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Stilkritik (143) | „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen“, heißt es bei Matthias Claudius. Über Ferienwohnungen hat der norddeutsche Lyriker allerdings nichts berichtet. Dabei lernt man im Ferienhaus das Wichtigste, was auf das Bauen zukommt: die Auseinandersetzung mit einem Bestand. Aus welcher Zeit auch immer. Und das Beste wäre, man hätte immer die Zeit, sich ein Haus, eine Wohnung anzuverwandeln, bevor man Hand und Werkzeug anlegt.


Ferienwohnungen erlebt man immer als Exkursion in eine andere Welt. Man ist heilfroh, wenn in der Behausung nicht die abgelegten Jugendzimmermöbel in PVC-Nussbaum-Furnier stehen, sondern Räume und Einrichtung so passabel sind, dass einem der Aufenthalt auch bei Schietwetter nicht wie eine befristete Sündenstrafe vorkommt. Wer sich ein wenig für Architektur interessiert, wird sich wie ein Forensiker in so einem Gehäuse einnisten.

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Neue Fenster, neue Griffe – bauwirtschaftlicher Standard dominiert leider noch die Aktualisierung des Bestands. (Bild: Wolfgang Bachmann)

Ehrt den Bestand!

Diesmal sind wir in ein Denkmal eingezogen, es datiert 1636, 1726 wurde es umgebaut, aus der Epoche blieben noch einige barocke Schnörkel erhalten. Es verfügt über eine Diele, eine große Küche, ein anständiges Bad und vier niedrige Zimmer. Hier können sich zwei Personen unverschämt ausbreiten, ohne ihre Koffer immer im Blick haben zu müssen. Die Einrichtung changiert zwischen Biedermeier und Gründerzeit, dazwischen steht ein LC2 und auch mal ein Stück aus diesem unvermeidlichen schwedischen Möbel im 21. Jahrhundert. Die neue Treppe aus Riffelblech ist etwas kantig gewendelt (Vorsicht!). An den Wänden hängen Ölgemälde, Stiche und moderne Grafik, in den Borden quetschen sich Kunstbände. Soweit alles sehr okay. Diesmal brauchen wir wenigstens keine Möbel umzustellen.

Leitungen, das "Gedärm" eines Hauses, an Bestand anzupassen, verlangt auch die Abkehr vom handwerklichen "wir-machen-das-immer-so". (Bild: Wolfgang Bachmann)

Leitungen, das „Gedärm“ eines Hauses, an Bestand anzupassen, verlangt auch die Abkehr vom handwerklichen „wir-machen-das-immer-so“. (Bild: Wolfgang Bachmann)

Winterkühlfach (Bild: Wolfgang Bachmann)

Winterkühlfach (Bild: Wolfgang Bachmann)

Versteht den Bestand!

Aber was sagt uns das Bauwerk? Was hat es in vierhundert Jahren erlebt? Wer hat welche Spuren an dem Denkmal hinterlassen? Natürlich bekam es irgendwann zeitgemäße Installationen, und unübersehbar haben in jedem Jahrzehnt auch weniger talentierte Handwerker etwas repariert. Ein Fußleistenkanal versorgt inzwischen jeden Raum mit Strom und Wärme, eine aufgenagelte Leitung ergänzt, was noch fehlte. Ein Feuerloch verweist auf einen ehemaligen Kamin. Die Fachwerk-Außenwände sind so schlank, dass im einzig erhaltenen Kastenfenster gerade eine Flasche Wein kaltgestellt werden kann. Die neuen Isolierglasflügel (immerhin aus Holz) biedern sich mit falschen Sprossen an, daran sind belanglose moderne Beschläge montiert, vermutlich dämmen die Scheiben jedoch besser als die umgebenden Wände.

Farbschichten halten den Stuck an der Decke? (Bild: Wolgang Bachmann)

Farbschichten halten den Stuck an der Decke? (Bild: Wolgang Bachmann)

Dem Deckenstuck fehlt bereits einiger Schmuck, dicke weiße Farbschichten halten die vorhandenen Festons und Ornamente zusammen. Gottlob hat kein Elektriker Kabel eingeschlitzt. Alle Türen sind unterschiedlich. Bänder und Kastenschlösser überliefern alte Schmiedekunst, manchmal sind sie penibel instandgesetzt, meistens aber überpinselt, nachdem ein unterlegtes Hölzchen und eine schief eingedrehte Kreuzschlitzschraube den alten Kloben gesichert hat. Heimwerken kann ein Fluch sein.

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Die Digitalisierung fordert Tribute. Aber so grobe Bastelei würde in der medizinischen Chirurgie bleibende Schäden verursachen. Warum sieht der Eigentümer das nicht? (Bild: Wolfgang Bachmann)

Schleifen, Waschen, Rekonstruieren?

Wenn einem dieses Haus gehören würde, wo würde man anfangen? Dielenböden und Kassettentüren abschleifen, Schwarten ergänzen, Decken und Wände abwaschen? Was im Laufe der Zeit kaputt- oder verlorengegangen ist, rekonstruieren? Oder die Fraktur bewusst herauspräparieren und durch zeitgemäße Technik sichtbar ergänzen, damit die Türen wieder schließen und die Böden nicht knarren? Vor allem die breite Baumarktauswahl an Heizkörpern und Lichtschaltern auf jeweils ein Modell reduzieren! Man ist versucht, zum Auto zu gehen, einen Schraubenzieher zu holen und schon mal mit ein paar Handgriffen ein wenig Zuwendung zu zeigen. Doch es funktioniert alles, wir können hier gut eine Woche wohnen, es ist sogar ganz komfortabel. Es hat Atmosphäre.

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Spülstein, wortwörtlich: Welche Hygienemaßstäbe werden angelegt? (Bild: Wolfgang Bachmann)

Aber was hätte ein Scarpa oder Schattner, von mir aus auch ein Johannes Manderscheid daraus gemacht! Man hätte das Haus verstehen müssen, abwägen, was es braucht und was man selbst benötigt. Ein Haus, zumal ein altes, ist ein Wesen, ein Gegenstand, dessen Eigenart man erleben kann. Es hat mit der Zeit (hier: in Jahrhunderten!) eine Gestalt angenommen, die sich erkennen lässt. Arno Lederer hat bei der Besichtigung von einem seiner Häuser einmal erklärt: Diese Wand wollte gelb sein. Das klingt vielleicht ein wenig anthroposophisch, aber es zeigt: Man muss sehen, woran es fehlt. Und beherrschen, was es dazu braucht.
Vielleicht handelt es sich um eine berufliche Deformation: ein Haus an seinem Idealzustand messen, es in Gedanken zerlegen und erneut montieren. Nach ein paar Tagen hat man es sich anverwandelt wie ein Haustier, man sieht, hört, riecht, erträgt – bewohnt es. Die schleifende Badezimmertür, das leiernde Rollo, aber auch den irritierenden Spiegel im Esszimmer und den wunderbaren Ausblick zum Nachbarn, gerahmt vom breiten Küchenfenster über der Spüle.
Wenn man dann abreist, gehört einem das Haus ein wenig. Man betrügt sein eigenes damit. Seitensprünge gehören dazu, wenn man nicht blind durchs Leben gehen will.