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Bild: Christian Holl

Der Alltag — Orientierung und Maßstab in der Architekturgeschichte? Teil 2: Von der Schwierigkeit, über Architektur und Alltag zu sprechen, handelte der erste Teil (>>>) – nun wird in den Blick genommen, wie die abstrakten architektonischen Ausdrucksweisen mit dem Alltag und der Realität in Verbindung gebracht werden sollten. Das Verhältnis Architektur und Alltag wurde damit erst recht prekär.


Am 9. Februar 2018 fand im Deutschen Architekturmuseum das Symposium „Grau, bunt schwarz-weiß? – Der Alltag der Architektur“ statt – eine Veranstaltung des BDA Hessen und des Deutschen Architekturmuseum DAM. Marlowes präsentiert ausgewählte Beiträge.



Der Alltag lässt sich nicht äußerlich anschauen und versuchen wir es doch, verzerren ihn unzulässige Idealisierungen und Verallgemeinerungen, die mehr über uns als über die Realität aussagen. Die modernen Architekten haben bereits gespürt, dass eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen den architektonischen Mitteln und der alltäglichen Lebenswelt besteht. In einer seiner besten Polemiken mit dem schlichten Titel „Architektur“ nähert sich Adolf Loos diesem Problem am Beispiel der vernakulären Architektur in einem wunderbaren Text an:

„Darf ich Sie an die Gestade eines Bergsees führen? Der Himmel ist blau, das Wasser grün und alles liegt in tiefem Frieden. Die Berge und Wolken spiegeln sich in ihm und die Häuser, Höfe und Kapellen tun es auch! Nicht wie von Menschenhand stehen sie da. Wie aus Gotteswerkstatt sind sie hervorgegangen, wie die Berge und Bäume, die Wolken und der blaue Himmel. Und alles atmet Schönheit und Ruhe …
Da, was ist das! Ein Mißton in diesem Frieden. Wie ein Gekreisch, das nicht notwendig ist. Mitten unter den Häusern der Bauern, …, steht eine Villa. Das Gebilde eines Architekten. Von einem guten oder schlechten Architekten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Friede, Ruhe und Schönheit dahin sind. Denn vor Gott gibt es keinen guten oder schlechten Architekten. In der Nähe seines Thrones sind alle Architekten gleich. In den Städten, … , da gibt es feine Nuancen, wie es eben in der Art des Lasters liegt. Und ich frage daher: Wie kommt es, daß ein jeder Architekt, ob schlecht oder gut, den See schändet?“ (1)

Die Kluft zwischen Abstraktion und Alltag


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Adolf Loos und seine Frau am Lido, 1913. (Bild: Archiv des Autors)

Natürlich kennt Loos schon längst die Antwort auf diese Frage. Der Architekt schändet den See, weil er sich von der Alltagskultur des Menschen auf dem Lande und von seiner eigenen Natur dermaßen weit entfernt hat, dass er jeden „Instinkt“ für das, was richtig und angemessen ist, verloren hat. Er ist für Loos ein „Entwurzelter“, der Abstraktionen und Formalismen als Architektur bezeichnet und darüber vergessen hat, wie ein einfaches Haus zu bauen ist, das dem Alltag seines Bewohners gerecht wird.
Dabei hatte man doch seitens der modernen Architektur alle Mühen unternommen, die Abstraktionen der Architektur in der Natur des Menschen selbst zu verankern. Die Formgesetze der Architektur sollten nicht mehr als metaphysische Setzungen erscheinen. Der Architekt verpflanzte die dem Menschen äußere Welt idealer Formen einfach in die Wahrnehmung des Menschen selbst hinein.
Alles, was zu tun war, um die Kluft zwischen Architektur und Realität zu überbrücken, sei es – so wurde Le Corbusier nicht müde zu betonen –, erneut das Sehen zu lernen: Architektur, so heißt es, sei „das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper“. Und unsere Augen seien dazu geschaffen, „die Formen unter dem Licht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen; die Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder die Pyramiden sind die großen primären Formen, die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten. Darüber ist sich jeder einig, das Kind, der Wilde und der Metaphysiker.“ (2)

 

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Le Corbusier: Vers une Architecture, Erstveröffentlichung 1923. Unter dem deutschen Titel „Kommende Baukunst“ erschien das Buch 1926. Als Bauwelt Fundament wurde es unter dem Titel „Ausblick auf eine Architektur“ 1963 veröffentlicht. (Quelle: >>>)

Die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Natur des Menschen, die ewigen Formgesetze der Architektur und das Maschinenzeitalter in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden, ist uns heute fremd. Zwischen uns und Le Corbusier stehen Jahrzehnte der Kritik an der vermeintlichen Naivität der Moderne und ihrer Geschichtsschreibung. Interessanterweise ging es in dieser Kritik stets nur um den Architekten, seine ästhetischen Haltungen, Ziele und Abhängigkeiten von bestimmten politischen Programmen und Ideologien. So als stünde er außerhalb der eigentlichen Gesellschaft und könne sich je nach eigenen Vorlieben mal hier und mal dort bedienen. Dies ist nicht nur deswegen grotesk, weil Architekten im besonderen Maße von ökonomischen und politischen Bedingungen abhängig sind. Sondern auch, weil auf diese Weise ignoriert wird, dass wie andere der Architekt bestimmten allgemeinen Subjektivitätskonzepten unterliegt und damit spezifischen Vorstellungen davon, wie sich die Natur des Menschen und sein alltägliches Handeln darstellen. Die Abstraktion der Form zur Autonomie bleibt solange rätselhaft wie sie nicht im Kontext bestimmter gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und deren Verschiebung in der Moderne gesehen wird. Man könnte auch sagen, solange man nicht den modernen Begriff der Gesellschaft selbst und die damit verbundenen Subjektivitätsentwürfe berücksichtigt, denen auch der Architekt und damit auch die Architektur unterliegen.


Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit

Die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt hat sich in ihrem Buch „Vita Activa“ ausführlich diesem Problem gewidmet. Eigenartigerweise spricht sie darin aber nicht von der modernen Architektur, sondern von der Polis. Die Aufgabe der Polis und ihrer Bauten habe noch darin bestanden, der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz bleibende Formen gegenüberzustellen. In der Polis überdauert die von ihm geschaffene Natur der Gesellschaft:
„Denn die Polis war für die Griechen …. primär eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Lebens der Einzelnen, der Raum nämlich, der gegen alles nur Vergängliche geschützt und dem relativ Dauerhaften vorbehalten, also gerade dafür bestimmt war, sterblichen Menschen Unsterblichkeit zu gewähren.“ (3) Doch was wird hier eigentlich unter Gesellschaft verstanden? Folgt man Hannah Arendt, unterliegt dieser Begriff selbst einem historischen Wandel, der quer zu den üblichen historischen Einteilungen in Geschichtsepochen liegt. Für Arendt stellt sich die Geschichte der Gesellschaft und ihrer Architektur nicht als Entwicklung politischer Systeme dar. Es geht ihr vielmehr darum zu zeigen, wie sich die Vorstellungen von Privatheit und Öffentlichkeit seit der Antike in ihr Gegenteil verkehrt haben. Verkürzt ließe sich dies in etwa wie folgt zusammenfassen: Die Polis sah in der Öffentlichkeit noch einen Ort, der frei war von den Banalitäten alltäglicher Verrichtungen, die zur Aufrechterhaltung des Lebens notwendig sind. Derartige Dinge hatten in der Verborgenheit des Privaten zu geschehen und waren nur dort von Interesse. Der öffentliche Raum hingegen eröffnete dem Einzelnen die Möglichkeit, etwas von Bedeutung zu erschaffen, das jenseits der Unbeständigkeit des Alltäglichen lag und damit potenziell von öffentlichem Interesse und im Idealfall gar von bleibender Bedeutung für nachfolgende Generationen war. „Mit anderen Worten“, so Arendt, „der öffentliche Raum war gerade dem Nicht-Durchschnittlichen vorbehalten, in ihm sollte ein jeder zeigen können, wodurch er über das Durchschnittliche hinausragte.“ (4)

Der öffentliche Raum der Moderne ist ein grundsätzlich anderer als der der Antike – Hannah Arendt zufolge. Bild: Der Boulevard Montmartre an einem Wintermorgen. Camille Pissarro, 1897. (Bild: Creative Commons CCO 1.0 >>>)

Mit dem Siegeszug der modernen Gesellschaft hingegen, mit dem Prozess der Vergesellschaftung selbst, so Arendt, kehrt sich dieses Verhältnis um. Die flüchtigen Banalitäten des Alltäglichen bestimmen die Öffentlichkeit, während selbstständiges Denken und Handeln gewissermaßen zur Privatangelegenheit werden. Sofern sie überhaupt noch einen Platz in der Gesellschaft haben. Mit der Moderne verbindet sich also keineswegs ein Fortschritt. Das Gegenteil ist der Fall. Was in der Antike zu Recht in der Dunkelheit des Privaten verborgen war, wurde nunmehr eine öffentliche Angelegenheit. Der private Haushalt, das Wirtschaften und Arbeiten, die Banalität täglicher Verrichtungen waren zu einer Sache der Öffentlichkeit geworden, während das Streben, etwas Bleibendes zu erschaffen, auf das Private zurückgedrängt wurde. Entsprechend ist die moderne Öffentlichkeit vor allem von ökonomischen Themen, der Selbstoptimierung des Subjekts sowie der Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens geprägt. Während der Eigensinn des Nichtdurchschnittlichen sein Reservat allenfalls noch im Privaten oder in der Kunst findet.


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Der Mensch als Maschine. Darstellung vom Ende der 1930er Jahre. (Quelle: >>>)

Man ahnt bereits, dass das Verhältnis zwischen Alltag und Architektur kein einfaches ist. Man könnte sagen, es ist mit der Moderne erst prekär geworden. Während in der Polis noch getrennt war, was getrennt sein musste, damit Homo faber, das heißt der hervorbringende Mensch, etwas von Belang und Dauer erschaffen konnte, führte der sogenannte zivilisatorische Siegeszug der Moderne zu einem Niedergang der res publica. An die Stelle des Homo faber trat das Animal laborans. Das heißt, ein Subjekt, dessen Existenz allein durch seine Eingespanntheit in die arbeitsmäßige Verstoffwechslung von Ressourcen und deren permanenter Konsumtion einen Sinn bekommt. Das Ziel des Animal laborans besteht entsprechend nicht mehr darin, eine Welt von relativer Dauer zu errichten, die auch nachfolgenden Generationen dienen kann. Es geht allein noch darum, Mittel zur Erleichterung der Arbeit, das heißt der funktionalen und bürokratischen Abläufe ökonomischer Prozesse zu entwickeln, die im Sinne permanenten Wachstums prinzipiell unabschließbar sein müssen. Im Sog dieses alles verzehrenden Strudels aus Produktion und Konsumtion verwandelt sich die Apparatur oder Maschine gleichsam zum Gehäuse des Animal laborans, „als gehöre die menschliche Spezies eben nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art Schaltier zu verwandeln.“ (5)

Man könnte auch sagen, Mensch und Maschine sind nicht mehr voneinander unterscheidbar, wie etwa eine populärwissenschaftliche Darstellung zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns aus den 1930er Jahren zeigt. Einer Schaltzentrale oder einem Kontrollraum ähnlich, werden von hier alle Operationen des Maschinenmenschen mechanisch gesteuert und sind zugleich in eine Apparatur außerhalb des menschlichen Körpers eingespannt. Wir wissen, dass dies in der Moderne nicht nur metaphorisch gemeint war, sondern in einem ganz sprichwörtlichen Sinne.


Zum ersten Teil des Beitrag: Architektur als bewohntes Konstruktum >>>

Zum dritten Teil des Beitrags: Haus, Maschine und die Schönheit der Dingwelt >>>


(1) Adolf Loos: Architektur (1910), in: ders. Sämtliche Schriften, Band 1, Wien/München, 1962, S. 302–318, hier S. 302
(2) Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, Braunschweig, Wiesbaden 1982, S. 38
(3) Hannah Arendt: Vita acitva oder Vom täglichen Leben, München 2016 (Original The Human Condition, 1958), S. 70
(4) ebd., S. 53
(5) ebd., S. 181
Symposium
9. Februar 2018
Grau, bunt, schwarz-weiß?
Der Alltag der Architektur
Beiträge
Programm
Eine Veranstaltung des BDA Hessen
und des Deutschen Architekturmuseum DAM