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Von Betonköpfen und Béton Brut

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Bild: © Alexander Bernhard

Die Liste der vom Abriss bedrohten guten Bauten wird immer länger. Auch in der Nähe von Landshut ist ein Fall akut: Die Realschule von Vilsbiburg soll einem Neubau weichen. Die Entscheidung steht, obwohl die Argumente immer deutlicher gegen einen Neubau sprechen. Doch gerade weil diese Argumente anscheinend keine große Rolle spielen, sollte an ihnen festgehalten werden.

Eigentlich ist die Sache eindeutig. Abbruch und Neubau: etwa 20.000 Kubikmeter Bodenaushub, um die 14.000 Kubikmeter Beton und 2500 Tonnen Kohlendioxid sowie etwa 4000 LkW-Ladungen, das alles bezogen auf den Rohbau. Um bis zu sechs Quadratmeter kleinere Klassenzimmer. Wahrscheinliche Vergabe an große überregionale Firmen. Bei einer Sanierung und Erweiterung (idealerweise in Bauabschnitten) hätten hingegen ortsansässige, kleinere Firmen eine Chance. Es würden nur an Bodenaushub etwa 600, an Beton circa 500 Kubikmeter Beton und an Holz um die 600 Kubikmeter anfallen, der Kohlendioxidausstoß läge voraussichtlich bei 285 Tonnen, die Lkw-Ladungen werden auf 232 geschätzt. Dennoch wird an der Entscheidung für den Neubau festgehalten.

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Gemeinschaftsbildender Raum: Die Aula der Realschule von Vilsbiburg. (Bild: ©Alexander Bernhard)

Die Rede ist von der Realschule in Vilsbiburg im Landkreis Landshut, etwa hundert Kilometer von München entfernt. Dem ein oder anderen mag auf den Seiten des BDA Bayern, auf den einschlägigen Vernetzungs-Plattformen oder über die Petition zum Erhalt der Schule das Bild deren Aula begegnet sein: ein Prachtexemplar brutalistisch-organischer Baukunst. Von außen ist nicht unbedingt zu vermuten, dass das Innere eine solche Perle birgt.

Unter Denkmalschutz steht die Schule dennoch nicht, weil der ursprüngliche Bau (fertiggestellt 1969, Architekten Josef Winkler und Lothar Friederich) „bereits durch zahlreiche Maßnahmen und bauliche Erweiterungen stark verändert worden ist und somit seinen Quellencharakter und baulichen Zeugniswert für die Zeit Ende der 1960er Jahre verloren hat“,  so der Generalkonservator Mathias Pfeil. Er ergänzt: „Jenseits dieser denkmalfachlichen Einschätzung wäre jedoch aus unserer Sicht die Integration der Aula in einen neuen Baukörper sicherlich eine Option.“ (1) Seit 1978 war die Schule mehrmals erweitert worden.

Doch gehen Qualitäten der Schule über diesen wunderbaren Raum der Aula hinaus. Auf einer Veranstaltung des BDA Regensburg-Niederbayern-Oberpfalz am 16. Januar hat die an der OTH Regensburg lehrende Elke Nagel, ausgewiesene Fachfrau für Denkmalpflege und Bauforschung, die Schule im Kontext der Schuldiskussion der Nachkriegszeit verortet: Wenn auch nicht ganz von der Strahlkraft wie sie Hans Scharoun in Lünen, Günter Behnisch in Göppingen oder Horst Linde mit der Universität Konstanz hervorbrachten, so ist das Vilsbiburger Beispiel doch ein Bau im gleichen Geiste und von außerordentlicher Qualität, die gerade angesichts aktueller Diskurse über alternative Unterrichtsmethoden und den dafür geeigneten Raummodellen nicht unterschätzt werden darf. Es sind Räume, die die Bildung einer Gemeinschaft jenseits derer in den Klassenzimmern unterstützt, in der die scharfen Trennung zwischen innen und außen aufgehoben wird, in der das Lernen auf die Räume jenseits des Klassenzimmers ausgedehnt werden kann. Die Schule von Vilsbiburg lässt es zu, anders zu lehren und zu lernen als es konventionellen Konzepten entspricht.

Erdrückende Beweislage

2020 wurde zum ersten Mal in Zeitungen über den Beschluss zum Abriss und den Bau einer neuen Schule berichtet. Aber noch sind keine unumkehrbaren Fakten geschaffen. Seit Mitte 2023 bemüht sich ein Team aus den Reihen des BDA mit externer Unterstützung (2) um belastbare Argumente, die über die grundsätzlichen Gründe gegen Abriss – Vernichtung grauer Energie, Verlust eines Bauwerks mit architektonischen Qualitäten – hinausgehen. Dieses Team hat auch die am Beginn dieses Textes genannten Zahlen errechnet.

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Ansicht Haupteingang, rechts im Bild eine der späteren Erweiterungen. (Bild: Michael Kühnlein jr.)

So lässt nun auch ein nüchtern-pragmatischer Blick auf die Fakten die Sanierung plausibel erscheinen. Weder die Sanierung der Haustechnik noch die Forderung nach Barrierefreiheit sprechen gegen den Erhalt, so das BDA-Team: Eine Erneuerung der Haustechnik ist in diesem Rahmen und Umfang längst übliches Tagesgeschäft, die Barrierefreiheit muss  gemäß geltender Bauordnung nicht für jeden Raum hergestellt werden. Dort wo sie verlangt wird, kann sie ermöglicht werden. Die Schadstoffe müssen so oder so entsorgt werden – auch hinter diesem Aspekt verbirgt sich kein Argument für den Abriss. Die geforderten zusätzlichen Flächen, in erster Linie für Gruppen und Teamräume, ließen sich bereitstellen, indem man bestehende Bauteile aufstockt.

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Grundriss der Schule direkt nach der Fertigstellung. Im Süden und nach Nordosten hin ist sie mehrfach erweitert worden.

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Über der Turnhalle und den Erweiterungen könnten durch Aufstockungen die erforderlichen zusätzlichen Räume geschaffen werden. (Darstellung für den BDA Arbeitskreis: gerstmeir inić kučera architekten BDA, Thomas Gerstmeir)

Gegenüber der inzwischen vorliegenden Planung für einen Neubau (der an dieser Stelle architektonisch nicht bewertet werden soll) wären im Übrigen nicht nur einige Unterrichtszimmer, sondern auch die Aula um etwa 100 Quadratmeter größer.

Und die Sanierungsbefürworter können auch mit den Kosten argumentieren. Abriss und Neubau würden knapp 90 Mio Euro kosten. Da sich Materialkosten in den letzten Jahren rasant nach oben entwickelt haben, bei einem Erhalt aber genau in diesem Bereich gespart werden kann, könnte eine Sanierung mit Erweiterung durchaus günstiger werden. 2020 waren laut eines Zeitungsberichtes die Kosten für eine Generalsanierung auf 40 Mio Euro geschätzt worden.

In der Veranstaltung vom 16. Januar 2024 wurde zudem mit drei Beispielen anschaulich gemacht, dass selbst unter laufendem Betrieb Schulen in vergleichbarer Ausgangslage Fällen saniert werden können – es waren dies der Umbau und die Erweiterung der Martini-Schule in Freystadt, die Generalsanierung Gymnasium Neustadt an der Waldnaab sowie die Sanierung und der Umbau des Gymnasiums Dinkelsbühl.

Darüber hinaus hat das BDA-Team konkrete Vorschläge für ein weiteres Vorgehen gemacht. So sollte eine Studie die Machbarkeit der Sanierung so konkret untersuchen, dass der Kreistag fundiert entscheiden kann. Fundierte Basis heißt: Beide Varianten wurden in vergleichbarer Tiefe untersucht. Es ist auch noch nicht soweit geplant, dass man öffentliche Mittel in den Sand setzte, wenn man bisher verfolgten Pläne änderte. (3) Im Gegenteil: Die Kosten und Belastungen, die mit Bauschutt, LKW-Fahrten und CO2-Emissionen für die Allgemeinheit verbunden wären, sind noch nicht einmal hinreichend berücksichtigt, vom kulturellen Verlust ganz abgesehen.

Keine Bewegung

Doch bislang ist man offensichtlich von Seiten der öffentlichen Hand nicht bereit, die Entscheidung nochmals zu überdenken. Im vergangenen Herbst war der Gruppe, die sich für die Sanierung einsetzt, der Zutritt zum Gebäude verweigert worden. Sie wollte gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern das Haus in Augenschein nehmen. Kein gutes Zeichen. Auf der Veranstaltung am 16. Januar kam es in der Diskussion stattdessen zu Vorwürfen von Seiten eines Politikers: Die Planer wüssten nicht, worüber sie redeten, die präsentierten Vergleiche zwischen verschiedenen Schulen wäre nicht nachvollziehbar. (4) Schwer nachvollziehbar sind aber auch solcherlei Vorwürfe an sich unentgeltlich Engagierende.

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Das Titelbild der zur Eröffnung 1969 erschienenen Broschüre.

Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, das zu interpretieren. Die wohlwollende ist die, dass Politiker:innen und Verwaltung nicht nur unter Druck stehen, Entscheidungen zu treffen, für die sie sich keine Probleme einhandeln, sondern dafür auch mit den begrenzten Mitteln arbeiten müssen, die ihnen zur Verfügung stehen. Hier stellt sich zum wiederholten Male das Problem einer ausgedünnten Verwaltung, die kaum die Kapazitäten hat, selbst einigermaßen fundiert mit einer derartigen Konfliktlage umzugehen. In diesem Fall ruht die Hoffnung auf Argumenten zugänglichen Politikern, die die Größe haben, auch drei Jahre nach einer Entscheidung nochmals grundsätzliche Erwägungen zuzulassen und die Stimme von Expert:innen gelten zu lassen. So könnten sich Wege der Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort und externen Fachleuten finden lassen, die nicht nur in Vilsbiburg weiterhelfen, sondern auch für vergleichbare Fälle beispielhaft sein könnten.

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Auf der oberen Galerie der Schulaula. Es zeigt sich, dass der räumlichen Qualität auch eine Sorgfalt in der Ausführung und im Detail entspricht. (Bild: @Alexander Bernhard)

Man muss aber wohl noch einen anderen Grund in Erwägung ziehen. Nämlich den, dass hier nicht nur genau die Größe fehlt, nach neuen Erkenntnissen und auch nach drei Jahren eine einmal getroffene Entscheidung zu revidieren. Drei Jahre, in denen die Erkenntnisse über die Problematik von Abriss nicht nur gewachsen sind, sondern auch soweit den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben dürften, dass eine Entscheidung für einen Erhalt auf größeres Verständnis treffen sollte. Diese Größe fehlt aber – nicht obwohl es eine zunehmende Diskussion darüber gibt, dass der Erhalt wichtig ist, sondern weil es sie gibt. Weil die Argumente für den Erhalt einem politischen Spektrum zugeordnet werden, das auch sonst viele der Dinge thematisiert, die nicht so bleiben können, wie es sind – im Sinne eines angemessenen Umgangs mit dem Klimawandel, aber auch im Sinne eines gerechteren Miteinanders. Weil es politischen Gewinn verspricht, Veränderungen abzulehnen, und sei es um den Preis, dass man dafür die Ursachen, die die Veränderungen notwendig machen, bagatellisiert. Weil in einer verunsicherten Gesellschaft die Konstruktion von Feindbildern ein auf lange Sicht untaugliches, aber kurzfristig probates Mittel ist, Macht zu sichern. Weil aus der aktuellen Unzufriedenheit mit der Bundesregierung Kapital zu schlagen ist, wenn man eine gegenteilige Haltung einnimmt. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum Argumente anscheinend keine wesentliche Rolle spielen. Um die Sache scheint es hier ja offensichtlich nicht zu gehen.

Klug wäre es dennoch, weiterhin auf die konkreten Argumente in der konkreten Sache zu setzen. Nur dann, wenn die Entscheidung nicht verdächtigt wird, im Zusammenhang zur politischen Großwetterlage zu stehen, kann man darauf hoffen, dass die Argumente irgendwann auf fruchtbaren Boden treffen, der Sachverstand nicht weiter ignoriert wird und ein Dialog möglich wird. Dann kann man auf die Einsicht hoffen, dass Entscheidungen auch einfach mal auf der Basis von guten Gründen getroffen werden können, ohne dass politisches Lagerdenken eine Rolle spielen muss. Dass nur so das Vertrauen in die Politik wieder gestärkt werden kann. Hoffen wir also weiter.


(1) Schreiben des Generakonservators Mathias Pfeil, Bayrisches Landesamt für Denkmalpflege, an Neumeister & Paringer Architekten BDA (heute bernhard paringer architekten und NEUMEISTER ARCHITEKTUR), das der Redaktion vorliegt und aus dem am Abend des 16. Januar zitiert worden ist.
(2) Diese Gruppe besteht aus:
Michael Kühnlein, Kühnlein Architektur
Thomas Gerstmeir, gerstmeir inić kučera architekten BDA
Thomas Neumeister, NEUMEISTER ARCHITEKTUR
Bert Reiszky, reiszky architekten
Bernhard Englmeier, Architekt
Peter Thammer, R7 Architekten
Unterstützt von Prof. Elke Nagel, Professur für Architektur- und Baugeschichte, OTH Regensburg; Prof. Dietmar Kurapkat, Denkmalpflege und Bauforschung mit den Schwerpunkten Mittelalter und Neuzeit, OTH Regensburg; Prof. Andreas Müsseler, Entwerfen, Konstruieren und digital gestütztes Realisieren, OTH Regensburg; Prof. Andreas Putz, Professur für Neuere Baudenkmalpflege, TUM München
(3) Bislang sind, so das BDA-Team, bezüglich der Architektenleistungen die Leistungsphasen 1-4 beauftragt und freigegeben worden, derzeit wird die 3. Leistungsphase bearbeitet. Diese Aussagen müssen insofern eingeschränkt werden, als sie zwar auf der Kenntnis des ausgeschirebenen Verfahrens beruhen; die tatsächlichen getroffenen Vertragsvereinbarungen sind nicht bekannt.
(4) Beitrag von Mark Kammerbauer auf Linkedin >>>