Sportstadien sind Orte der Vergemeinschaftung. Hier kommt man über Grenzen sozio-ökonomischer Milieus hinweg zusammen, hier werden gemeinsame Geschichten geschrieben und kollektive Erinnerungen gepflegt. In der reichen europäischen Stadien-Architekturgeschichte gibt es einige, die gleich mit einer Vielzahl solcher Mythen verknüpft sind. Das Giuseppe Meazza Stadion in Mailand ist eines davon. Nun droht der Abriss.
Fußball – das ist die schnöde Wahrheit, an der Saison für Saison Fantasien zerschellen – ist ein Geschäft. Genauer: ein Geschäft mit dem Gefühl der Fans, ein Geschäft mit einer ganzen Kultur. Viele Auswüchse dieser Kultur waren und sind nicht schön. Man muss für diese Feststellung nicht unbedingt Nick Hornby und seine Erinnerungen an die 1980er-Jahre zitieren[1], es genügt ein Blick auf die Tribünen heutiger Stadien und das, was dort gerufen, gestickert und choreografiert wird, und darauf, wie sich vornehmlich junge Männer dort benehmen. Dennoch bleibt es für viele mindestens die schönste Nebensache der Welt. Albert Camus will gar alles, was er „im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe“, dem Fußball verdanken. Entsprechend kultisch verehrt werden die Stätten, in denen dieser Fußball gespielt wird. Mitunter sind sie architektonisch interessant, oft sind es „nur“ die kollektiven Erinnerungen an sagenumwobene Siege oder Niederlagen, die sich mit den jeweiligen Stadien verbinden. Zwei dieser legendären Spielstätten stehen derzeit zur Diskussion.
- Postkarte aus den 1950er-Jahren, Bild: Gemeinde Mailand
- Skizze von Giancarlo Ragazzi zur Entwicklung des Stadions
Im Mailänder Stadtteil San Siro steht das Stadio Giuseppe Meazza. Diesen Namen trägt das Stadion erst seit März 1980, zehn Monate vorher war eben jener Giuseppe Meazza verstorben. Meazza, in Mailand geboren, hatte für die beiden großen Vereine der Stadt gespielt – die Associazione Calcio Milan, kurz AC, und den FC Internazionale Milano, kurz Inter – ehe er über Stationen bei Juventus Turin, Varese und Atalanta Bergamo wieder zu Inter heimkehrte.
Raum für und in Bewegung

Bild: Wikimedia Commons, Arne Müseler
Zwischen 1925 und 1926 nach Plänen des Architekten Ulisse Stacchini errichtet, der später auch den Mailänder Hauptbahnhof entwerfen wird, heißt das Stadion zunächst schlicht wie das umgebende Viertel im Mailänder Westen: San Siro. Ein Name, der sich ebenso halten wird wie die Bezeichnung „La Scala del Calcio“, was die Bedeutung des Calcio, des Fußballs, auf eine Ebene mit dem mindestens wichtigsten Opernhaus der Stadt hebt. 1935 und 1955 wird das Stadion ausgebaut und erweitert. Im Zuge der Umbauten durch Armando Ronca und Ferruccio Calzolari bis 1955 hatte das Äußere des Stadions spiralförmig um den Bau aufsteigende Rampen erhalten, über die die Zuschauenden die Tribünen erreichen konnten. Heute kaum vorstellbar, fasste das Stadion damals 100.000 Menschen – die Tribünen waren anders, es gab kaum Sitzplätze. Nach verschiedenen Katastrophen[2] in den 1980er-Jahren wird das geändert, Fluchtwege, Sitzplätze und dergleichen mehr unterliegen seitdem strengen Regularien, auch San Siro wird erneut saniert.

Bild: Zach Rowlandson
Seine heutige Form erhält es durch die Umbaupläne der Architekten Enrico Hoffer und Giancarlo Ragazzi, die das Stadion im Zuge der Vorbereitungen für „Italia`90“, wie die Fußballweltmeisterschaft 1990 genannt wurde, weitreichend und ganz wörtlich überformen. Hoffer und Ragazzi übertrugen das Bild der Rampen auf elf Türme, deren äußerste Schicht ebenfalls Rampenspiralen sind. Sie tragen den neuen, dritten Oberrang, mit dem nun gut 80.000 Menschen im Stadion Platz finden, und die kolossalen Träger der Dachkonstruktion, deren leuchtendes Rot die Farbe des Kreuzes im Stadtwappen aufnimmt. Strömen die Fans nach Spielende aus dem schwindelerregenden Innenbereich und die Rampen hinab, stellt sich eine schöne optische Täuschung ein, die die Rampen selbst zu sich drehenden geometrischen Figuren werden lässt. (Zu sehen hier >>> )

Bild: Mathieu Gauzy
Durch die Spiele der WM 1990 ist „San Siro“ fest im internationalen, speziell in der bundesdeutschen Fußballgeschichte verankert. Das Eröffnungsspiel des Turniers findet hier am 8. Juni statt: Die Underdogs aus Kamerun – die durch ihren damals bereits 38 Jahre alten Stürmer Roger Milla im Laufe des Turniers noch Furore machen – fügen der favorisierten argentinischen Mannschaft um Superstar Diego Maradonna eine überraschende 0:1-Niederlage zu. Aber auch die deutsche Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer absolvierte hier ihre drei Vorrundenspiele gegen Jugoslawien, die Vereinigten Arabischen Emirate und gegen Kolumbien, gefolgt vom Achtfinale gegen die Niederlande, das weniger durch das Ergebnis (2:1 durch Tore von Klinsmann, Brehme und Koeman) in Erinnerung bleibt, als durch die „Spuckattacke“ in der 22. Minute, in deren Folge Rudi Völler und Frank Rijkaard, der damals für die AC Milan spielt, vom Platz gestellt werden. Auch der knappe 1:0-Sieg gegen die ČSFR wird im Giuseppe Meazza ausgetragen.
Dazu kommen später zwei Champions-League-Finale – in denen einmal Bayern München den spanischen Klub FC Valencia und einmal Real Madrid den Stadtrivalen Atlético besiegen, jeweils im Elfmeterschießen, sowie unzählige Derby della Madonnina, wie das Duell der beiden Mailänder Vereine als Verweis auf die vergoldete Madonnenstatue auf einer der Spitze des Mailänder Doms genannt wird. Denn das ist eine weitere Besonderheit: Mit Inter und AC teilen sich zwei wirklich große Clubs dieses Stadion. Wer die Fan-Rivalitäten aus Liverpool, Glasgow, London oder Lissabon kennt, weiß um diese spezielle Konstellation. Schon das Eröffnungsspiel in San Siro am 19. September 1926 war ein solches Derby della Madonnina.
Notti magiche vs global eventism
All dieser kulturellen und geschichtlichen Aufladung zum Trotz, kommt nun das Geschäft ins Spiel. Das San Siro ist veraltet und an vielen Stellen renovierungsbedürftig. Die Stadt, der das Stadion gehört, hatte 2018 Pläne zur Renovierung vorgestellt, deren Kosten sich auf rund 15 Millionen Euro hätten belaufen sollen. Doch mit anderen, neueren Spielstätten verdienen andere Vereine mehr Geld. Viel mehr Geld. Also hatten die Spitzen von AC und Milan den Entschluss gefasst, das Giuseppe Meazza-Stadion abzureißen und eine neue, „zeitgemäße“, dann wahrscheinlich um einen Sponsorennamen ergänzte „Arena“ zu errichten. Im August 2023 jedoch entschied die Denkmalschutz-Behörde der Region Lombardei, dass das Stadion ein architektonisches Kulturerbe ist und deswegen erhalten werden muss. Nach einigem Hin und Her gaben beide Vereine zwischenzeitlich bekannt, das Stadion nebst angrenzendem Parkplatz gemeinsam kaufen zu wollen und neben der alten eine neue Spielstätte errichten zu wollen. Waren die Vor-Corona-Pläne zum Stadionneubau[3] der beiden Clubs – geplant waren zwei unabhängige Stadien – architektonisch noch einigermaßen unambitioniert[4], sind aktuell noch keine Visualisierungen im Umlauf. Kritiker:innen befürchteten schon bei diesem Schritt, dass Inter und AC durch den Kauf des alt-ehrwürdigen Stadions einen Abriss in der Zukunft und damit sozusagen durch die Hintertür doch noch anstrebten[5]. Diese Sorgen sind seit Ende September einer Gewissheit gewichen, als selbst das Branchenblatt Kicker titelte: „Abriss des Giuseppe-Meazza-Stadions naht: Neue Spielstätte für Milan und Inter“.[6] Der Stadtrat hatte schließlich beschlossen, dem Verkauf des Stadions an die beiden Clubs zuzustimmen, dem Abriss steht damit kaum noch etwas im Wege.
- Bild: Foster+Partners
- Bild: Foster+Partners
- Bild: Foster+Partners
Wie derlei angeblich zeitgemäße Stadionarchitektur aussieht, lässt sich in Großbritannien besichtigen[7]. Wo die Mailänder ihre „Scala del Calcio“ haben, findet sich in Manchester das „Theatre of Dreams“, wie das eigentlich Old Trafford genannte Stadion im Zuge der Erfolge von Manchester United in den 1990er- und 2000er-Jahren unter dem legendären Trainer Alex Ferguson tituliert wurde. Dass Trotz der Geldvermehrungsmaschinerie der UEFA-Champions-League und horrender britischer TV-Verträge auch in einem solchen Theater mitunter eher albtraumhafte Vorstellungen gegeben werden, steht auf einem anderen Blatt. Nach Plänen des Büros Foster + Partners soll hier eine Art Zirkuszelt des Entertainments mit angeschlossenem Fußballplatz entstehen. Der Niedergang der Fankultur in England lässt sich im Zuge der Anpassungen an globale Vermarktungsstrategien schon seit geraumer Zeit beobachten, in einer solchen Architektur findet er seinen Höhepunkt.
Nahezu alle Stadionneubauten der letzten 20 Jahre auf der Insel sprechen die gleiche Sprache: Das Ziel ist Unterhaltung ohne Ecken und Kanten, Fußballspiele, bei denen die Zuschauenden an den digitalen Endgeräten weltweit die Adressaten sind und längst nicht mehr die Fans vor Ort. Der Sport hat sich entkoppelt vom Ort, richtet sich mit global vermarkteten Stars an ein weltweites Publikum. Ein Stadion, dass sich innerhalb dieser Logiken nicht einfach nutzen und ebenso gewinnbringend einspannen lässt, stört da bloß. Es geht um TV-Milliarden und nicht um den Genius loci, die Zuschauer im Stadion selbst sind nurmehr Staffage. Fankultur mit Charakter ist ebenso wenig gewünscht wie Baukultur mit Charakter. Ein Schicksal, das nun auch San Siro droht – mindestens dem gesamten Stadtteil und nicht nur dem Stadion, das nach ihm benannt ist.




