Stilkritik (58) | Wird alles immer nur schlechter, wenn man Architektur gründlich verändert? Oder wird es nur anders? Und birgt damit vielleicht die Chance, dass das Gebaute auf neue Herausforderungen reagiert und der Gesellschaft dient? Zum Beispiel: Bahnhöfe.
Wir Architekturschreiber sind im Grunde unseres Herzens konservative Leute. Selbst wenn wir uns für Avantgardistisches begeistern können, hängen wir am alten Gemäuer. Geschichte beginnt eben in der Gegenwart, denn zu gerne wird mühsam Errichtetes (und Finanziertes) beiseite geräumt, weil architekturfernes Marketing eine andere wirtschaftliche Nutzung ratsam erscheinen lässt. Wir erinnern uns der brachialen Eingriffe in unsere Städte, als man im schönsten Wirtschaftswunder bescheidenen Fachwerkhäuschen das Erdgeschoss amputierte und unter einem brutalen Unterzug maßstabssprengende Schaufenster einsetzte. Und dies war erst der Anfang, das Verwertungsprinzip hat ohne Unterlass elegant konstruierte Tankstellen, mondäne Kinosäle und bergende Zellenbüros vernichtet. Es ging voran, Umsatz wird gemacht.
5500 Bahnhöfe
Opfer dieser operativen Eingriffe sind seit einigen Jahren auch die Bahnhöfe in den Großstädten. Einstmals als Kathedralen der Technik und Drehscheiben der Mobilität gefeiert, werden ihre nutzlos gewordenen Räume zu Einkaufsfilialen umgebaut. Supermalls mit Gleisanschluss schwadroniert die Werbung der Investoren. Leipzig, München und Hamburg sind die erfolgreichen Beispiele für Gastronomie und Einzelhandel an der Bahnsteigkante. Die 25 größten Bahnhöfe bringen der Deutschen Bahn die Hälfte ihres Mietumsatzes, und wir Architekten und Eisenbahnfreunde trauern um geschredderte Wartesäle und demontierte Stellwerke.
Doch gemach. Alles, was individuelle Mobilität ersetzt, gilt es zu unterstützen. 16 Millionen Menschen pendeln täglich und passieren einen Bahnhof. Wenn sie dort auch ihre Einkäufe auf dem Weg von der Arbeit erledigen können, ist das ein sinnvoller Beitrag zur Energieeinsparung, die bisweilen zweifelhaften Architektureingriffe lindert das zwar nicht.
Aber es geht nicht um Großstädte. 5500 Bahnstationen gibt es bundesweit. Wenn man mit dem Zug aus dem Pfälzer Wald die Strecke entlang von Saar und Mosel fährt, passiert man zahllose Haltepunkte, die ehemals Bahnhöfe hießen. Inzwischen sind es verrammelte Ruinen, denen man schon jahrzehntelang durch unsachgemäße Instandhaltung Leid angetan hat. Am maroden Bahnsteig steht ein Fahrkartenautomat, eine elektronische Anzeige registriert die obligaten Verspätungen als letzte Lebenszeichen. Durch die mit Taubendreck verkleckerten Fenster sieht man vielleicht in ein Baustofflager oder auf die versifften Matratzen einer illegalen Zwischennutzung. Die Gebäude selbst lassen sich noch in Klassizismus oder Gründerzeit datieren. Bei jedem einzelnem wüsste man, was ihm gut täte, sicher rentiert sich kein Kiosk, in dem bloß Schulkinder Snickers und Knoppers kaufen. Es bedarf eines Konzeptes mit individuellen Lösungen, bevor die ratlosen Gemeinden zusehen, wie die Bahn den meistbietenden Interessenten ihre Immobilien verscherbelt.
Wäre das nichts für unseren neuen Heimat-Bau-Minister? Traditionelle Architektur als Stützpunkte nachhaltiger Mobilitätskonzepte? Seehofer, übernehmen Sie!