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Stilkritik (64) | Was als Freiheit der Wissenschaft im Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes verankert und auch weitgehend erreicht wurde, schwindet mehr und mehr. Wirtschaftsinteressen sickern bereits in die Schulpläne, MINT-Fächer verdrängen geisteswissenschaftliche und künstlerische Ausbildungszweige – mit weitreichenden Konsequenzen auch in der Architektur.


Nein, wir schlagen mal nicht bei Vitruv nach, um ans Essentielle dessen zu denken, was der/ die Architekt/in wissen und können sollte, sondern wenden uns gleich der Gegenwart zu. Völlig schamlos wird derzeit die marktkompatible Ausbildung junger Menschen eingefordert. Wir kennen dazu auch hinlänglich die Vorwürfe aus den Architekturbüros, in denen die realistätsferne Ausbildung der Architekturstudierenden angeprangert wird.

Zu alt, nicht alt genug

Vor allem international tätige Unternehmen und Konzerne jammerten in den 1990er Jahren, dass die Berufsanfänger in Deutschland zu alt seien und zu lang studierten. Zur Jahrtausendwende ging der „harmonisierende“, im Kern aber wirtschaftlich intendierte Bologna-Prozess mit Bachelor- und Masterabschlüssen los. De facto favorisierten Exportmeister-Länder eine markttaugliche Ausbildungsrichtung, eine „Employability“, mit der Folge, dass Lehrpläne heute verschult und vollgestopft sind, immer mehr Themen aus der Berufspraxis im Studienspektrum landen und zu zersplitterten Studienrichtungen führen. Der Hochschulkompass listet im Bereich Architektur 231 Studiengänge auf.
Am Rande muss hier auch die Drittmittel-Auftreiberei erwähnt sein, und wer darin keine selbst verschuldete Abhängigkeit erkennen kann, ist entweder naiv oder auf dem entsprechenden Auge blind.

Der junge Karl Friedrich Schinkel, abgebildet in Ludwig Bechsteins "Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen", Leipzig 1854

Der junge Karl Friedrich Schinkel, abgebildet in Ludwig Bechsteins „Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen“,
Leipzig 1854

Nahezu unstrittig ist allerdings, wie wichtig und persönlichkeitsfördernd die im Ausland verbrachte Studienzeit ist, die im Zuge des Bologna-Prozesses vorangetrieben wurde. Profitierte doch schon der junge Schinkel in vieler Hinsicht von seinen Reisen, die ihn 1803-1805 nach Italien und als gereiften Architekten nach England führten.

Schinkel nahm sich für die Reise zwei Jahre Zeit.

Schinkel nahm sich für die Studienreise durch Italien zwei Jahre Zeit.

Inzwischen erreichen die zum Teil nur drei bis vier Jahre lang ausgebildeten Anfänger die Praxis, und sofort häuften sich dort die Klagen, dass diese jungen Leute doch zu wenig wüssten und auch noch keine gereiften Persönlichkeiten seien. Als sei es erstaunlich, dass man mit längerem Lernen auch mehr lernt und vielerlei Erfahrungen sammelt. Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler, einstiger Präsident der FU Berlin und jetzt der Universität Hamburg, sprach früh von „eine(r) fast vollständige(n) Transformation des universitären Auftrags (…): weg von der ‚allgemeinen Menschenbildung durch Wissenschaft‘, hin zur Berufsausbildung.“ (In: Die Zeit, 16. März 2012)


Der MINT-Hype

Zugleich bringt die Digitalisierung grundlegende Veränderungen von Lern- und Arbeitsweisen, aber auch Wissensinhalten mit sich. Im Grenzbereich zwischen digital erfasstem und analog vorhandenem Wissen klafft beispielsweise ein Graben, dessen Tiefe noch lange nicht ausgelotet werden kann.
Um so schlimmer wiegen die Begehrlichkeiten, dass bereits in den Schulen die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) gestärkt werden sollen und Unternehmerverbände „MINT-Tage“ für Lehrer organisieren. Wen wundert’s, liegt doch die Wertschöpfung bei den MINT-Akademikern weit über fast allen anderen. Und genau deswegen gehören BWL, Maschinenbau, Informatik, Elektrotechnik und Wirtschaftswissenschaften schon seit Jahren zu den beliebtesten Studienfächern – bei Männern. BWL bei Frauen auch, gefolgt von Germanistik, Medizin und Jura, so dass diverse Aktionen der Wirtschaft darauf hinauslaufen, speziell Frauen zum MINT-Fächer-Studium zu animieren.

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Klein, jung und neu: Was vom Architekt erwartet wird (Montage: Ursula Baus)

Architektur und Menschenbildung

Das alles geht zulasten jener Fächer, die zur Persönlichkeitsbildung gehören. Es fiel schon vor Jahren auf, dass nach Schulreformen bei den Studienanfängern eine gemeinsame, fächerübergreifende Bildungsbasis kaum mehr vorausgesetzt werden konnte. Studierende aus China wussten über den deutschen Idealismus besser Bescheid als jene aus Reutlingen. Wenn heute facebook als „Wissensquelle“ gewertet wird, muss einem vor der hochgejubelten „Wissensgesellschaft“ angst und bange werden. Überlagert wird diese Entwicklung hierzulande von der Rechtschreibreform, die von einer erbarmungswürdigen Schriftsprachverunsicherung begleitet ist.

Das Begeisternde an der Architekturausbildung ist noch immer, dass Teile der MINT-Fächer mit gleichwertigen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie gestalterischen Fächern zusammentreffen. Geld verdienen lässt sich derzeit in diesem Metier sowieso. Wenn nun die MINT-Dominanz bereits in Schulen angelegt ist, zeitigt dies Konsequenzen auch für die Architektenausbildung, denn es müsste hier eine schulisch bedingte Wissenslücke geschlossen werden.
Zwar gibt es immer noch hier und da das ergänzende Studium Generale, das heißt ein Lehrangebot zum humanistischen Bildungserbe. An der Universität Mannheim tauchen im Studium Generale allerdings primär Kurse zu IT, Betriebswirtschaft, Karrierefaktoren, Selbstverteidigung oder Stimmtrainig auf. Das soll „humanistisches Bildungserbe“ sein?
Architekten und ihre Lobbyisten wären gut beraten, wenn sie vor einer Überbetonung der MINT-Fächer warnen. Architektur ist ein gesellschaftsrelevantes, politisch konnotiertes Metier, in dem Entscheidungen nicht bar einer „Menschenbildung“ gefällt werden können. Es geistert die These durch die Zunft, dass Bauingenieure zunehmend bedeutendere Beiträge fürs Bauen leisteten als Architekten. In Lehrplänen von Bauingenieuren taucht sie bislang gar nicht auf, die „Menschenbildung“.