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Eine prägende Geschichte

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Berlin-Mahrzahn. (Bild: Nico Grunze)

2022 ist das Jahr eines besonderen Jubiläums. Die Wohnbauserie 70, kurz WBS 70 wird 50. Wie kaum ein anderes System hat sie deutsche Städte geprägt, ist auch mit ihrer Vorgeschichte ein wichtiger Teil unserer Stadtbaugeschichte. Grund genug, sich genauer damit auseinanderzusetzen, wie es zur WBS 70 kam und worin ihr Erfolg bestand – ein Erfolg, der ihr auch heute noch zugute kommt.

Im Jahr 1972 errichtete das Wohnungsbaukombinat Neubrandenburg den ersten Block der schließlich am meisten gebauten Wohnungsbauserie in der DDR, der WBS 70. Die gut 600.000 Wohnungen der WBS 70 sind ein erheblicher Anteil von den insgesamt etwa 2,2 bis 2,4 Millionen Wohnungen, die im Zuge der Bauinitiative der DDR bis 1990 in industrieller Bauweise entstanden sind. Eine enorme Aufbauleistung. Die Wohnungen in Plattenbauweise sind bis heute in vielen Städten prägend: verglichen mit dem Gesamtwohnungsbestand ist der Anteil industriell gefertigter Wohnungen hier nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Diese Wohngebäude und die typischen sozialen Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen sind außerordentlich gut wiederzuerkennen – dieses qualitative Merkmal ist dem quantitativen Ziel, möglichst viele Wohnungen in kurzer Zeit zu erreichten, geschuldet. Gleichförmigkeit und Einheitlichkeit prägen die Gebäude und Siedlungen unabhängig von einer bestimmten Region oder einem konkreten Ort.


Wohnkomplex und Komplexrichtlinie


Die große städtebauliche Einheitlichkeit liegt in der zentralen Planungsgrundlage, dem sozialistischen Wohnkomplex begründet. Auf dieser Basis wurden der Wohnungsbau einschließlich Infrastruktur projektiert und der Aufbau sowie die funktionale Struktur der Wohngebiete gegliedert. Die erste Richtlinie zum „Sozialistischen Wohnkomplex“ erschien 1959 und die darin erläuterten Planungen orientierten sich an der Größenordnung von 4.000 bis 5.000 Einwohnern und dem Einzugsgebiet einer Schule. Diese Grundprinzipien blieben auch Jahre später erhalten, wobei die Annahmen zur Größe im Laufe der Zeit etwas variierten. Von der Ostsee bis zum Thüringer Wald ist zu sehen, dass die Einzelhandelsgeschäfte des täglichen Bedarfs, Kindergärten und Schulen relativ zentral in der Mitte angeordnet und umgeben von der unmittelbar anschließenden Wohnbebauung sind.

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Schule in Berlin-Altglienicke. (Bild: Nico Grunze)

Hinzu kommt eine mit der Zeit weitgehend vereinheitlichte Palette an Schulen und Kindergärten, Turnhallen oder weiteren Einzelhandelseinrichtungen, weshalb sich die entsprechenden Gebäude in vielen Siedlungen leicht wiedererkennen lassen.
Die Ähnlichkeit setzt sich in Merkmalen wie der Geschossigkeit von Wohngebäuden fort, die sich grundsätzlich in mehr- und vielgeschossige Gebäude sowie Punkthochhäuser gliedern lassen. Die mehrgeschossigen Gebäude haben den mit Abstand größten Anteil am Wohnungsbau. Hier unterscheidet sich die Anzahl der Stockwerke aber nach Entstehungszeit: In der ersten Phase hatten die Blöcke überwiegend drei bis vier und ab den 1970er Jahren fünf und sechs Etagen. In den Bezirksstädten, industriellen Zentren oder vereinzelt in städtebaulich bedeutenden Lagen wurden vielgeschossige Gebäude mit zehn oder elf Etagen gebaut. Davon wurde nur selten abgewichen, ökonomische Überlegungen und Abwägungen beim Bau und der anschließenden Nutzung hatten die optimierten Geschossigkeiten ergeben, die den Planungen zugrunde lagen.

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Berlin-Buch, 2011. (Bild: Nico Grunze)

Ein weiteres Charakteristikum der Wohnbauten ist die klare quaderförmige Kubatur der Wohnblöcke. Abgestaffelte Giebel sowie Vor- oder Rücksprünge in den Fassaden wurden nicht realisiert, denn jedes weitere Element bedeutete einen höheren Aufwand in der Produktion, Lagerung und Montage. Technische Anlagen oder Erschließungsschächte auf den Dächern sind, mit Ausnahme von Würfel- und Punkthochhäusern, selten zu erkennen; Aufzugsschächte und Wartungsanlagen liegen oft auf Höhe der obersten Etage unter dem Dach.

Organisation und Planung


Die Standardisierung der Gebäude und die damit einhergehende Rationalisierung in der Produktion hatten vergleichsweise nüchterne Ursachen. Nach der Gründung der DDR bestand einerseits die Notwendigkeit eines landesweiten Aufbaus neuer Industrie- und Verwaltungsstrukturen, was einen enorm hohen Bedarf an Wohnraum zur Folge hatte. Andererseits herrschte bis zum Fall der Mauer 1989 eine permanente Knappheit an materiellen und personellen Ressourcen; aus diesem Grund ging es im Bauwesen stets um Einsparungen sowie um Möglichkeiten zur Optimierung.

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Wohnbauten und eine Typenbau-Sporthalle in Mahrzahn, im Vordergrund nach Ende der DDr eingeführte Nachbarschaftsgärten. (Bild: Nico Grunze)

In unmittelbarer Konsequenz daraus wurden die Planung, Produktion und Realisierung der Neubaugebiete staatlich gesteuert. Darin liegt ein wesentlicher Gegensatz zum westeuropäischen Wohnungsbau, wo Bauherren oder Investoren Kapital organisierten und einzelne Planungs- sowie Bauleistungen individuell beauftragten. In der DDR erarbeite die staatliche Plankommission im Rahmen der sogenannten Territorialplanung Fünfjahrespläne, die auch eine Prognose der voraussichtlich benötigten Wohnungen umfasste. Die Kommission stellte den einzelnen Bezirken finanzielle Mittel für den Bau neuer Wohnungen zur Verfügung. Für deren Realisierung waren die Bezirke mit ihren Baukombinaten, die sich aus Planungsabteilungen und Produktionsbetrieben zusammensetzten, zuständig. In einem vorgegebenen Zeitraum musste eine gewisse Anzahl von Wohnungen entstehen, wofür aus einem begrenzten Sortiment aus Plattenbauserien und Gebäudetypen ausgewählt werden konnte. Die konkrete Umsetzung des Wohnungsbaus in den Neubaugebieten erfolgte weitgehend nach Vorgaben aus dem Ministerium für Bauwesen in Form von Richtlinien. Sowohl die Herausgabe dieser Richtlinien als auch die stetigen Weiterentwicklungen des industriellen Bauens lagen vorwiegend in der Hoheit dieses Ministeriums.


Vom Handwerk zum Serienbau


Zunächst war der DDR-Wohnungsbaus von neu gebauten Wohnhäusern in traditioneller Bauweise in den Altstadtgebieten und an deren Rändern gekennzeichnet: kleine Projekte im Mauerwerksbau, der Arbeitsprozess gestaltete sich personalintensiv und langwierig. Der hohe Wohnraumbedarf ließ sich so nicht bewältigen. Auf der Bauministerkonferenz 1955 wurde daher die Industrialisierung des Wohnungsbaus mit dem Ziel „Besser, schneller und billiger bauen“ beschlossen. Politische Vorgaben führten zu einer Abkehr vom Handwerk hin zu einer deutlichen Konzentration auf die industrielle Fertigung von Wohngebäuden. Dabei ging es nicht nur um die Reduzierung der Kosten, sondern mindestens genauso um eine Bauzeitverkürzung, möglichst wetterunabhängige Produktion und Kompensation mangelnder Fachkräfte. Zudem kamen als Standorte für die Neubaugebiete immer öfter große, ehemals landwirtschaftliche oder Waldflächen am Stadtrand in Frage.

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Panorama Mahrzahn. Die Höhenstaffelung ist gut zu erkennen. (Bild: Nico Grunze)

Ab Anfang der 1970er Jahre wurde die Wohnungsversorgung von der SED-Führung als Kernstück der Sozialpolitik verstanden. Darauf folgten Parteitagsbeschlüsse zur Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 und die Ausarbeitung eines Wohnungsbauprogramms. Die Größe der geplanten Neubaugebiete nahm spätestens ab diesem Zeitpunkt zu, sodass vielerorts Wohnviertel in der Dimension ganzer Stadtteile entstanden. Insgesamt 171 Siedlungen hatten im Jahr 1989 eine Größe von mindestens 2.500 Wohnungen und galten damit nach westdeutscher Lesart als Großwohnsiedlung – ein Begriff, der in der DDR-Planung allerdings keine Verwendung fand. Ein stetiges Nadelöhr im industrialisierten Wohnungsbau blieb der Transport von Fertigteilen sowie die benötigten Krananlagen zur Montage auf der Baustelle. Es gab Versuche, die Elemente vor Ort zu gießen, letztlich hat sich aber die Vorfertigung in Werkhallen durchgesetzt.

Auf dem Weg zur WBS 70


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Wohnbau der Typensegmentreihe L4: Eisenhüttenstadt. (Bild: Nico Grunze)

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Ein Beispiel für die Bauten der Wohnbauserie P2 in Halle-Neustadt. (Bild: Nico Grunze)

Der industrialisierte Wohnungsbau in der DDR war wesentlich von den Vorgaben aus dem Bauministerium beeinflusst. Ein zentrales Ziel lag in der permanenten Weiterentwicklung von Plattenbauserien, um den Materialeinsatz zu optimieren, Arbeitsprozesse effizienter auszuführen und trotzdem zeitgemäße Grundrisse anzubieten. Es ging zum Beispiel darum, die Kranbewegungen je Wohnung zu reduzieren, um so Zeit und Kosten zu sparen. Neue Lösungen oder verbesserte Varianten bauten nicht zwingend aufeinander auf, sondern wurden genauso auf der Basis von Wettbewerben ermittelt. Über den gesamten Zeitraum von knapp 40 Jahren zeigen sich deutliche Unterschiede im Wohnungsbau, und es bildet sich eine gewisse Vielfalt ab.

Ein Beispiel für den Beginn des DDR-Wohnungsbaus ist die Typensegmentreihe L4. Die Gebäude sind in weiten Teilen des Landes mit meistens vier Geschossen und Satteldach in Zeilen- und Reihenbebauung entstanden. Mehrere große Blöcke, teilweise aus vorgemauerten Ziegelelementen, ergaben eine Wand. Als erste Plattenbauserie gilt die P1, federführend entwickelt von einem Team um Richard Paulick, mit ihr sind bereits größere Stadterweiterungen in Städten wie Rostock, Eberswalde oder Hoyerswerda entstanden. Die Gebäude haben überwiegend vier Geschosse und ein leicht geneigtes Dach mit Außenentwässerung.

Eine neue Phase wurde mit der Wohnungsbauserie P2 eingeleitet. Die Gebäude hatten mindestens fünf Geschosse und ein flaches Dach mit Innenentwässerung. Das zentrale Merkmal der P2 ist das innenliegende, von außen nicht sichtbare Treppenhaus. Kritik wurde immer wieder wegen der starren Grundrisse sowie der innen angeordneten Küchen und Bäder geäußert.


Neue Siedlungen und Innenstädte


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Die WBS 70 wurde so weiterentwickelt, dass sie für die Innenstadtsanierung eingesetzt werden konnte – hier in Gotha. (Beide Bilder: Nico Grunze)

Mit dem Ziel größerer Flexibilität bei gleichzeitig möglichst optimaler Auslastung der Produktions- und Montagekapazitäten wurde an einer neuen Wohnungsbauserie gearbeitet. Im Ergebnis entstand die WBS 70, die ab Anfang der 1970er Jahre in Serie ging. Die Grundrisse zeichneten sich durch eine größere Varianz aus, beispielsweise ließen sich Küchen wieder nach außen legen und durch Fenster mit Tageslicht belichten. Für mehrgeschossige Gebäude hat die WBS 70 fünf oder sechs und als vielgeschossige Varianten elf Etagen. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren rüsteten die Wohnungsbaukombinate ihre Produktionsbetriebe um, sodass dieses Plattenbausystem nahezu im gesamten Land und bis zur Wende 1990 dominierte. Die Bezirke konnten Anpassungen vornehmen, wodurch sich beispielsweise die Fassadengestaltung je nach Region unterscheidet. Ab Ende der 1970er Jahre rückten die Altstädte stärker in den Fokus der Planung. In ganz verschiedenem Umfang wurden industrielle Methoden punktuell oder flächenhaft für die Instandsetzung der oder als Ersatz für die verfallene Bausubstanz eingesetzt. Die WBS 70 bildete oft die Grundlage für die Sanierungsplanungen. Eine gelungene Zusammenstellung mehrerer Beispiele für Ersatzneubauten in der Innenstadt ist mit einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung erschienen. (*) Wie darin deutlich wird, kam die WBS 70 in abgewandelter oder überarbeiteter Form in zahlreichen Innenstädten zum Einsatz.


Der DDR-Wohnungsbau nach 1990


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Die Bausysteme der ehemaligen DDR eigneten sich gut für Umbauten, mit denen auf den Rückgang der Bevölkerung reagiert werden konnte. Hier ein Beispiel ais Dresden-Gorbitz. (Bild: Nico Grunze)

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Unveränderter sowie sanierter und abgestaffelter Umbau von Wohmngebäuden in Bergen auf Rügen. (Bild: Nico Grunze)

Die Gebiete des DDR-Wohnungsbau standen ab Mitte der 1990er Jahre unter starkem Druck, denn massive Einwohnerverluste und demographische Effekte führten zu hohen Wohnungs- und Infrastrukturleerstand. Neben dem Abriss dieser ungenutzten Wohnungen gab es zahlreiche Ansätze zum Umbau des Bestands. Weit verbreitetet war die Reduzierung der Geschosse oder Terrassierungen – und in diesem Zusammenhang oft ein neu geordneter Grundrisszuschnitt. Es zeigten sich bis dahin ungeahnte Möglichkeiten im Umgang mit den Plattenbaugebäuden. Insbesondere die P2 und WBS 70 bewiesen erneut ein hohes Maß an Flexibilität in Statik und Erschließung. Einzelne Quartiere erfuhren dadurch eine attraktive Aufwertung, das Wohnungsportfolio hat sich verbreitert und die baulichen Maßnahmen mündeten in einer neuen positiven Wahrnehmung einzelner Viertel durch die Bevölkerung. Unabhängig von Einzellösungen zeigt sich, dass die am meisten verwendete Platte noch lange nach der Projektierung und Errichtung stetig weiterentwickelt wird. 50 Jahre bieten eine reiche Geschichte, an der weiterzuarbeiten lohnt.



2246_SL_Buch_Meuser(*) Philipp Meuser (Hg.): Industrieller Wohnungsbau in der DDR 1953 –1990. 2 Bände. 210 × 230 mm je 368 + 368 Seiten, insgesamt 950 Abbildungen, 78 Euro. Weitere Information >>>