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Bild: Christian Holl
Nutzungsänderungen, die Konfrontation verschiedener Ansprüche in der Stadt und unvorhergesehene Entwicklungen erzeugen Kontraste, Lücken, Leerstellen – Brüche, die meist als Defizite wahrgenommen werden. Dabei wird übersehen, dass sie auch Raum- und Nutzungsreserven bieten, die erst zu einem noch nicht definierten, späteren Zeitpunkt produktiv werden. Dann aber bieten sie eine Flexibilität, die Stadt zukunftsfähig und resilient macht. Könnte Ineffizienz nicht aktiver als strategisches Werkzeug der Stadtentwicklung eingesetzt werden?

Teil 2 der Serie „Städtebau.Positionen“. In ihr stellen Professorinnen und Professoren deutscher Hochschulen Perspektiven auf die Stadt und die Disziplin der Planung vor. Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.


Neubauquartiere gelten bei uns in Deutschland fast immer als seelenlos und steril, Altbauquartiere hingegen werden hoch geschätzt – so hoch, dass eine Stadt wie Frankfurt sich eine Neue Altstadt baut und dafür mehr als 100 Millionen Euro ausgibt, öffentliche Gelder, die als verlorener Zuschuss ins Projekt geflossen sind. (1) Das gleiche Frankfurt beherbergt auch ein Europaviertel, das man kaum von den Europavierteln in anderen deutschen Städten unterscheiden könnte, wenn nicht die Skyline im Hintergrund der Orientierung auf die Sprünge hülfe. Hätte dem Europaviertel mit einem verlorenen Zuschuss und historischen Fassaden mehr Leben eingehaucht werden können? Oder müssen wir einfach nur hundert Jahre warten, bis auch dieses Quartiere von uns als attraktiv wahrgenommen werden, während andere, dann neue Quartiere als tot oder seelenlos bezeichnet werden?

In diesem Essay werden einige Gedanken über die Mechanismen diskutiert, die alte Quartiere interessanter, lebendiger und menschlicher erscheinen lassen als neue. Hierzu werden zwei Prozesse unter die Lupe genommen, Umnutzung und Abschreibung, die beide auf unterschiedliche Weise mit der Zeit Ineffizienz entstehen lassen. Mit Ineffizienz ist hier eine Diskrepanz zwischen Programm und gebauter Struktur gemeint, die nicht aufgelöst werden kann und gerade dadurch Qualität erzeugt. Zum Schluss wird darüber spekuliert, ob und wie man diese Diskrepanz zu einem Element der Entwurfsplanung machen könnte, und wie man so zu einem anderen Umgang sowohl mit dem Bestand als auch mit dem Neubau gelangen könnte.

Die Lücke, die die Umnutzung lässt


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Bild: Maren Harnack

Alte Quartiere – darunter sollen hier Quartiere verstanden werden, deren Struktur und Substanz im Wesentlichen vor dem ersten Weltkrieg entstanden sind – haben schon oft ihre Nutzungsstruktur verändert, und die Häuser in ihnen wurden umgenutzt. Weil diese Umnutzungen nicht immer passgenau die vorhandene Struktur ausnutzen, entstehen Details, Räume und Konstellationen, die nicht aus der inneren Notwendigkeit der Nutzung entstehen, und schon gar nicht aus finanziellem, betriebswirtschaftlichen Kalkül.

Ebenso können Elemente, die einmal aus wirtschaftlichen Gründen eingesetzt wurden, ihre Funktion verlieren, womit sie neu interpretiert werden und eine neue Bedeutung gewinnen können. Beispiele hierfür finden sich in großer Zahl in dem Buch „Die gemordete Stadt,“ das Gina Angress, Elisabeth Niggemeyer und Wolf Jobst Siedler 1964 herausgebracht haben. (2) Das Buch ist gefüllt mit Fotos stark verzierter, gußeiserner Schilder und Geländer und dergleichen, die damals modernen Beispielen gegenübergestellt werden – mit der klaren Absicht, letztere als minderwertig und gestalterisch anspruchslos zu kritisieren. Die verzierten Elemente aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, obwohl industriell hergestellt, werden demgegenüber als etwas Positives dargestellt, das den Bewohner*innen Ankerpunkte für Identifikation mit der Umwelt bieten, die moderne Architektur verweigert.

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In der Berliner Dennewitzstraße fährt die U-Bahn durchs Haus. (Bild: Maren Harnack)

Nun galten Quartiere der Gründerzeit in der Fachwelt nicht immer schon als menschenfreundlich und gemeinschaftsfördernd. Im Gegenteil, Philippiken wie Werner Hegemanns „Das steinerne Berlin“ von 1930 (3) zeigen eindrucksvoll, wie sehr sie das Ergebnis immobilienwirtschaftlicher Optimierung waren. Dabei war nicht nur die miserable Wohnhygiene Ziel der Kritik, sondern auch die wenig ambitionierte Gestaltung mit rasterförmigen Straßen und die vorgefertigte und in Massen produzierte Fassadenornamentik. Dass sich diese Wahrnehmung in relativ kurzer Zeit geändert hat, liegt auch daran, so die hier vertretene These, dass diese Elemente ihre ursprüngliche Funktion, nämlich den bürgerlichen Status der Bewohner*innen oder der gewünschten Zielgruppe der Investoren zu repräsentieren, zunächst nicht mehr erfüllten. Dieser ehemals durchaus gegebenen Effizienz enthoben, konnten sie mit neuer Bedeutungen aufgeladen werden, und sie wurden zu einem nicht unmittelbar zweckgebundenem Extra.

Aus heutiger Sicht besonders interessant ist, dass das Berliner Hansaviertel bei Niggemeyer und Siedler immer wieder als Beispiel für eine aus der Sicht der Autor*innen allzu effizienzorientierte und menschenfeindliche Form des Bauens und der Stadtentwicklung dient. Anders als die Autor*innen sich zu der Zeit vermutlich haben vorstellen können, ist das Hansaviertel nun seit 1995 insgesamt denkmalgeschützt, weil es ein herausragendes Beispiel für Städtebau und Architektur der Nachkriegsmoderne ist. Mit heutigen Augen angeschaut, ist auch im Hansaviertel vieles von dem, was in der Entstehungszeit noch als vor allem zweckmäßig erkennbar war, heute als Ausdruck sorgfältiger Planung und handwerklicher Qualität lesbar. In einer Zeit, in der Arbeitskraft deutlich wertvoller ist als Material, bekommt der ehemals betont einfache Charakter der Architektur eine neue Bedeutung, wird mit heutigen Maßstäbe gemessen ineffizient und gleichzeitig wertvoll – weil man heute so nicht mehr bauen könnte. Auch ohne Denkmalschutz bleibt dieser Mechanismus aktiv, wie große Initiativen zum Erhalt von Nachkriegsbauten zeigen, beispielsweise die Initiative SOS Brutalism des deutschen Architekturmuseums, der Kampf um den Erhalt des erst seit kurzem denkmalgeschützten Diesterweg-Gymnasiums in Berlin-Wedding oder um die mittlerweile abgebrochenen Esso-Häuser in Hamburg-St. Pauli.

Auch der von Niggemeyer und Siedler gescholtene Städtebau der Moderne und insbesondere der Nachkriegsmoderne ist aus heutiger Sicht ineffizient: zu wenig dicht, zu große Flächen, die von der Allgemeinheit gepflegt werden müssen, eine vermeintlich unausgewogene Mischung von frei finanziertem und geförderten Wohnungsbau – dabei müssten wir uns gerade heute im Neubau eigentlich wieder mehr als 30 oder 40 Prozent geförderten Wohnungsbau leisten, um die Wohnungsnot in den Ballungsräumen wirksam zu lindern.


Variantenreichtum durch Ineffzienz


Bedeutender als die ineffizient gewordenen Ornamente und Zeichen sind obsolet gewordene Raumstrukturen. Ähnlich wie bei diesen entsteht Ineffizienz, wenn Gebäude umgenutzt werden oder Nutzungsmuster sich ändern. Neue Nutzungen sind selten geeignet, bestehende Räume passgenau auszufüllen. Dadurch produzieren Umnutzungen und veränderte Nutzungsmuster Leerstellen und Lücken, die neu besetzt werden können – nicht mit neuer Bedeutung, sondern mit Nutzungen und Routinen, für die es vorher keinen Platz gab. Dabei muss es nicht um ganze Räume gehen, sondern auch kleine Details können obsolet werden und dann andernfalls ineffiziente Nutzungen beherbergen. Beispiele hierfür sind Nischen, die einmal der Abwicklung von Lebensmittellieferungen gedient haben und heute von den Bewohner*innen dekoriert werden oder Küchenbalkone, die ursprünglich der Hauswirtschaft dienten und heute zu Erholungszwecken genutzt werden.

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Brüssel: Früher Kirche, heute Hochschule. (Bild: Christian Holl)

Dass Ineffizienz produktiv wird, dass sie also neuen Interpretationen, Aneignungsformen und Nutzungen Raum geben kann, liegt auch daran, dass es mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden wäre, sie zu eliminieren. Die Häuser und Nachbarschaften sind abgeschrieben, und die höchste Rendite erwirtschaften sie, wenn möglichst wenig investiert und verändert wird. Dadurch bleibt die entstehende Ineffizienz zunächst erhalten und reichert alte Gebäude und Quartiere mit Bedeutung und Vielfalt an. Besonders gut lässt sich das an alten Industriebauten ablesen, für deren Räume häufig ganz neue Nutzungskonzepte entwickelt werden und die gerade deswegen erfolgreich sind, weil Neubauten nicht mit ihnen konkurrieren können.

Diesem Gedanken folgend profitieren diejenigen von der Ineffizienz, die sie neu füllen, die das Potenzial eines obsolet gewordenen Raums erkennen und sich aneignen ebenso wie diejenigen, die sie nicht mehr gebrauchen können. Nutzer*innen ehemals ineffizienter Räume entrichten einen reduzierten Preis, die Bereitsteller*innen brauchen nicht zu investieren, um Gewinne zu machen. Und sogar die Stadtbewohner*innen profitieren davon, denn ihre Umgebung wird variantenreicher, das Angebot an Läden, Wohnungen und Unternehmen vielfältiger.

Versuche, diesen durch Ineffizienz erzeugten Variantenreichtum in neuen Quartieren zu bauen, funktionieren so gut wie nie. Das Wertheim Village (ein 2003 in Unterfranken nahe der Autobahn errichteten Factory Outlet Center, das eine pittoreske Altstadt simuliert) am einen Ende der Skala und Frankfurts Neue Altstadt am anderen sind als Stadt – oder Teile von Stadt – im eigentlichen Sinne gleichermaßen unbefriedigend. Sie sind als Surrogate erkennbar, weil sie gerade nicht die Möglichkeit der Aneignung und Neuinterpretation bieten, die alten Bestand auszeichnet. Um Ineffizienz auch planerisch produktiv zu nutzen, muss man diese alten Bestände an erster Stelle so gut wie möglich erhalten und pflegen – auch die der jüngeren Vergangenheit.

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Bestände, die gepflegt werden müssen. (Bild: Maren Harnack)

Man sollte alte Gebäude also so gut wie nie abreißen, und wann immer möglich umnutzen, oder zumindest auf eine Mischung aus aus alter, abgeschriebener und neuer Bausubstanz achten. Schon Jane Jacobs verwies darauf, dass die Mannigfaltigkeit der Stadt Bauten unterschiedlichen Alters braucht, auch wenn sie hier eher die unterschiedlichen Mietniveaus meinte, die eine ökonomisch gemischte Bewohnerschaft braucht. (4)

Wenn man Ineffizienz als Ressource versteht, die neuen Entwicklungen und Ideen Raum verschafft, lassen sich sicher auch Mechanismen entwickeln, die dafür sorgen, dass sie nicht so leicht durch Abrisse zum Verschwinden zu bringen ist. Oder dafür, dass diejenigen, die die Raumpotenziale heben, die in der Diskrepanz von Programm und Raum liegen, die Gewinne, die sie damit erwirtschaften, auch behalten, oder dass sie zumindest dem Gemeinwohl und nicht privaten Eigentümern zugutekommen. Zwar gibt es heute schon Ansätze und Instrumente, die es Kommunen ermöglichen, eine aktive Immobilienpolitik zu betreiben, aber das Instrumentarium könnte ohne Zweifel noch ausgebaut und verfeinert werden – nicht vorrangig, um romantische Straßenbilder zu schützen, sondern um die urbane Produktivität zu stärken, die eine ausreichende Menge programmatisch obsolet gewordener Räume braucht, um sich weiter entwickeln zu können.

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Bild: Maren Harnack

Es wäre auch möglich, Entwicklungsprozesse so gestalten, dass Ineffizienz schneller entsteht als normalerweise, zum Beispiel indem man durch Setzungen bewusst Zwänge schafft. Großartige Gebäude, wie das Guggenheim-Museum sind Ergebnis selbst solcher Setzungen, eine in der Architektur durchaus übliche Strategie. Der bewusste Erhalt von alten, nicht denkmalgeschützten Ställen in der Tübinger Südstadt ist ein Beispiel dafür, dass der damit verbundene Verzicht auf eine effizientere Nutzung des gesamten Geländes letztlich dazu beigetragen hat, dass das neue Quartier im Wortsinne produktiv sein kann. Oder man könnte dem Zufall mehr Raum geben. Oder einzelne Parzellen könnten für eine längere Zeit freigehalten werden, ehe man sie bebaut, um der Vorstellung entgegenzuwirken, dass ein Quartier überhaupt irgendwann fertig sein könne. Kurz: Es geht es um Strategien, die die wiederholte Überschreibung von Räumen fördern und verankern. Dann könnte man auch die öden Europaviertel besser ertragen, bis auch sie eines Tages Ineffizienzen entwickeln, mit deren Hilfe sie dann hoffentlich vielfältiger und interessanter werden als wir es uns heute vorstellen können. Schön wäre es aber schon, wenn wir darauf nicht ein halbes Jahrhundert warten müssten.





(1) Laut DomRömer GmbH war das Investitionsvolumen 186 Mio Euro (>>>), der Tagesspiegel gibt „weit mehr 200 Mio Euro“ an (>>>). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung geht von davon aus, dass „die Stadt Frankfurt nach fundierten Schätzungen gut 100 Millionen Euro in das Areal investiert“ hat (>>>)
(2) Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angress: Die gemordete Stadt. Ein Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Herbig, Berlin 1963
(3) Werner Hegemann: Das Steinerne Berlin. 1930 – die größte Mietskasernenstadt der Welt. Ullstein, Berlin / Frankfurt a.M. 1963
(4) Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Frankfurt / Berlin 1963, S. 114 ff