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Fragen zur Architektur (19): Der Überdruss an Spektakulärem und drängende Probleme sorgen dafür, dass im Diskurs über Architektur die Produktion außergewöhnlicher Sensationen in den Hintergrund tritt. Neues zu produzieren erscheint schon fast zwanghaft. Traditionen, Handwerk und Archetypen haben Konjunktur, nicht als Bilder einer vermeintlich besseren Vergangenheit, sondern als Wissen und Methoden, gegenwärtige Herausforderungen zu meistern. Das Paradox besteht freilich darin, dass man den Verzicht auf Neues dann besonders prominent positioniert, wenn man etwas Neues liefert. Muss das eine Falle sein?


Unter den aktuellen Modeworten von Architekten liegt „Archetyp“ wahrscheinlich wieder weiter vorne als noch vor wenigen Jahren. Daran hat sicher einen Anteil, dass Herzog und de Meuron ihren siegreichen Entwurf für das Berliner Museum des 20. Jahrhunderts als Archetypus bezeichneten; ein Begriff, der bereitwillig in den Berichten über den Entwurf aufgenommen wurde, wenn auch hin und wieder als bespöttelnde Replik, was aber die Wirkungsmacht des Begriffs erst recht bestätigt. (1) Verwirklicht wurde von den Basler Stars ein solcher Archetypus schon vor dieser Wettbewerbsentscheidung – mit dem Schaudepot auf dem Vitracampus, der inzwischen schon auf Wikipedia als „Archetypus“ charakterisiert wird.

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Herzog & de Meuron: Vitra Schaudepot in Weil am Rhein. Bild: Jean-Pierre Dalbéra, flickr.com, CC BY 2.0

Selten kommt ein Begriff wie dieser aus dem Nichts, selten ist der Zeitpunkt für seine neue Attraktivität zufällig. In einem Essay in der aktuellen arch+ reflektiert Wilfried Kuehn die Rolle Aldo Rossis – Lehrer von Herzog und de Meuron (2) – für eine solche Bild- und Begriffspraxis, die auf Marc-Antoine Laugiers Cabane Rustique, auf die Urhütte zurückgeht: „Die Hütte aktualisierte die Typologie-Diskussion der 1960er Jahre, indem sie der zeitgenössisch-progressiven Architektur eine im kollektiven Gedächtnis verankerte elementare Architektur gegenüberstellte. Diese kannte keinen Fortschritt, sondern beharrte darauf, zeitloser Ausdruck einer Haltung zu sein.“ Das Dilemma dabei war und ist, dass die Form, die bei Rossi als emanzipatorisches Projekt gegen die kommerzielle Funktionalisierung der Stadt eingesetzt wurde, sich ihrer Einfachheit wegen leicht als Attitüde der vermeintlichen Zeitlosigkeit aneignen ließ und lässt und dabei das einlöst, wogegen Rossi hoffte, sie in Stellung bringen zu können: die wirtschaftliche Verwertbarkeit. Kuehn weiter: „Sie (die architektonische Form) hat bewirkt, dass die zum Bild gewordene Architektur ohne Bezug zu ihrem Inhalt umso leichter verwendbar wurde.“ (3)

Hoffnung und Sehnsucht, Widerstand und Aufbegehren


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Marc-Antoine Laugier: Essai sur l’architecture, 1755. Frontispiz

Diese Entfremdung von Rossis ursprünglicher Idee ist treffend konstatiert, erklärt den quantitativen Erfolg aber nicht alleine. Auch als weniger ambitioniertes Bild erfüllt die „Hütte“ eine Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist nicht immer eine politische, sondern manchmal vielleicht einfach nur eine entlastende. Hinter der Hoffnung, auf eine Architektur zeitloser Gültigkeit steht auch die Hoffnung, in einer Ordnung aufgehoben zu sein, die den Dingen im Leben ihren Platz zuweist und in deren Rahmen Architektur selbstverständliches, ordnendes Mittel des Alltags ist. Daraus erwächst eine Selbstverständlichkeit, die gute Architektur von den als eher hilflos anmutenden Gestaltungsbemühungen und dem Kämpfen um Aufmerksamkeit abhebt. Es ist die Idee davon, dass der Mensch eingebettet ist in eine Ordnung, in eine zumindest potenziell mögliche, richtige Welt. Architektur dient dieser Ordnung, aber sie ist auch Teil dieser Ordnung. Es entsteht durch die Architektur erst das Ganze, in ihr erfüllt sich die Ordnung, die sie sichtbar macht. Die Aufgabe des Architekten ist es demnach, diese Wahrheit freizulegen, ihr zur Wirksamkeit und Wirklichkeit zu verhelfen. Sie entbindet ihn von der Notwendigkeit, originell sein zu müssen. Diese Sehnsucht ist nicht neu, sie lässt sich in der Idealisierung des Edlen Wilden ebenso wieder finden wie bei Adolf Loos, der den Bauern als zumindest auf dem Land überlegenen Baumeister bezeichnet. Die Häuser der Bauern, so Loos, sind „nicht von ihnen, sondern von gott gemacht worden.“ Und weiter: „Er (der Bauer) hat für sich und die seinen und sein vieh ein haus errichten wollen, und das ist ihm gelungen. (…) Wie es jedem tier gelingt, das sich von seinen instinkten leiten lässt. Ist das haus schön? Ja, genau so schön ist es, wie es die rose oder die distel, das pferd und die kuh sind.“ (4)
Es ist aufschlussreich, sowohl den Befund von Wilfried Kuehn als auch die Faszination am vermeintlich Ursprünglichen auf andere Texte zu beziehen, die sich in der erwähnten Ausgabe der arch+ finden lassen. Etwa den von Dietmar Steiner. Er konstatiert: „Die Entwicklung der autochthonen Architekturen ist ein zunehmend wichtiges Feld der Auseinandersetzung. In China bildete sich in den letzten Jahren eine vehemente Gegenbewegung zum vorherrschenden Internationalismus der industriellen Urbanisierung heraus. (…) Diese autochthonen Bewegungen mit ihren regionalen kulturellen Eigenheiten finden sich fast überall auf der Welt, sei es in Flandern, Südtirol, Slowenien und Kroatien, in Schweizer Bergtälern oder in Chile und anderen südamerikanischen Ländern.“ Ihnen allen sei „der Widerstand gegen die globale Bauindustrie gemeinsam.“ (5) Auch hier wird also eine politische Dimension vermutet, erhofft, konstatiert. Auch das klingt bekannt.

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Jørn Utzon: Bagsværd-Kirche in Kopenhagen (1976). Für Kenneth Frampton ein Beispiel dessen, was er unter kritischen Regionalismus verstand.
Bild: Troels Eske, wikimedia commons, CC-BY-SA-3.0

Schon in den 1980ern war das Bauen im Tessin eines Luigi Snozzi, eines Mario Botta oder eines heute kaum noch bekannten Tito Carloni und anderen in einem Buch mit dem Titel „Architektur des Aufbegehrens“ (6) veröffentlicht worden, war etwa von Kenneth Frampton der „kritische Regionalismus“ als Architektur des Widerstands charakterisiert worden, als Widerstand gegen die Herrschaft einer universalen Technologie. (7) Zur Qualität des Regionalen gehöre, so Frampton, sich einer Reduktion auf rein visuelle Qualitäten zu verweigern. Sie lasse sich körperlich erfahren und schließe dabei die Akustik, den Geruchsinn und haptische Qualitäten ein. Auch die autochthonen Traditionen, auf die sich Architekten laut Steiner berufen, sind ja gerade solche des Handwerklichen. Jungen Architektinnen und Architekten empfiehlt Steiner, hinaus zu gehen auf die „Baustelle der konkreten Entscheidungen.“


Vom Bedarf nach Erneuerung

Allein die Machenschaften einer Bauindustrielobby reichen aber, so fürchte ich, nicht aus, um eine Rückbesinnung auf das (vermeintlich) Zeitlose wieder neu als eine politische Botschaft zu lesen oder zu interpretieren. In Bezug auf die Urhütte, das Nachdenken über ihren Ursprung und ihre Bedeutung, schrieb Joseph Rykwert: „Diese Spekulationen nehmen zu, sobald der Bedarf nach einer Erneuerung der Architektur verspürt wird.“ (8)
Der Bedarf nach Erneuerung wächst auch derzeit augenscheinlich durch das Unbehagen an der bestehenden Praxis. Diese ist ökologisch gefährlich: vom anhaltenden Ressourcen- und Flächenverbrauch, dem enormen Bedarf an Sand für Beton über die Vernichtung der in bestehenden Gebäuden gespeicherten Energie, wenn man sie abreisst, bis zum Energiebedarf beim Betrieb. Sie wirkt sozial problematisch, wie es etwa an der aktuellen Wohnbau- und Gentrifizierungsdiskussion festzustellen ist. Anders als in den 1970ern lässt sich aber nicht der spröde Bauwirtschaftsfunktionalismus als Hauptgegner ausmachen, gegen den sich Handwerk und Archetypen in Stellung bringen ließen. Statt einer ästhetisch verarmten Umwelt ist eher die Sensationslust das Dilemma: Signature Buildings und Stararchitektentum einerseits, Rekonstruktionsfassaden über Tiefgaragen und vor Kaufhäusern andererseits – zwei Seiten einer hohl wirkenden Oberflächlichkeit des Pseudoavantgardistischen auf der einen, der biederen und eskapistischen Heimeligkeit auf der anderen. Beides wurde zur Genüge diskutiert und kritisiert, ohne dass sich etwas an dem geändert hätte, was diese Symptome hervorgerufen hat – die normative Verpflichtung zum Neuen, ein die Gesellschaft dicht durchdringendes „Kreativitätsdispositiv“, wie es Andreas Reckwitz nennt: „Die Besonderheit des Kreativitätsdispositivs besteht darin, dass es eine Ästhetisierung forciert, die auf die Produktion und Rezeption von neuen ästhetischen Ereignissen ausgerichtet ist.“ (9) Reckwitz spricht von einem „ästhetischen Kapitalismus“, und der sei gekennzeichnet durch Tätigkeiten, „in denen die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (…) vor einem an Originalität und Überraschung interessierten Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist.“ (10) Kreativität ist keine erfüllende und befreiende Selbstverwirklichung mehr, in der der Mensch zu sich selbst finden könnte, sondern zu einer normativen Belastung geworden: Man muss kreativ sein. Die Frage, was Architektur denn sonst noch zu bieten hat außer ästhetischer Gaumenkitzelei, stellt sich zu recht.

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Lehmwand – Ausschnitt aus dem Beitrag von Anna Heringer auf der Architekturbiennale in Venedig 2016. Bild: Christian Holl

Das Neue im Alten

Paradox freilich, dass gerade die Verweigerung des Neuen als neu empfunden werden kann. Ein Museum – um wieder Herzog & de Meurons Berliner Museums-Entwurf aufzugreifen – in der Kubatur von Speicher, Scheune, Festzelt, Markthalle, als bedeutungsoffener Funktionsbau, der (so hoffen wir) durch eine raffinierte Materialisierung geadelt wird, ist zumindest als Neubau eine außergewöhnliche Besonderheit. Man fällt manchmal erst dadurch auf, dass man nicht um jeden Preis auffallen will. Dieses Paradoxon entbehrt nicht der Ironie, ist aber kaum zu umschiffen, solange mit Architektur der Anspruch verbunden ist, sie in einen Diskurs einzuspeisen, an ihr etwas zu debattieren, das über Einzelbauwerke hinausweist und Praxis, Routine und Alltag des Bauens in Frage stellt. Nicht über jedes Haus muss diskutiert werden – es ist unstrittig, dass viel gewonnen wird, wenn ein einzelnes Haus keinen monströsen ökologischen Fußabdruck hat, wenn es eine würdige Heimat für die bietet, die es schwer haben, eine zu finden, wenn sie soziales Engagement aktiviert. Aber nötig ist es eben doch: dass Architektur im Besonderen den Anlass bietet, darüber zu reden, was Architektur im Allgemeinen leisten kann. Sie kann darin eben auch darüber Auskunft geben, welche Fehler begangen werden und wie man sie vermeiden kann. Darüber, ob dieser Anspruch gestellt wird, entscheiden weder Architekt noch Bauherr alleine, will heißen: Man kann Architektur nicht dem Diskurs durch die Entscheidung des Einzelnen entziehen, schon gar nicht bei öffentlichen Bauaufgaben. Es bleibt also kaum etwas anderes übrig, als sich damit auseinanderzusetzen, dass das Neue eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, zur Kenntnis genommen zu werden.

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„Politisch gescheitert, weil es wirtschaftlich erfolgreich war“, so Wilfried Kuehn über Aldo Rossis Berliner Stadtblock Schützenstraße.
Bild: Jörg Zägel, wikimedia commons, CC-BY-SA-3.0

So gut es gemeint ist, die junge Architektenschaft auf die „Baustelle der konkreten Entscheidungen“ (Steiner) zu schicken, so wenig ist damit getan, wenn darüber nicht zu einem Thema der Diskussion wird, wie wir bauen sollen. Damit könnte man zum Schluss kommen, dass den aktuellen Bewegungen des Aufbegehrens und Widerstands, wenn man sie so nennen will, ein ähnliches Schicksal wie den oben erwähnten der 1970er- und 1980er-Jahre bevorsteht: nämlich zu scheitern. Also: entweder nicht zur Kenntnis genommen zu werden oder im neu-gierigen Kulturbetrieb aufgerieben zu werden, als exotische Sonderheit verbrannt zu werden oder als neuer Schick oberflächlich zu werden. Doch das ist nicht zwangsläufig – das ist es nur dann, wenn man der Versuchung erliegt, Architektur mit dem, was sie zum Ausdruck bringt, kurzzuschalten: Wenn man meint, Politik damit zu machen, dass man politische Botschaften verbreitet. Die Bedeutung, die Interpretation, die man Architektur zuschreibt, ist wandelbar, die mit ihr verbundenen Absichten können durch unreflektierte Übernahme pervertiert werden und zur verkaufsfördernden Oberfläche degenerieren. Die politische Aussage, die ursprünglich damit gemacht wurde, kann aber nur dann davon entwertet werden, wenn man Aussage und Handlung gleichsetzt. Das, was politisch notwendig umzusetzen ist, kann nicht allein durch Architektur geleistet werden – Architekten können eine ästhetische Präsenz dafür schaffen, die die Notwendigkeit solcher Umsetzung artikuliert. Wäre es nicht etwas Neues, wenn Architekten deutlich zum Ausdruck bringen, dass ihre Gebäude darin politisch sind, dass sie Politik nicht ersetzen sollen?


(1) Etwa Marc Jondi in der FAZ oder Jochen Stöckmann auf Stylepark
(2) Philip Ursprung: Genealogie – Aldo Rossi und Herzog  &  de Meuron, tec 21, 2012/2105 >>>
(3) Wilfried Kuehn: Aldologien – Rossi, die Schweiz und wir. In: arch+ 229, Aachen 2017, S. 46–53, hier S. 53
(4) Adolf Loos: Architektur (1910), in: ders. Sämtliche Schriften, Band 1, Wien/München, 1962, S. 302–318, hier S. 302
(5) Dietmar Steiner: Die Zukunft der Architektur. In: arch+ 229, Aachen 2017, S. 88–91, hier S. 91
(6) Dieter Bachmann, Gerardo Zanetti: Architektur des Aufbegehrens. Bauen im Tessin. Basel 1985. Das Buch bezieht sich dezidiert auf ein monografisches Bauwelt-Heft vom Oktober 1980, das Frank R. Werner verantwortet hatte und den Titel „Lieder, die man nicht erwartet“ trug.
(7) Kenneth Frampton: Kritischer Regionalismus – Thesen zu einer Architektur des Widerstands. In: Andreas Huyssen (Hg.). Postmoderne : Zeichen eines kulturellen Wandels. Hamburg, 1986, S. 151–171
(8) Joseph Rykwert: Adams Haus im Paradies. Die Urhütte von der Antike bis Le Corbusier. Berlin 2005, S. 171. (Englische Erstausgabe 1972)
(9) Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt am Main 2012, S. 20
(10) ebd., S. 11