• Über Marlowes
  • Kontakt

Die Stadt wird geprägt durch Gebäude. Einerseits. Andererseits aber auch durch das, was sich zwischen ihnen ereignet, verändert, entdeckt werden kann. Und zwar ganz wesentlich. Neue Bücher lenken den Blick auf die Rolle des Immateriellen, des Informellen, der Bewegung, der Veränderung.

2318_KF_Lindner

Rolf Lindner: In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt 290 Seiten, 14 x 22 cm, 28 Euro
Verlag Matthes und Seitz, Berlin, 2022

Ein Schlüsseltext für das Buch von Rolf Lindner, einem der renommiertesten deutschen Stadtforscher und Soziologen, ist August Endells „Schönheit der großen Stadt“. Lindner preist Endell als Maler mit Worten, als einen, der sich auf die Kunst des Sehens verstand, „einer Kunst, die vielen Planern fehlt“, so Lindner. Neben der genauen Beobachtung und deren faszinierenden Wiedergabe aber ist Lindner etwas anderes an Endell wichtig: als einer der ersten formulierte er „das Gesetz der permanenten Bewegung als zu bejahendes Charakteristikum der modernen Stadt.“ Und von dieser permanenten Bewegung schreibt Lindner: von den Menschen, die in die Stadt ziehen und von ihr angezogen werden, weil sie dort etwas finden, was ihnen dort, woher sie aufgebrochen waren gefehlt hatte: Unterhaltung, Abwechslung, Anonymität, permanente Bewegung. Der Schutz vor den Zumutungen der Gemeinschaft, wenn man sich ihren Vorurteilen nicht beugen wollte, aber auch die Musik, das Licht, die Kneipen gehören dazu.

All dem spürt Lindner nach, beginnend mit dem späten 19. Jahrhundert. Er berichtet von Dienstmädchen und Homosexuellen, vom Impressionismus und den Fußballstadien, er preist den Regen in der Stadt und die Überhöhung des Alltäglichen und Gewöhnlichen, wie sie der französische Soziologe und Philosoph Pierre Sansot vornimmt. Lindner berichtet vom Imaginären der Stadt und den Städten, die sich durch ihre Unterschiede zur „ersten Stadt“ definieren: Rotterdam von Amsterdam, Glasgow von Edinburgh, Chicago von New York.

Maßgebliche Soziologen, Architekten, Philosophen werden zitiert, in einer leichten Beiläufigkeit, die die Texte tief und anregend, aber auch gut lesbar machen. Der schwedische Stadtanthropologe Ulf Hannerz spielt eine wichtige Rolle, weil der die Bedeutung der Netzwerke, der Beziehungen betont, die die Stadt ausmachen; genauer sind es die Netzwerke der Netzwerke: Im Unterschied zu den den vorgegebenen sozialen Beziehungssystemen etwa der Dörfer herrscht in der Stadt die Notwendigkeit, sich das Bezugssystem selbst unter den vielen möglichen aufzubauen: „Erst die Abwesenheit eines vorgegebenen Bezugssystems macht es möglich, dass sich Individuen als Individuen begegnen können“, wird Walter Siebel zitiert. Und so ist das Buch auch zu einem Plädoyer für die ephemeren wie alltäglichen Qualitäten der Stadt geworden, das in funktionalistischen Planungen ebenso wie in segregierenden Wohlstandsclustern verloren zu gehen droht.

Und es gibt noch etwas, neben der Gabe der Beobachtung und Beschreibung, der Faszination an der permanenten Bewegung, die Lindner mit Endell teilt: die Begeisterung für Berlin. Es geht hier nicht um mittelgroße und einigermaßen große Städte, sondern um die Metropolen, für die Berlin mehr als einmal als mustergültiges Beispiel herangezogen wird. Erst in der großen Metropole erfüllt sich das Versprechen, trotz städtischer Dörfer, trotz Szenen und Communities in der Anonymität und der Ansammlung all der Fremden, etwas sein und tun zu können, was nicht von außen auferlegt wird. Und sei es auch nur die Freude, dann, wenn man möchte im Freien sitzen, trinken und der Musik zuhören zu können – Vergnügungen der Großstadt, die schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Menschen in die Städte gezogen hat. Behörden wurden seinerzeit angewiesen, die Bevölkerung vor dem Umzug nach Berlin zu warnen. Geholfen hat es nicht. Nach der Lektüre von Lindners wunderbarem Buch weiß man, warum.

Am 23. Mai spricht Rolf Lindner in Potsdam über »Verwandlungen. Überlegungen zur Anthropologie der Stadt«  >>>



2318_KF_Digital

Vanessa Weber und Gesa Ziemer: Die Digitale Stadt. Kuratierte Daten für urbane Kollaborationen. 194 Seiten, auch als Opan_Access-Version, 29 Euro
Transcript Verlag, Bielefeld, 2022

Statt einer Einführung beschreiben die beiden Autorinnen des Bandes „Die digitale Stadt“ den Fall von Hamburg 2015/2016: Viele Geflüchtete stellten die Stadt vor das Problem einer geeigneten, dezentralen Unterbringung der neu Ankommenden. In Workshops von Hochschule, Stadt und Bürgerschaft wurden auf der Basis zugänglicher digitalen Daten mögliche Grundstücke für den Bau von Unterkünften identifiziert. Dieser Prozess zeigt, wie ein moderierte, kuratierter Umgang mit digitalen Daten potenzielle Konflikte in der Stadtentwicklung bewältigen hilft.

Entscheidend dabei für derartige Prozess war „die Auswahl, Selektion, Anordnung und Präsentation“ von Daten, mit denen eine konstruktive Arbeit möglich wurde. Die Autorinnen sprechen dabei vom Kuratieren. Wie genau sie diesen Begriff verstehen, im Kontext der Diskussion um Stadtentwicklung und Digitalisierung verorten, ist das Thema des Buchs. Dabei wird ein grundsätzlicher Überblick über den Stand des Diskurses gegeben: über digitale Daten, digitale Instrumente, die Problematiken von Beteiligungen und der Dominanz wirtschaftlicher Interessen. Aufgrund dieser Dominanz und den die Konflikte verschleiernden, konfliktfreie Lösungen versprechenden Modellen aus der Privatwirtschaft gehen die Autorinnen deutlich auf Distanz zum Begriff der „Smart City“ und den damit verbundenen Konzepten: „Es macht keinen Sinn, die verbrauchten bzw. einseitig ideologisch eingefärbten Konzepte der Smart City einschließlich der ihnen unterlegten Narrative noch länger zu verwenden.“

Woran den Autorinnen liegt, machen sie im weiteren Text deutlich: Sie zeigen methodische Ansätze, in denen die angestrebten Ergebnisse, entsprechend auch die gestellten Fragen und damit auch die Konflikte nicht von vorneherein feststehen, sondern sich erst im Zuge der Arbeit entwickeln. Diese Arbeit wird als eine der Kollaboration verstanden – im Unterschied zur Kooperation, in der der Weg der Zusammenarbeit schon definiert und gesichert sei. An dieser Stelle kommt das Kuratieren ins Spiel, das schon lange nicht mehr auf die Auswahl von Kunstwerken für eine Ausstellung reduziert wird, sondern selbst als eine künstlerische und kulturelle Praxis vorgestellt wird, die einerseits offene Angebot zur Diskussion unterbreitet, andererseits als Inszenierung und Präsentation verstanden wird, sei es von der eigenen Person („das kuratierte Ich“), sei es von Gemeinschaften und Institutionen. Wesentlich ist dabei zum einen die offene Anordnung, die Diskussion und Auseinandersetzung provoziert und kein unveränderliches Ergebnis vorwegnimmt, aber auch ein konkretes Themenfeld umschreibt, für das sich Beteiligung leichter aktivieren lässt.

Auf dieser Basis werden verschiedene Modelle und Instrumente vorgestellt, wie digitale Daten genutzt werden können, welche Grenzen und auch Gefahren des Missbrauchs sie beinhalten und wie mit der Lücke zwischen Expertise und einer Teilhabe ohne spezifisches Technikwissen umgegangen werden kann. Leider wurde weitestgehend auf Darstellungen verzichtet, so dass die Eröterungen teilweise etwas abstrakt bleiben. Deutlich wird allerdings, dass eine an den Bedürfnissen der Menschen und an einer Aushandlung von Konflikten dienliche Verwendung von Daten möglich ist, die aber erst am Anfang steht, nicht zuletzt, weil es an öffentlichen unabhängigen Plattformen fehlt, auf denen Daten der wirtschaftlichen Verwertung entzogen sind.



2318_KF_Atlas

Von Angelika Juppien, Richard Zemp: Atlas des Dazwischenwohnens. Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle. Herausgegeben von der Hochschule Luzern, Institut für Architektur sowie Kompetenzzentrum Typologie und Planung: 146 Seiten, 79 farbige und 7 s/w-Abbildungen, 15 x 21 cm, 38 Euro
Verlag Park Books, Zürich, 2022

Mit dem Atlas des Dazwischenwohnens knüpfen der Autor und die Autorin an das von ihnen herausgegebene Buch vom Vokabular des Zwischenraums an, das sie 2019 veröffentlicht hatten. Hier nun schlagen sie gegenüber einer damals vorherrschenden architektonisch-städtebaulichen Betrachtungsweise eine ein, die vor allem die Perspektive der Bewohnerschaft widerspiegelt; ergänzend dazu ist auch die der Verwaltungen und Eigentümer:innen integriert. Das Buch versteht sich, so ist es in der Einleitung zu lesen, als Plädoyer für die „Wiederentdeckung des Zwischenraums als Gestaltungsraums.“ Dabei geht es weniger darum, konkrete Anleitungen zu geben, wie eine solche Gestaltung aussehen kann, sondern welchen Wert der Zwischenraum konkret hat und wie man sich selbst auf Erkundungstour vor der Wohnungstür begeben kann. Hier wird sie also auch eingefordert, die Kunst des Beobachtens.

Anschauungsmaterial liefern sechs Fallbeispiele, identifiziert werden aus den Untersuchungen, deren genaue Methodik nicht erläutert wird, fünf Wohnbedürfnisse und drei Orte des „Dazwischenwohnens“. Prämisse ist dabei, dass das Wohnen sich „nicht nur auf den Konkon des eigenen Wohnzimmers beschränkt, sondern durch soziale Alltagspraktiken und Aneignungsmechanismen weit in das Wohnumfeld und die Zwischenräume hineinwirkt“, wie es Olaf Schnur und Stephanie Weiss im Vorwort formulieren. Als Bedürfnisse werden genannt: Abenteuer, Landnahme, Tapetenwechsel, Engagement und Zauber, als Orte des Dazwischenwohnens als „auf der anderen Straßenseite!“, „um das Haus herum“ und „vor der Wohnungstür“.

Man spürt den Wunsch des Autorenduos, die Qualitäten, die die Bewohner:innen beschreiben, zu fassen, ohne ihnen deren Offenheit zu nehmen, denn genau das ist die Qualität des „Dazwischen“. Mit Polaroids und Zitaten der Bewohner:innen unterlegt, wird dieses Dazwischen zu einem den Alltag. Dessen Wert erweist sich mitunter gerade darin, dass er sich der architektonischen Gestaltungs- und damit Steuerungsabsicht entzieht. Ein Bildtafelwerk, wie es der Buchtitel suggeriert, sollte man trotz der Bedeutung der Bilder im Buch nicht erwarten.

Die sechs Fallstudien, (zweimal Zürich, Uster, Luzern, Berlin und Teltow) sind aus dem Mietwohnungsbau gewählt und decken verschiedene Bauformen ab. Sie stammen aus verschiedenen Epochen – wobei eine große Lücke zwischen der Zeit vor 1940 und den 1990ern klafft. Interessant sind in den Fallstudien vor allem die Aussagen dazu, welche Regeln in der Hausgemeinschaft gelten und welche Rolle die Verwaltung oder die Besitzer:innen spielen. Es zeigt sich, dass das „Dazwischen“ auch hier eines des Unbestimmten sein kann, wie wichtig die Rolle der informellen Absprachen, des Gewährenlassens und der Selbstorganisation sind. Es wundert deswegen nicht, dass nur ein Gebäude der Fallstudien eines in kommunaler Trägerschaft ist, die andern entweder vermietetes Einzeleigentum oder Genossenschaftsbauten sind. Interessant wäre es gewesen, die Bedeutung des Trägers etwas weiter auszuarbeiten und daraus Empfehlungen für den Betrieb abzuleiten. Für Architekt:innen sind die Empfehlungen ebenso eher spärlich gesät. Von Treppenhäusern und anderen aneignungsfreundlichen Räumen abgesehen, liegt auf solchen Empfehlungen nicht der Schwerpunkt dieses Buchs. Insgesamt wirkt es in seiner stark atmosphärisch geprägten Sprache und Aufmachung wie eine Ergänzung zum ersten Buch – es sei deswegen empfohlen, sich beide zu gönnen.



2318_KF_Agenda

Köbi Gantenbein, Hans-Georg Bächtold: Agenda Raum Schweiz. Essays, Gespräche, Positionen zur Planung des Landes. 04 Seiten, 9 Karten und Diagramme, 15,5 x 24 cm., 45 Euro
Verlag Hochparterre, Zürich, 2022

Gerade einmal zehn Jahre ist das Konzept alt, das die räumliche Entwicklung der Schweiz strukturieren soll. Doch die Kritik daran ist fundamental: Es könne die gegenläufigen Entwicklungen zwischen Gemeinwohl und Einzelinteressen nicht mehr ausgleichen, habe „die schon vor 20 Jahren wirksamen Kräfte der gesellschaftlichen Megatrends, vorab der Demografie, der Migration, der Digitalisierung und des Klimawandels unterschätzt. Und es sagt nichts zu den Themen wie einem Bodenrecht, das Wohnen für alle zu erträglichen Bedingungen gewährleistet (…) und scheut sich, über Güte und Schönheit von Landschaft zu reden und wie diese hergestellt und geschützt werden können“, so Hans-Georg Bechtold und Köbi Gantenbein.

Sie haben ein Buch herausgegeben, das helfen soll, vergleichbare Fehler zukünftig zu vermeiden. Es beinhaltet Texte, die von Herbst 2021 bis zum Frühling 2022 auf hochparterre.ch erschienenen: 31 Essays und ein Interview. Planerinnen der Ämter auf kommunaler, kantonaler und auf Bundesebene sind dabei weniger berücksichtigt, denn sie sollen durch die anderen Disziplinen angeregt werden: von Expert:innen aus der Soziologie, der Architektur, der Urbanistik, der Geschichtswissenschaft, der Ökonomie und anderen. Die Texte haben einen knappen Umfang, der zur Deutlichkeit herausfordert. Auf eine Ordnung nach Hauptthemen haben die Herausgeber verzichtet, wohl um die Zwischentöne und Verbindungen nicht wieder zu verdecken. Die Themen sind breit gestreut, eine tour d’horizon aktueller Themen und Diskurse: Sie handeln von der Bedeutung der Peripherie, den Leistungen der Allgemeinheit, die private Gewinne erst möglich machen, den Bodenwerten, die eine soziale Wohnungsbaupolitik erschweren, von einer zeitgemäßen Vorstellung dessen, was Landschaft ist, von der Bedeutung des öffentlichen Raums auch jenseits der Stadtzentren und davon, wie ein raumplanerisches Konzept anschlussfähig an andere Stadt und Land prägende Praktiken der Gestaltung und Ökonomie sind. Hier sind die dringlichsten Hinweise für ein neues Raumkonzept zu finden: dass es die Alltagswelt vor Ort in seinen sozialen und ästhetischen Konsequenzen berücksichtigen, die konkreten Hoffnungen und Nöte der Menschen im Blick behalten möge. Denn das aktuellen Raumkonzept Schweiz hat, so schreibt etwa der Geograf Urs Steiger, „gar nie Bodenhaftung erreicht“.

Ergänzt wird der Reigen der Texte durch Positionen, 20 kurzen Statements zur raumplanerischen Zukunft der Schweiz, von Institutionen, Firmen, Verbänden, etwa der SBB, dem Verband Wohungsgenossenschaften, dem Schweizer Heimatschutz, oder dem Verein Fußverkehr Schweiz. Etwas weniger spannend, weil teilweise doch recht vorhersehbar, aber eben auch wichtig, weil die Bandbreite der Akteure und Interessen sichtbar wird, die Einfluss haben oder Anregung geben können für das, was kommen soll. Soweit ist also die „Agenda Raum Schweiz“ eine gute und gut lesbare Zusammenstellung für die Aufgabe, großen und kleinen Maßstab gleichermaßen zu berücksichtigen, multiperspektivisch zu denken. Allerdings könnte man bei einer solchen Zusammenstellung auch erwarten, dass die Drastik der Zukunft vorgeführt wird. Was, wenn Wasser zur Neige geht, der Wohlstand brüchig, die Lebensmittel teuer, Mobilität eingeschränkt wird? Es ist dem Altmeister Benedikt Loderer vorbehalten, in einem Zukunftsbild der „Schrumpfschweiz“ die Warnung auszusprechen: „Wer an die Stabilität glaubt, war denkfaul, vertrauensselig und selbst schuld.“