Sie gehört in fast jedem Architekturbüro zur Grundausstattung und leistet Studierenden gute Dienste: Die Bauentwurfslehre von Ernst Neufert. Sie steht in engem Bezug zur Bauhausgeschichte – und findet dennoch auch im großen Jubeljahr kaum Erwähnung. Das ist kein Zufall. Denn sie rüttelt am sorgfältig gepflegten Bauhaus-Image ebenso wie am Selbstbild von Architektinnen und Architekten.
Zurzeit überbieten sich Feuilleton und Kunstinstitutionen anlässlich der Gründung der berühmten Reform-Kunstschule in Weimar vor hundert Jahren mit immer neuen Veröffentlichungen, Ausstellungen und Veranstaltungen, die nach Gegenwartsbezug klingen. Man könnte das Motto dieser Brauchtumspflege etwas überspitzt in einer Frage zusammenfassen: Was kann und soll uns die alte Tante Bauhaus heute noch lehren? Ein veritabler Wettstreit um neue Museumsbauten für die Sammlungen an den drei historischen Standorten des Bauhauses – Weimar, Dessau und Berlin – geht folglich in diesem Jahr seinem Finale entgegen, ja, er wurde durch eine Neugründung mit einer Bauhaus-orientierten Sammlung im chinesischen Hangzhou sogar noch belebt.
Ein einflussreiches Denkmal
Und doch machte Nikolaus Bernau, Architekturkritiker der „Berliner Zeitung“, unlängst mitten im Fortgang der laufenden Bauhaus-Weihespiele eine erstaunliche Bemerkung: Das „einflussreichste Denkmal“ des Bauhauses sei weder das metallene Gestühl Marcel Breuers, noch die zur Ikone stilisierte Lampe von Carl Jacob Jucker und Wilhelm Wagenfeld, weder Oskar Schlemmers Triadisches Ballett, noch Hannes Meyers Baukunst für die proletarischen Massen, sondern ein Buch der Architekturpraxis: Ernst Neuferts Bauentwurfslehre. (1)
Man mag diese Zuspitzung zunächst als publizistische Strategie abtun, um für den reichlich abgedroschenen Gegenstand Bauhausjubiläum doch noch etwas Aufmerksamkeit zu erhalten. Viele weitere Entdeckungen „bisher unbeachtet gebliebener“ Marginalien durch immer neue Bauhaus-Bezüge in den verschiedensten Provinzen der Welt illustrieren diesen Verdacht ausreichend. Dennoch hat der Gedanke von Nikolaus Bernau etwas für sich. Während das Bauhaus mindestens in der Architektur schon seit Jahrzehnten zu einem verblassten Sammelbegriff für allerlei Stilzitate verkommen ist, auf die bis heute gehobene Wohnprojekte im Speckgürtel wie Tapetenmarken gern Bezug nehmen, scheint ausgerechnet dieses Buch merkwürdig alterslos geblieben.
Wie kommt Bernau auf diesen Neufert-Gedanken? Was ist das für ein besonderes Bauhaus-Monument, das noch heute zur manchmal schamhaft versteckten literarischen Grundausstattung von Architekturbüros zwischen Buenos Aires, Istanbul, Shanghai und Tokyo zählt? Und: Was hat dieses Buch, das ja erst drei Jahre, nachdem das NS-Regime die Schule geschlossen hatte, auf den deutschen Büchermarkt kam und eigentlich einen Langtitel von fast barockem Format trägt, überhaupt mit dem Bauhaus zu tun? (2)
Die Bibel des Funktionalismus
Zunächst ist die Monumentalisierung des Buches vergleichsweise neu: Ernst Neufert wurde mit seinem bekanntesten Werk schon in den Veröffentlichungen von Architekturhistorikern wie Wolfgang Voigt als „Vitruv der Moderne“, (3) oder von Walter Prigge als der „einflussreichste Architekt“ des vergangenen Jahrhunderts gewürdigt. (4) Der von diesen Autoren erstmals konstatierte Einfluss der Bauentwurfslehre gründete ihrer Meinung nach vor allem in der globalen Verbreitung dieser Bibel des Funktionalismus. Sie vermittelt bekanntlich in einer abstrahierten, schematisierten Bildsprache unter Verzicht auf unnötigen Text und fotografisch dokumentierte Baudokumentation streng rationale Gestaltungselemente, sie lieferte einen „bauwissenschaftlichen Anschauungsunterricht“. (5)
Die im Buch verhandelte Hauptfrage ist stets: Wie viel Platz braucht ein Mensch? Mindestens am Waschbecken, im Aufzug, wie klein kann eine Küche oder ein Kino- oder Restaurantplatz noch sein, ohne unbequem zu werden? Auf alle diese Fragen finden sich im Buch schnelle Antworten und die erforderlichen Maßangaben. Dies gelingt auch durch knappe, abstrahierte Illustrationen der jeweiligen üblichen räumlichen Elemente ohne störenden Langtext, unter Berücksichtigung aktueller Normen und Regelwerke, sei es im Schulbau, auf dem Flug- oder Golfplatz, Bahn- oder Friedhof.
„Der Neufert“, wie er in Deutschland gern verkürzt genannt wird, ist vermutlich das seit seiner Erstauflage am besten verkaufte, deutschsprachige Architektur-Handbuch des letzten Jahrhunderts. Sein Autor war zu Zeiten von Walter Gropius kurz am Weimarer Bauhaus, ja er leitete die Baustelle des heute weltbekannten Schulbaus in Dessau. Er teilt etwa mit Vignola das Schicksal vieler Architektur-Handbücher seit dem 18. Jahrhundert, deren Autorenname zum Titel mutierte, oder gar zum Markenzeichen wurde, wie weiland Konrad Duden in der deutschen Rechtschreibung. Der 1986 verstorbene Verfasser überarbeitete und erlebte selbst 32 deutsche Auflagen seines Bestsellers. Unlängst erschien die 42. überarbeitete deutsche Neuauflage. (6) In 22 Sprachen übersetzt ist es spätestens mit der chinesischen Ausgabe ein globales Buch geworden, das in allen Weltsprachen übertragen aber stets gleich illustriert erhältlich ist. (7)
So einprägsam war das Buch offenbar, dass die Bauwelt 1960 die Anekdote kolportierte, dass man in Spanien zuerst fälschlicherweise annahm, dass „ich neufere, du neuferst usw.“ ein synonymisches Verb für Entwerfen im Deutschen sei. (8)
Kein Einfluss?
Allerdings liegt das Problem der Behauptung vom angeblich großen Einfluss darin, dass gar nicht so leicht zu sagen ist, was diesen diffusen Einfluss eines Buchs, eines Werks oder einer Person – nicht nur im Falle Neuferts – ausmacht. Wie wirkt der „moderne Vitruv“ mit seinem Standardwerk auf seine Leserinnen und Leser? Fragt man Architektinnen und Architekten welchen Einfluss Neuferts auf ihr Werk habe, so lautet die Antwort häufig: Gar keinen. Welchen Effekt zeitigte dann aber ein Entwurfslehrbuch bei seinen Fachleserinnen und Lesern? Warum kaufen und gebrauchen sie ein stets teures Buch dann überhaupt?
Lässt sich im historischen Rückblick vielleicht ein kausaler Beweis rekonstruieren? Welche Wirkungen wären dann zu welcher Zeit beschreibbar? Diese Fragen sind durchaus jenseits der theoretischen Spezialistik relevant, denn die Reaktion auf Handbücher war schon lange vor Neuferts Bauentwurfslehre in der planenden Zunft seit dem 19. Jahrhundert – nachzulesen etwa bei Gottfried Semper – einerseits von Skepsis hinsichtlich ihrer Wirkung als nachzuahmende Vorlage auf das Bau-Kunstwerk geprägt. (9) Andererseits waren diese Handbücher aber auch willkommene Orientierungshilfen in den alltäglichen Entwurfsroutinen. So wurden die sich stetig vermehrenden Elemente eines komplexer werdenden Fachwissens seit dem 19. Jahrhundert bis heute gern mit der Metapher der „Flut“ an entwurfsrelevanten Informationen beschrieben, die zu bewältigen und zu sortieren nicht mehr von einem Einzelnen sinnvoll zu leisten sei. Wie baut man etwa einen Bahnhof? Diese Frage ließ sich selbst im spezialisierten Entwurfsbüro nicht mehr „am Zeichentisch“ in mündlicher oder bildlicher Überlieferung vom Meister zum Schüler lösen.
Neuferts Verdienst war, dass er nun die oft als zentral beschriebene Kompetenz der Architekten, den Entwurf, durch die Zerlegung in Entwurfsoperationen unter Beachtung des aktuellsten Standes des Wissens für jeden schnell handhabbar machte. Freilich wurde dies von Architekten, die sich lieber in der Rolle des divinatorischen Künstlers als in der eines Kopisten, Betriebsingenieurs oder Grundrissdienstleisters sehen wollten, stets kulturkritisch beäugt. Lange vor Neufert wetterte Adolf Loos bereits 1910 über die „Unzahl von geschickten Verlegerpublikationen“, er meinte damit Vorlagenwerke, sie hätten „vergiftend auf die Stadtkultur gewirkt… “ (10). Und in den 1970er Jahren noch zu Lebzeiten Neuferts nannte Horst Rittel die Bauentwurfslehre als ein Beispiel für „Phantasiemörder“, da „Lösungssammlungen“, die ja eigentlich nur als Anregung gedacht seien, stets Gefahr liefen die unkritische Nachahmung zu begünstigen. (11)
Neufert und das Bauhaus
Aber was hatte Neuferts Buch überhaupt mit dem „Bauhaus“ zu tun? Eine gute Frage, wenn man bedenkt, dass die Bauentwurfslehre mitten im Dritten Reich erschienen ist und Neufert anschließend eine glänzende Karriere im Planungsstab Albert Speers für die Reichshauptstadt Berlin machen konnte, ohne je seine „Herkunft“ vom Bauhaus zu leugnen.
Ernst Neufert war nach Lehre und Baugewerkeschule einer der ersten Studierenden der eben erst gegründeten Schule in Weimar. Allerdings berichtet er selbst später kritisch von einer stets sichtbaren Diskrepanz zwischen programmatischem Anspruch und Wirklichkeit in der Planung und Realisierung von Bauten in jenen frühen Bauhaus-Tagen. Einerseits klang das Bauhaus-Programm hoffnungsfroh und visionär in das materielle wie geistige Elend der Nachkriegszeit. Die radikale Reform der künstlerischen Bildung bis zu einer erhofften Vereinigung der Künste mit dem Ziel, ein großes Gesamtkunstwerk in einem Bau zu schaffen, war ja anfänglich angekündigt. Neufert schien da, wie er selbst behauptete, genau der richtige Mann zu sein, auf den der charismatische Bauhaus-Direktor wartete. Unverbildet durch akademische Umwege, war er talentierter Absolvent der Baugewerkeschule Weimar, deren Direktor Paul Klopfer in zu Gropius empfahl.
Doch fand zu Neuferts großem Bedauern am Weimarer Bauhaus zunächst kein geregelter Unterricht statt und die wenigen Kommilitonen langweilten sich bald so, dass sie entweder die Schule verließen oder, wie Neufert, gleich in das Baubüro von Gropius wechselten. Im Büroalltag hatte er erkannt, dass zwischen den vielen, von Gropius stets hart im Wind des Zeitgeistes segelnde Themen, wie Industrialisierung und Rationalisierung des Wohnungsbaus einerseits, und der tatsächlich chaotischen Büroorganisation sowie den unzureichend betreuten Baustellen andererseits eine schwer zu überwindende Diskrepanz herrschte. Während Gropius wenig später vom Architekten als „allumfassendem Organisator“ träumte, der „alle wissenschaftlichen, sozialen, technischen, wirtschaftlichen und gestalterischen Probleme in einem Kopf zu sammeln und in gemeinsamer Arbeit mit zahlreichen Spezialisten und Arbeitern planvoll zu einem einheitlichen Werk zu verschmelzen hat“ (12), dachte Neufert anders: Selbst inzwischen Hochschullehrer, definierte er die Rolle des Architekten neu, nämlich jenseits des individuellen Zusammendenkers als Organisator schon auf der Ebene der früheren künstlerischen Kernkompetenz – dem Entwurf –, und das unter Zuhilfenahme aktueller betriebswissenschaftlicher Literatur.
Hier liegt wohl ein Kern des von Bernau konstatierten wahren Bauhaus-Vermächtnisses: Die Durchdringung und Vernetzung aller Lebens- und Arbeitsbereiche der modernen Welt durch ökonomisch orientierte Effizienz und Organisation. Eine Durchdringung, die sich nicht unbedingt in den neuen Bauformen selbst spiegeln musste, sondern beispielsweise viel mehr in einem Buch wie jenem der Bauentwurfslehre repräsentiert sein kann. Damit wird das Bauhaus auch zum ungeliebten Denkmal, denn es erinnert täglich daran, dass Effizienz- und Organisationsstrategien nicht auf einzelne – auch noch so brillante künstlerische – Köpfe angewiesen sind. Dieses Vermächtnis lebt bis heute fort; und das Bauhaus war in dieser Geschichte nur eine besonders farbenfrohe Episode.