüllt.

Preise 1 und 2 sowie eine Anerkennung im Wettbewerb „Haus der Musik“; von links nach rechts: ADEPT, Gustav Düsing und Dörte Mandrup. (Bilder: ADEPT; Kopenhagen/Hamburg; Gustav Düsing Architekt, Berlin; Dorte Mandrup A/S, Kopenhagen).
Erinnerung und Neuerfindung
Wäre da nicht Böhm. Denn das Haus, um das er hier geht, steht eigentlich schon da und stellt somit mehr als nur eine Ressource für die angesichts des Klimawandels erforderliche Bauwende dar. Es wurde von Gottfried Böhm 1976 bis 78 als Kaufhaus errichtet, war lange in Betrieb, bis die Sigma-Krise auch Braunschweig erreichte und dem Kaufhaus den Garaus machte. Böhms Entwurf entstand im Rahmen eines Architekturwettbewerbs für ein heterogenes Grundstück in der Braunschweiger Altstadt – vis á vis des altehrwürdigen Gewandhauses, das nach den Kriegswirren wiederaufgebaut und mit für die Nackriegszeit typischen Elementen angereichert worden war. An diesem Ort treffen Alt und Neu dermaßen leichtfüßig aufeinander, dass dieses Weiterbauen im Wiederaufbau einer im Krieg weitgehend zerstörten Stadt kaum mehr erkannt wird.
Gottfried Böhm, später erster und neben Frei Otto bis heute einziger deutscher Pritzker-Preisträger, nahm sich in dieser Melange des Wiederaufbaus mit seinem Kaufhausbau respektvoll zurück, suchte erst gar nicht die Fortschreibung von Erinnerung und Identität durch architektonische Relikte der Vergangenheit, sondern erfand in der beinahe geschlossenen Form abseits der üblichen Kaufhausarchitektur à la Horten ein gekonntes Geflecht in der Oberflächenstruktur, die Fassade und Dach zu einer gestalterischen Einheit zusammenfasst. Sein Thema war der Maßstab in einer von Massenkonsum geprägten Stadt und Gesellschaft.
Einkaufen für alle
Es gibt wohl kaum eine Bauaufgabe der Moderne, die so umstritten ist wie das Bauen für Handel und Konsum. Dabei hatte noch in den 1920er Jahren Edwin Redslob in seiner Funktion als Reichskunstwart das Warenhaus als „Akademie der modernen Lebenskultur“ beschrieben, womit dieser Bautypologie eine Hauptrolle für die „Demokratisierung“ des Konsums eingeräumt wird, habe sie sich doch tendenziell der Masse geöffnet.

Schwarzplan Braunschweig mit der Kennzeichnung der Kaufhausbauten (v.l.n.r.): Karstadt am Gewandhaus, Gottfried Böhm 1976-78; Kaufhaus Flebbe, Friedrich Wilhelm Kraemer 1953/54; Horten, Helge Bofinger 1972-74 (Quelle: Olaf Gisbertz)
Massenkonsum setzte in Westdeutschland aber erst richtig in den 1960er- und 70er-Jahren ein, als sich die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft mehr und mehr dem Konsum von Luxusartikeln zuwenden konnte. Es war jene Zeit des „Wirtschaftswunders“ und der Konsolidierung der Nachkriegsgesellschaft, als neben Warenhäusern und Ladeneinbauten auch das „Shopping Center“ als neue Baugattung auf den Plan trat. Für das innerstädtische Einkaufen blieb trotz dieser neuen Konkurrenz auf der „grünen Wiese“ das Kaufhaus in der Innenstadt ein Kristallisationspunkt für den Massenkonsum.
Der Konsum hat sich mittlerweile in die Sphäre des Internets verlagert. Viele Einkaufsflächen liegen brach, auch das ehemalige Hortengebäude (Galerie Kaufhof) von Helge Bofinger am Rande des Magniviertels — nur einen Steinwurf von Böhm entfernt —, das als „Hortenstein“ früh die Kritik auf sich gezogen hatte. Wie andernorts führte diese Kritik alsbald zu einem Umdenken – in Braunschweig, als das Versandunternehmen Neckermann seine innerstädtischen Verkaufsflächen in direkter Nachbarschaft des historischen Gewandhauses auf einer Bruttogeschossfläche von rund 18.000 Quadratmeter zusammenlegen wollte. Durch Intervention der kommunalen Stadtplanung rief der Bauherr einen auf vier Architekturbüros beschränken Wettbewerb aus, der zu einem die Baumassen in das sensible Gefüge integrieren und zwischen Alt und Neu vermitteln sollte.
Expressives Lehrstück

Gleichzeitig expressiv-eigenständig und ortsgebunden. Die Komplexität von Böhms Entwurf erschöpft sich nicht in schrägen Ebenen in der Fassade, sondern in einem vielfältigen Spiel mit Gauben, Fenstern und Attika. (Bild: Olaf Gisbertz)
An dem Wettbewerb nahmen mit Gottfried Böhm, Friedrich Wilhelm Kraemer, Freiherr von Branca und Dieter Oesterlen führende Architekturbüros aus Deutschland teil. Skurril wirkt der Entwurf von Gottfried Böhm, der schließlich den Zuschlag erhielt. Fassaden und Dachflächen sind mit nur 2 Millimeter dünnen Bleiblechplatten auf einer hinterlüfteten Stahlkonstruktion verkleidet, die ihrerseits eine zusätzliche Wärmedämmung erlaubte. Heute wirkt diese Fassade aus energetischen Gründen überraschend modern. Um so ungewöhnlicher erscheint die äußere Erscheinung, die traditionelle Fassadenmodi konterkariert, wobei einzelne Vor- und Rücksprünge oder Dach- und Fenstergauben der Fassade einen abwechslungsreichen Rhythmus verleihen. Ortsgebunden präsentierten sich die anderen Wettbewerbsbeiträge zwar auch, führten sie doch Geschosshöhen und Traufabstände der altstädtischen historischen Bebauung fort. Doch kein anderer Beitrag erreichte den expressiven Ausdruck von Gottfried Böhms Entwurf, auch wenn seine ursprüngliche Planung nicht vollkommen 1:1 zu realisieren war. Die Presse bezeichnete den gesamten Wettbewerb letztlich als „Rettungsunternehmen“ und zugleich „Lehrstück“, um der Maßstabslosigkeit der Kaufhauskonzerne Einhalt zu gebieten und den Maßstab im Massenkonsum zu disziplinieren.
Schon 1978 hatte der junge Vittorio Lampugnani zu einer weithin beachteten Tagung eingeladen, um den Begriff der Maßstäblichkeit im Städtebau der Zeit zu diskutieren. Dieses Unterfangen erschien den Teilnehmenden, unter anderem aus Architektur, Stadtplanung und Soziologie – Hanns Adrian, Hans-Paul Bahrdt, Frei Otto oder Bruno Zevi – allerdings schon damals wenig erfolgsversprechend, war der Begriff doch kaum präzise zu fassen oder zu definieren. In den publizierten Tagungsunterlagen findet man aber auch einen Hinweis, der sich noch heute als Ausblick auf die aktuelle Diskussion um die Weiternutzung dieser Großstrukturen verstehen lässt: „Der menschliche Maßstab in der Architektur ist nicht, wie auf den ersten Blick erscheinen könnte, ein Begriff, der in unmittelbarem Zusammenhang mit baulichen Größenordnungen steht; auch nicht unmittelbar mit Proportionen, Stellungsverhältnissen oder menschlichen Maßen. (…) Die Maßstäblichkeit muss vornehmlich in anderen Parametern gesucht werden: nämlich in dem Grad, in welchem die Benutzer sich Architektur aneignen können. Diese Aneignung kann sowohl physisch (durch materielle Eingriffe in die gebaute Umwelt) als auch psychologisch sein; immer beinhaltet sie jedoch Benutzung, Identifikation, Verständnis, Annahmen, kurz Lebbarkeit des Gebauten. Die praktische Funktion (psychische Nutzung), bislang oft als einseitig determinierend angesehen, muß zusammen mit der Erfüllung psychischer Bedürfnisse der Benutzer zu baukünstlerischer Qualität verschmelzen.“
Braunschweig ohne Böhm?
Aber muss man mit einem solchem Plädoyer für ein Weiterbauen im Gepäck gleich ein ganzes Haus aufgeben, ohne sich der denkmalwürdigen Bauelemente – zumindest der Fassade, da einzigartig im Kaufausbau der Spätmoderne – zu versichern? Schließlich handelt es sich doch schlichtweg um einen „echten Böhm“, ein spätes Meisterwerk des jungen Bauerbes in Deutschland. Schon 2015 hatte die Initiative „Achtung modern!“, ein Netzwerkverbund mehrerer lokaler Initiativen der Baukultur im Braunschweiger Land, auf dessen Qualitäten hingewiesen – damals noch im vollen Kaufhausbetrieb des Karstadtkonzerns. Andernorts werden Böhms Werke bis heute gefeiert, nur Braunschweig schlägt den Hochkaräter als bauliches Erbe aus. Böhms Kaufhausfassade hätte mehr Schutz als nur ein modisches Remake verdient.